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  • Laudatio auf Anna Mitgutsch

    Hans Ulrich Probst, 16. Juli 2001

    «Sprache ist Heimat, das einzige, woran ich mich halten kann»

    Liebe Anna Mitgutsch,
    Herzlich willkommen in Solothurn,

    Ich freue mich, Sie zehn Jahre nach Ilse Aichinger und 4 Jahre nach Christoph Ransmayr als dritte Preisträgerin aus unserem östlichen Nachbarland in Solothurn willkommen zu heissen, Dass Sie längst nicht mehr nur in Österreich wohnen, weiss ich, wir kommen darauf zurück.

    Meine Damen und Herren, es ist mir ein Vergnügen, Ihnen heute eine Preisträgerin zu präsentieren, die seit gut fünfzehn Jahren in ruhigem Rhythmus, unbeeindruckt von den Verrenkungen eines hektischer gewordenen Literaturbetriebs ihre Spur zieht mit einem langsam wachsenden Werk, das um die Fragen von Fremdsein und Zugehörigkeit kreist, das Literatur als Vergegenwärtigung von Verlorenem und Erinnertem versteht und dabei besonders verschiedenste Grenzen, geographische, politische, kulturelle, religiöse, jene des Geschlechts auslotet. Ein dichtes, kein breites Oeuvre, worin die Autorin bei jeder neuen Arbeit etwas ganz Neues versucht, sodass im Ganzen hier eine Fülle von Sujets auszubreiten wäre, zugleich aber eine Kontinuität aufscheint, indem Anna Mitgutsch in immer neuer Form bestimmten Themen treu bleibt, sie entwickelt, durchdringt. Ich werde Sie in der nächsten Viertelstunde nur ansatzweise damit vertraut machen können.

    Persönlich hat mich Anna Mitgutsch erstmals 1989 schlagartig in Bann gezogen, als ich die ersten Zeilen ihres dritten Romans «Ausgrenzung» zu lesen bekam.

    «Und jetzt überlegen wir einmal, wo es begonnen haben könnte, sagte die Aerztin. Marta sass zusammengekauert in einem ledernen Armstuhl vor einem sauber ausgeräumten Kamin, und es fror sie, obwohl die Aprilsonne durchs hohe Fenster schien. Vielleicht war es gar nicht die Kälte des Raumes mit den grob verputzten Wänden, die dieses Zittern hervorrief. Sie zitterte schon seit Tagen, seit dem Augenblick, als die Psychiatrin ihr Testmaterial, ihre Würfel, Kugeln und Steckbretter wegräumte und Martas angstvoll gespanntem Blick nur kurz standhielt.

    Haben Sie nicht vorhin selbst Autismus gesagt? fragte sie jetzt, nickte, seufzte. Nein, ich habe nicht Autismus gesagt, rief Marta flehend, ich habe gesagt, Autismus kann es nicht sein.»

    Wer kennt nicht dieses herablassend-einschüchternde Wir aus Sprechzimmern und Spitälern. Jakob, Martas Sohn, den wir im Roman bis ins Alter von zwölf Jahren begleiten, verhält sich nicht der Norm entsprechend, er ist besonders empfindlich, ängstlich, eigenwillig, eingesponnen in seine Gefühle. Die Abweichung braucht eine Etikette, also wird ihm die Diagnose Autismus verpasst und, weil es ja einen Schuldigen braucht, die Mutter dafür verantwortlich erklärt., womit der Ausgrenzungs- und Isolationsprozess gegen das Kind und die Mutter beginnen. Verzweifelt kämpft sie gegen spiessige Nachbarn und den egoistisch-engherzig-angepassten Vater an; was an offener und versteckter Aggression psychischer und sozialer Gewalt dem Grenzgänger und seiner Beschützerin entgegenschlagen, setzt einem allein beim Lesen schwer zu. Anna Mitgutsch findet dafür einen obsessiven Sprachstil von pulsierenden Rhythmus, dem sich kein Leser, keine Leserin entziehen kann, und der in jedem Fall starke eigene Gefühle auslöst – sei es Abwehr, aus Bequemlichkeit oder Angst vor eigenen Abgründen, wie in mancher Kritik zu finden, sei es Identifikation mit den bis zur Erschöpfung Strampelnden.

