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    Iris Wolff

    Hanspeter Müller-Drossaart, 16. Mai 2021

    «Die Erinnerung ist ein Raum mit wandernden Türen»

    Verehrte Online-Besucher,
    Sehr verehrte Gäste hier im Solothurner Stadttheater,
    Liebe Frau Wolff,

    ich freue mich sehr, heute im Namen der 3-köpfigen Jury des Solothurner Literaturpreises Ihnen, Frau Wolff unsere innigste Wertschätzung Ihrer literarischen Arbeit gegenüber auszusprechen. Wir sind stolz, die nicht geringe Reihe Ihrer Nominierungen und Auszeichnungen mit dem hiesigen, traditionsreichen Literaturpreis erweitern zu dürfen und Sie damit im respektablen Kreis seiner bisher ausgezeichneten Autorinnen und Autoren zu wissen.

    Wenn ich in meinen folgenden Annäherungen zu Ihrem Werk die persönliche Anrede hie und da vernachlässige, bitte ich Sie, Frau Wolff um Ihre Kulanz! Sie sind in jedem Fall das zentrale künstlerische Movens dieser Rede.

    Zur Preisträgerin:
    Iris Wolff wurde in Rumänien, im siebenbürgischen Hermannstadt geboren und kam 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland. Nach Studien in den Bereichen Germanistik, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei wirkte sie am Deutschen Literaturarchiv in Marbach und als Dozentin für Kunstvermittlung. Heute lebt sie als freie Autorin in Freiburg/Breisgau.

    zum bisherigen Werk:
    Zusammen mit «Die Unschärfe der Welt» hat Iris Wolff mit drei weiteren Romantexten die literarische, deutschsprachige Bühne betreten:

    2012 erschien: «Halber Stein»:
    Die Geschichte einer sächsischen Familie in Siebenbürgen. Grossmutter Agneta ist mit 85 Jahren gestorben. Nach 20 Jahren kehrt die Enkelin Friedesine mit ihrem Vater zum Begräbnis zurück, vertieft sich in die Lebensgeschichte der geliebten Grossmutter, und durchstreift mit Julian, ihrem Freund aus der Kindheit, der immer noch hier wohnt, erinnernd und betrachtend die Örtlichkeiten von Michelsberg. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive von Sine, wie die Enkelin abgekürzt genannt wird:

    «Ich dachte darüber nach, wie sehr wir unsere Erinnerungen über die Sinne wahrnehmen. In Vorstellungen und Phantasien sind wir stets mit unserem ganzen Körper anwesend. (…) Und als habe er ein eigenes Gedächtnis, gibt er uns noch vor unserem Verstand Signale, wenn wir Orte wiedersehen, die mit einer starken Erinnerung verbunden sind.»

    «Ich sah eine alte Frau und ein Mädchen auf dem Boden eines Zimmers. Wolken glitten an den Fensterscheiben vorbei, schnell wie eine rollende Murmel verschwand die Sonne in ihren watteweissen Armen.»

    Sinnliche Metaphern einer Selbstfindung in Landschaften aufgehoben.

    2015 erschien: «Leuchtende Schatten»:
    Die Geschichte der Freundschaft zweier junger Mädchen, Ella und Harriet. Im Kapitel «am See» beschreibt z.B.die Autorin mit furioser Rasanz und Präzision, wie Harriet beim Schwimmen in einem See lebensgefährdend von Unterwasserpflanzen erfasst und von Ella zusammen mit Arthur, einem Jungen gerettet wird:

    «Zwischen miteinander vertäuten Booten, schwebend wie unter Wolken, die Glieder leblos baumelnd, fanden wir Harriet. Ihre Haare hatten sich gelöst (…) Arthur merkte, dass sich ein Tau um ihren als geschlungen hatte. (…) Ich versuchte, die Schlinge zu lösen (…), verhedderte mich in ihren Haaren, und war ihrem Gesicht, das so beängstigend gelöst aussah, nahe wie nie zuvor. Auf einmal wusste ich, dass ich genau zwei Möglichkeiten hatte: Ich konnte an dem Tau zerren und ihr Haar verfluchen, das es meinen Fingern schwer machte, die Schlinge um ihren Hals zu lösen. Ich würde sie verloren geben. (…) Oder ich konnte daran glauben, dass sie leben würde, leben musste, weil der Zufall uns beide an diesem Tag an den See verschlagen hatte, weil es einen Sinn haben musste, dass ich sie, wann immer sie in meiner Nähe war, nicht aus den Augen gelassen hatte, und weil ich wollte, dass unsere Geschichte nicht zu Ende war»

    Mit beeindruckender Leichtigkeit erzählt die Autorin von der Unantastbarkeit der Freiheit. Von Freundschaft und Liebe zwischen Kindheit und Erwachsenwerden auf der Folie von grossen politischen Umwälzungen und Kriegswirrnissen in Siebenbürgen 1943. Zerstörerische Ideologie im Gegensatz zur Sehnsucht nach Stabilität und Traditionsbewusstsein.