    Am Schluss des jahrelangen Ringens um Menschenwürde und Existenzrecht entsteht wie die Stille nach dem Sturm eine vorläufige Atempause.

    Marta und Jakob «meistern das tägliche Ueberleben» und sie wird plötzlich inne, dass «die Grenze, an der Marta sich so lange allein gewähnt hatte, dicht bevölkert war». Und sie fragt sich «Wenn wir, die wir an der Grenze leben, einander erkennen könnten, dachte sie, wären wir nicht so einsam und so verwundbar». Doch illusionslos weiss sie, dass der Ort an der Grenze der «unbewohnbarste Ort, der Pranger» war. Wovon hängt es ab, auf welche Seite man gerät. Die Schlussätze verharren in der Ambivalenz zwischen nüchterner Verzweiflung und sanfter Hoffnung des jungen Jakob:

    «War es die Norm, mit der man in Einklang lebte, die Taubheit, die Blindheit, die Stumpfheit, mit denen man von sich wies, was man nicht durchschaute? In Augenblicken der Zuversicht hoffte Marta, der Standort hinge von dem Glauben ab, den zumindest Jakob noch besass, dass der Planet bewohnbar und die Menschen vertrauenswürdig und liebenswert waren».

    Nach dieser aufwühlenden Lektüre vor zwölf Jahren erst habe ich auch Anna Mitgutsch erstes, formal und inhaltlich ebenso furioses Buch gelesen: «Die Züchtigung», worin eine Ich-Erzählerin,Vera, ihre unglückliche Mutter Marie porträtiert,ausgelöst durch eine Frage ihrer Tochter:
    «War deine Mutter so wie du, fragt meine zwölfjährige Tochter, während sie sich an die Badezimmertür lehnt und mich beim Kämen betrachtet. Die Frage überfällt mich aus vielen Jahren Schweigen heraus. Nein, sage ich, nein, deine Grossmutter war ganz anders».

    Diese Mutter / Grossmutter Marie wächst zur Nazizeit auf einem Bauernhof auf, ungeliebt, geschunden als Arbeitskraft ausgebeutet. Dem brutalen Patriarchenvater kann sie sich nur durch Heirat entziehen, mit einem Häuslersohn, den sie nicht liebt, Nach dem Krieg in kleinstbürgerliche Verhältnisse in die Stadt geflohen, projiziert sie alle Wünsche in die Tochter Vera. Mit drakonischer Härte und sturer Disziplin soll diese für eine «bessere Zukunft» zugerichtet werden – mit einem Teppichklopfer – «eine dicke, gebogene Gummiwurst mit einer Eisenspirale umwunden, ein Folterwerkzeug» – werden der Tochter Anstand, Disziplin, Fleiss, Körperfeindlichkeit buchstäblich blutig eingeprügelt. Schier unerträgliche Szenen der psychischen und physischen Qual für die Tochter, vorgeführt nicht als individuelles Fehlverhalten, sondern als Ausfluss autoritärer Erziehungsideale und der brutalisierenden, nach 45 gleich verdrängten Gewaltherrschaft Hitlers.

    Das scheint mir bezeichnend für Anna Mitgutsch: Sie bewegt sich immer an den Schnittstellen von politischen und privatem Geschehen, reflektiert die gegenseitigen Bedingtheiten und macht sich damit die verdrängungssüchtigen, dem Opfermythos huldigenden Vorgestrigen in Oesterreich zum Gegner. «Die Züchtigung» endet ohne Versöhnung:

    «Sie hat sich in mich verwandelt, – bilanziert Vera die Beziehung zur Mutter – sie hat mich geschaffen und ist in mich hineingeschlüpft, als ich gestorben bin vor sechzehn Jahren, als sie mich totgeschlagen hat vor dreissig Jahren, hat sie meinen Körper genommen, hat sie meinen Körper genommen, hat sie meine Gedanken an sich gerissen, hat sie meine Gefühle usurpiert. Sie herrscht und ich diene, und wenn ich meinen ganzen Mut sammle und Wider-stand leiste, gewinnt sie immer, im Namen des Gehorsams, der Vernunft und der Angst.»

    Dieser harte Text hat natürlich zu biographischen Lesarten verleitet, aber sowenig «Ausgrenzung» eine klinische Fallstudie ist, sowenig ist «Die Züchtigung» ein Familienreport. Es ist die literarische Gestaltung erst, die Wucht der Sprach- Bilder, die Kunst der Komposition von Szenen archaischer Tragik, der fulminante Formwille welche die enorme Wirkung diese beiden Bücher begründen, die als zwei erratische Blöcke auch künftig aus der deutschsprachigen Literatur der 80-er Jahre des vorigen Jahrhunderts herausragen werden. Das Missverständnis bloss biographischer Deutung, welche das Artifizielle der Sprache, die gezielte Ueberzeichnung übersieht, dieses Missverständnis teilt Anna Mitgutsch übrigens mit einer Vorgängerin,,die auf ihren künstlerischen Rang, ihre politischen Bedeutung und eben ihre Bezügen zu Mitgutsch neu zu lesen wäre: Ich meine die 1970 verstorbene Marlene Haushofer mit ihren Romanen wie «Wir töten Stella» oder «Die Wand».
    Dennoch denke ich, ist es richtig, jetzt ein paar biographische Eckdaten unserer Preisträgerin zu nennen.

    Geboren 1948 in der oberösterreischischen Kapitale Linz, hat sie diese Stadt nach dem Abitur verlassen, Germanistik und Anglistik studiert, 1970 in einem israelischen Kibbuz gearbeitet, dann drei Jahre in England gelehrt und doktoriert. Danach war sie als Germanistin in Innsbruck und ein Jahr in Korea; in den Achtzigern dann sechs Jahre in den USA, in Boston und New York vor allem. Seit gut 15 Jahren ist sie wieder zurück in Oberösterreich, als freie Schriftstellerin mit Lehraufträgen an verschiedenen Universitäten: sie lebt einen Teil des Jahres in Boston, wo ihr Sohn und sein Vater leben, den Rest im geliebt-gehassten Linz, was sie zwar als sehr eng empfindet, wo sie aber am Garten hängt und Mitglied der jüdischen Gemeinde geworden ist, ein Zugvogel, ein Go-Between – wie so manche ihrer Romanfiguren, «zwischen Kulturen, weder in der einen noch der anderen zuhause». Zuhause nur in der Sprache. «Die Deutsche Sprache ist der einzige Ersatz für das verlorene Heimatgefühl», hat sie einmal gesagt, «Sprache, die literarische und die gesprochene, ist Heimat, das einzige, woran ich mich halten kann» Von sich selbst mag sie sonst wenig preisgeben, was zählt, ist die Literatur «Eigentlich ist für mich Schreiben schon das Leben – davor, dahinter danach gibt’s wenig, wenn man derart besessen an der Literatur hängt, alles zum Stoff wird.

    Literatur freilich nie als Selbstzweck, sondern aus dem Wissen um die politische Kraft der Sprache. So hat sich Anna Mitgutsch immer wieder eingemischt, natürlich auch in die Debatten um Oesterreichs Regierung, der sie vor kurzem in einer Rede vorgeworfen hat mit «bewusster Geschichtslosigkeit, dem Leugnen historischer Zusammenhänge, bequemem Gedächtnisverlust und der Relativierung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die in vielen Köpfen Gegenwart geblieben ist», im Kern die Demokratie auszuhöhlen.

    Aber sie sieht diese Geschichtslosigkeit auch im kulturellen Zeitgeist am Werk, in der Diffamierung engagierter Literatur etwa und sieht ihre Aufgabe als Autorin deutlich:

    «Wenn wir uns als Schriftsteller auf die bewusstseinsbildende Macht der Sprache und ihr gesellschaftspolitisches Potential besinnen, können wir gar nicht umhin, uns kritisch in das Zeitgeschehen einzuschalten, wir haben nicht die Wahl wegzusehen, ohne unser einziges Medium, die Sprache, zu verraten.»