    2017 erschien: «So tun, als ob es regnet»:
    Ein Roman in vier Erzählungen, angeregt durch die Impulse einzelner Menschen und Örtlichkeiten. Der Erste Weltkrieg bringt einen österreichischen Soldaten in ein Karpatendorf. Eine junge Frau besucht nachts die «Geheime Gesellschaft der Schlaflosen». Ein Motorradfahrer ist überzeugt, dass er sterben und die Mondlandung der Amerikaner versäumen wird. Eine Frau beobachtet die Ausfahrt eines Fischerbootes, das nie mehr zurückkehren wird. – Über vier Generationen des 20. Jahrhunderts und vier Ländergrenzen hinweg erzählt Iris Wolff davon, wie historische Ereignisse die Lebenswege von Einzelnen prägen. Zwischen Freiheit und Anpassung, Zufall und freiem Willen erfahren ihre Protagonisten: Es gibt Dinge, die zu uns gehören, ohne dass wir wüssten, woher sie kommen. Und es gibt Entscheidungen, die etwas bedeuten, Wege, die unumkehrbar sind, auch wenn wir nie wissen werden, was von einem Leben und den Generationen vor ihm bleiben wird.

    Das aktuelle Buch: «Die Unschärfe der Welt»

    Zum Titel: Am Anfang des Romans, «Die Unschärfe der Welt», steht zu Samuels Mutter, einer der zentralen Figuren geschrieben (ich zitiere):

    «Florentine spürte Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen. Die Unschärfe der Aussagen verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrungen heran.»

    Der Titel von Iris Wolffs Roman spannt diesen Gedanken des beschränkten und lückenhaften Erfassens von sinnlichem und geistigen Erleben durch Sprache weiter über die gesamte Welt und birgt in sich die zwingende Notwendigkeit der Schriftstellerin, diesem Vakuum zu widersprechen, sich gerade auch dem scheinbar Unfasslichen schreibenderweise anzunähern.

    zum Inhalt:
    Zwischen den beiden Sätzen «Lass mir das Kind» und «Der Blick des Zauberers ist der Blick des Publikums» erzählt Iris Wolff die Geschichte einer Familie, zeitlich über vier Generationen und geographisch vom siebenbürgischen Banat im heutigen Rumänien über die DDR bis ins heutige Westdeutschland. Sie verwebt die Schicksale der Figuren mit der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts, etwa den Fall des eisernen Vorhangs 1989. Sorgsam voranschreitend spannt sie den Bogen über sieben Kapitel, die, jedes für sich, das Potential eines eigenständigen Romans hätte.

    konkreter: Das Erzählgeflecht:

    Das sind nur die ersten Schritte der detailreichen aber dennoch stringenten Familiensaga, in einer Sprache, die stark an der Atmosphäre arbeitet, und in einer textlichen Konstruktion, die spannenderweise die Figuren dynamisch zueinander in Beziehung setzt.

    Ein Beispiel wie Iris Wolff ihre Figuren mit poetischen Bildern ausstattet:

    Oswalds Drache:
    Oswald, oder Oz wie sein Jugendfreund Samuel ihn nennt, (weil er wie der Zauberer aus der bekannten Geschichte von der Umgebung vielgestaltig, immer anders wahrgenommen wird), möchte fliehen, kann sich das Schmiergeld für eine Ausreisebewilligung nicht leisten, stiehlt bei einer Hochzeit ein Eheformular, wird dafür in Verhören gepeinigt …
    In seiner Militärzeit als Scharfschütze auf den Wachtturm eines Staatsgefängnisses erwachte in ihm eine reale Personifikation des persönlich erfahrenen, politischen Terrors: Ein Drache: «Ein grüner Schuppenpanzer, Reptilienhaut, eine geschlitzte Pupille, die Krallen, die gespaltene Zunge. Alles war so deutlich da, dass er, trotz Angst und Schwindel, wusste, dies war kein Traum.»
    Noch während der Flucht über die ungarische Grenze mit einer kleinen Agrar-Propellerma-schine, von Samuel gesteuert, wird Oz vom Schatten dieses big brothers, des Drachens verfolgt. Nicht von ungefähr erinnern wir uns an den russischen Dramatikers Jewgeni Schwarz, der 1943 mit seiner Satire «Der Drache» den totalitären Nationalsozialismus attackierte. Als die Partei-Oberen damals erkannten, dass auch das sowjetische System damit gemeint sein könnte, wurde das Stück verboten.