    Leben und Werk unserer Preisträgerin gehören insofern selbstverständlich zusammen. Nie jedoch hat Anna Mitgutsch in ihre Bücher ihre Biographie beschrieben, aber deren «Grundbefindlichkeiten und inneren Gestimmtheiten» sind «autobiographisch» gespeist, wie sie im Gespräch zugibt und natürlich steht damit ein weibliches Bewusstsein am Ausgang ihrer Fiktionen, ein Bewusstsein auch weltläufig gebildet an der Internationalen weiblichen Schreibens der letzten Jahrhunderte. Und wenn es in den drei Romanen «Die Züchtigung», «Ausgrenzung» und «In fremden Städten» vorneweg jedes Mal heißt: «Alle Gestalten dieses Romans sind frei erfunden. Aehnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig» so liest sich gerade dies eher als tarnender Selbstschutz lesen, der verweist gerade an den schmerzlichen Anteil an Eigenem verweist.

    Nun, was zählt ist, wie es Anna Mitgutsch gelingt, konkrete und individuelle Erfahrungen exemplarisch darzustellen und damit spezifische historische Konflikte und Konstellationen allgemeingültig zu gestalten.

    Der Roman, der 1992 der «Ausgrenzung» folgte, rückt die Sprache als Moment von Fremdheit und Nicht-Zugehörigkeit ins Zentrum und verknüpft das nach Aussage der weitgereisten Autorin «dominante Gefühl der Fremdheit in meinem Leben» mit der Emigrations-Thematik. Der Roman trägt das Wort ‘fremd’ schon im Titel: Heldin von «In fremden Städten» ist die in Oesterreich verheiratete Amerikanerin Lillian, die durch den Verlust der eigenen Sprache in eine Identitätskrise gerät – «Ich gehöre dahin, wo ich nicht bin», beschreibt sie gleich zu Anfang ihr Verhängnis – im Land ihres vereinnahmend-unsensiblen Gatten nie heimisch geworden: «Sie schauderte bei Wörtern wie anpassen, assimilieren und wurde starr vor Abwehr». Schliesslich verlässt sie Mann und Kinder, nur vordergründig wegen einer ephemeren und aussichtslosen Liebschaft zu einem jungen Sänger, sie kehrt nach Amerika zurück, um dort der Dichotomie von Freiheit und Bindung innezuwerden. Denn am alten Ort, der nie der alte ist, fühlt sie sich genau so ausgeschlossen und unbehaust. Die Frau, die alle Bindungen aufgibt, muss erkennen, dass dies ins Nichts führt, in eine unerträgliche Leere. «Was sie entsetzte, war das Wissen, dass sie im eigenen Land heimatlos sein werde, während sie in Europa eine Fremde blieb». Ungemein klarsichtig und scharfsinnig porträtiert Anna Mitgutsch die Zwänge und Begrenztheiten beider Milieus, des amerikanischen wie des österreichischen und zeigt die Frau in existentieller Verlorenheit dazwischen. Ausweg gibt es keinen: die Rückkehr nach Europa ist ausgeschlossen, als der Ehemann hämisch vermeldet, niemand vermisse sie hier. So erlebt sie «die Gegenwart wie ein flaches ruderloses Boot, in dem nur ruhiges Warten vor dem Ertrinken retten konnte». Bis ganz zuletzt: «plötzlich, nach der langen Stille, die Gefühle über sie herein stürzen, Verlassenheit und Wut, Hass, Gefühle, so heftig, dass sie es nicht ertragen konnte, ohne sich zu wehren». Diese Notwehr ist ein Brandfanal, in dem sie die verhassten Werbetexte des als Schriftsteller gescheiterten Vaters in dessen Haus anzündet und seinen Tod in Kauf nimmt. Als Widerstandsgeste wichtig, ist fraglich, ob sie eine Wende bringt. So denkt man bei Lillian eher an Büchners «Lenz»: «So lebte er hin.» Wobei auch die Sprache in ihrer knappen Lakonie, wenigen umso stärkeren Bildern an Büchner denken lässt.