    «Sieben an der Zahl»
    Die Autorin, die, wie wir eingangs gehört haben, auch Malerei und Religionswissenschaft studiert hat, erzählt einerseits mit physisch greifbaren, polychromen Bildern und strukturiert andrerseits das Textgebäude des Romans mit dem wiederholten Einsatz der Zahl Sieben:

    Wir dürfen vermuten und assozieren: Das Buch heisst «Die Unschärfe der Welt: Christlich gesehen wurde die Welt in sieben Tagen geschaffen. Eine Legende des jüdischen Volkes erzählt von der siebenarmigen Menora, die die aus Ägypten Flüchtenden schützen sollte. Die biografischen Wanderungen und Fluchten von sieben Hauptfiguren bilden das zentrale Narrativ des Romans. Sieben Tugenden, die sieben Todsünden, sieben Laster tauchen auf … und ganz beiläufig darf man auch die Bedeutung des Namens von Hannes und Florentines Sohn mitdenken: Aus dem Hebräischen übersetzt, heisst «Samuel» von Gott erbeten, also ein Wunschkind, ein Hoffnungsträger.

    Coda 1:
    Trotz aller möglicherweise verschlüsselter Zeichenhaftigkeit ist «Die Unschärfe der Welt» gewiss kein Buch mit sieben Siegeln. Ganz im Gegenteil: Iris Wolff gewährt uns bewegende Einblicke in historisch verortete und gleichzeitig universell kenntliche Lebensenergien.

    Die Autorin erzählt mit klarem, präzisem Blick von vergangenen und vergehenden Welten, verschont ihre Figuren nicht mit Verlusten und schmerzlichen Erfahrungen und verliert sich dabei nie in idealisierende Vergangenheitsverbrämung oder folkloristische Heimattümelei.

    In geradezu physischen Dimensionen gelingt es der Autorin mühelos, konkrete, vielschichtige sensible Menschen mit ihren Wünschen, Sehnsüchten und erlusterfahrungen in unsere unmittelbare Nähe zu rücken; mit dichten, überzeugenden Bildern voller poetischer Strahlkraft.

    Die detaillreiche psychologisch genau konturierte Familiengeschichte mit den plastischen Figuren nacherzählen zu wollen, sprengte den Rahmen unserer Veranstaltung, erwiese sich selbstredend als geschwätziges Verlustgeschäft und ganz gewiss als Geringschätzung der herausragenden Kunst unserer Autorin, die mit unaufgeregter, verdichteter Sprache den Roman in seiner differenzierten Komposition zum Leuchten bringt.

    persönliches Erinnerungsbuch:
    «Die Unschärfe der Welt» ist für mich persönlich auch ein Erinnerungsbuch: Das Glück meiner helvetischen Geburt ohne Ahnen mit leidvollen, entwürdigenden Erfahrungen von gewaltsamer politischer Repression und systematischem Freiheitsentzug, ist zweifellos ein Geschenk des Zufalls. Dieses Buch ist mir ein zwingendes Memento, über die eigene Zufriedenheit hinaus, an die aktuell herrschenden Unterdrückungen zu denken und an deren Veränderung mitzuwirken. Dass die Literatur uns dabei wertvolle Einsichten geben kann, belegt Iris Wolff auf beeindruckende Weise.

    Coda 2:
    Etwas ist da, und doch nicht fassbar, glasklar an der Oberfläche und verschwommen im Untergrund. Schwebend, flüchtig, und dennoch das Eigentliche, was das Leben ausmacht.

    Das Vergangene hat das Recht, erinnert zu werden. Erinnern heisst vielleicht auch, es neu zu erfinden, um es aushalten zu können.

    Das Erinnern, dieser Raum mit wandernden Türen ist begleitet von Abgründen, das Vergangene drängt sich oft in veränderter Gestalt, mit neuen, unbekannten Bildern in die Erzählung, bis man vergisst.

    Frau Wolff,
    im Namen der Jury (Nicola Steiner, Lucas Gisi und mir):
    besten Dank für Ihr Werk, für Ihre literarische Gestaltungskraft!
    Herzliche Gratulation zum Solothurner Literaturpreis 2021!