    Endgültig zur Meisterschaft gebracht hat Anna Mitgutsch ihre Fähigkeit, verschiedene Erzählkreise ineinander zu verweben und so Erinnerung und Fiktion zu vermischen, Gegenwart mit fortwirkender Vergangenheit zu konfrontieren und die Brüche und Schnittstellen, die ja oft genug schmerzhafte, blutende Schnitte bezeichnen, meisterhaft geglückt ist ihr dies Verfahren im vorerst letzten Buch «Haus der Kindheit. Noch zuvor hat sie im Roman «Abschied von Jerusalem» den Zusammenprall der Kulturen, der politischen Gegensätze und der Geschlechter variiert in einer spannenden Studie über die vielen Gesichter und Wahrheiten im Nahost-Konflikt, gewiss auch eine Verarbeitung ihrer Israelerfahrungen, gekonnte Mischung von «Erinnern und Erfinden» – wie sie ihre Poetik knapp umschrieben hat.

    «Haus der Kindheit» also greift das Thema der Auswanderung, des Fremdwerdens in zwei Kulturen, gelingender oder scheiternder Rückkehr am Beispiel des schwierigen Verhältnisses von Juden und Oesterreichern auf; erstmals wählt Anna Mitgutsch hier auch einen männlichen Protagonisten. Das Haus, das Max Bermann, 5-jährig mit seinen Eltern in Erwartung des Kommenden schon 1928 verlassen hat und das enteignet wurde, dieses Haus steht in der Linz wohl in manchem ähnelnden «Stadt H». («H» wie Haus, Heimat oder wie Hitler, Haider?), es begegnet Max freilich zuerst im Exil in New York als Foto, wie wir im wunderbar gelungenen, suggestiv und konzis mitten ins Thema führenden Romananfang lesen.

    «Das Foto stand auf der Kommode, solange Max sich zurückerinnerte. Es machte jede neue Wohnung, in die sie einzogen, zu einem weiteren Ort des Exils. Im unterschied zu allen anderen Gegenständen, die sie nach jeder Uebersiedlung auspackten, reichte seine Bedeutung weit in die Vergangenheit, und wie ein Schwur verpflichtete es dazu, ein Versprechen einzulösen. Mitten in ihrem Leben verwies es auf eine Gegenwart, die schmerzlich fehlte.
    Das ist unser Haus, sagte seine Mutter und nahm das Foto andächtig in die Hand, in ein paar Jahren fahren wir vielleicht dorthin zurück.
    Von seiner Mutter hatte Max gelernt, dass die Erinnerungen, das einzige waren, was einem nicht verloren gehen konnte.»

    Es braucht drei Anläufe, ein paar Jahrzehnte und höchst unschöne Begegnungen mit Behörden und Bewohnern von H. ohne jedes Unrechtsbewusstsein, bis Max, sein enteignetes Eigentum endlich beziehen kann, allein die Immobilie wird nicht sein Heim: «Das Haus war fremd und abweisend, es enttäuschte ihn» – und so bleibt Max, Zwitterwesen zwischen Geschichte und Gegenwart, nur die Erinnerung und sein Versuch, eine Chronik des jüdischen Lebens in H. seit dem Mittelalter zu schreiben.

    Wie sein Freund, der früh zurückgekehrte jüdische Gemeindevorsteher Spitzer stirbt und auch die ehemalige Geliebte Nadja, der er den Ausbruch aus H. und eine Laufbahn als Fotographin ermöglicht hatte bei einem Unfall den Tod findet, wie er in Nadjas letzten Arbeiten «Bilder von unerträglicher Verlassenheit» sieht, weil sie, wie sie meint, die Menschen, die sie fotografiert, nicht versteht – «sie werden mir immer fremder und meine Angst vor ihnen wächst»-, da reift in Max die Einsicht, dass er sich «vor dieser Stadt und diesem Haus retten musste, wenn er leben wollte». Er fliegt zurück und spürt schon im Flugzeug «eine Woge von Wärme in sich aufsteigen, die stärker wurde, je näher er New York kam».

    Ich muss gestehen, eine derart exakte und subtile Darstellung des einem Minenfeld gleichenden Zusammenlebens von Juden und ehemals Nazideutschen vorher nie gelesen zu haben. Dabei gelingt es Anna Mitgutsch hervorragend, auch das Schwierigste in Erzählung aufzulösen, der man begierig folgt, komplizierteste historische Sachverhalte, raffinierteste psychologische Nuancen, gedehnte und geraffte Zeit, Geschichte und Gegenwart in eine plastische Prosa von grösster Geschmeidigkeit zu giessen.

    «Man kann alles, das Allerkomplizierteste ungeheuer einfach sagen, wenn man den Mut dazu aufbringt, und diese Klarheit, die mit Mut zusammenhängt in der Sprache, ist mir sehr wichtig», hat Anna Mitgutsch mir einmal erklärt.

    Doch «Haus der Kindheit» ist noch weit mehr: Anna Mitgutsch gestaltet nicht bloss einen reichen Reigen komplexer Freundschafts- und Liebesbeziehungen, sondern verfasst, mehr beiläufig, doch mit sinnlicher Klugheit beobachtet und in berührende Sätze gebracht, ein Buch übers Älterwerden, über das Zurückweichen der Lebenskraft, das Schwinden der Neugier, schmerzlich vielleicht, doch gelassen hingenommen «Vielleicht» – lesen wir da: vielleicht war es die Vergeblichkeit, die ihn oft im Erklären innehalten liess, eine plötzliche Einsicht in die Ambivalenz von Gefühlen, die Vielschichtigkeit von Motiven, oder eine neue Milde, eine Sehnsucht nach Ruhe, weil sich die Aufregung nicht lohnte, vielleicht nie gelohnt hatte».

    Mit diesem von einem breiteren Publikum noch zu entdeckenden meisterlichen Werk hat Anna Mitgutsch fraglos einen weiteren Markstein gesetzt.
    So herrschte in unserer Jury rasch Einmütigkeit für die diesjährige Wahl!

    Warum zeichnen wir Anna Mitgutsch heute mit dem Solothurner Literaturpreis aus?

    – weil ihr erzählerisches Werk in thematisch ungeheuer vielfältiger Weise existentielle Fragestellungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft von Freiheit und Bindung, Zugehörigkeit und Eigenständigkeit in zwingender Form, mit lapidarer Sprachkraft und souveräner Kompostionskunst exemplarisch gestaltet;

    – weil sie so eindringlich wie behutsam, hartnäckig wie sorgfältig in ihren Büchern den Fragen nach geschichtlicher Schuld und kollektiver Verdrängung, nach dem Zusammenhang von sozialer Norm und privatem Versagen in den historischen Katastrophen des XX. Jahrhunderts nachgeht und je verschiedene Antworten bzw. konkrete Verhaltensweisen darstellt;

    – weil sie mit unerbittlicher Genauigkeit und phantastischer Erfindungsgabe aus ihren persönlichen Erfahrungen als Frau, als go-between zwischen verschiedensten Milieus und Kulturen bestechend anschauliche und zugleich tiefgründig vielschichtige Geschichten schöpft, welche die Konflikte des Einzelnen und die Entwicklung der Sozietät gleichermassen scharf und zugleich poetisch in den Blick nehmen und innovativ davon handeln, was heute, nach den Verheerungen des XX. Jahrhunderts und im Zeitalter globaler Migration was Fremdsein, was ‘Heimat’, was Zugehörigkeit heissen könnten;

    – weil sie mit einer wunderbar reichen, freilich auf jedes überflüssige Ornament verzichtenden, glasklaren Sprache von starker Bildkraft grossartige Roman-konstruktionen geschaffen hat, welche die Lesenden suggestiv bannen und ihnen zugleich eine eigene Stellungnahme abfordern, künstlerisch anspruchsvoll und ästhetisch komplex, doch jederzeit auf den Dialog mit den Lesenden zielend;

    – weil sie seit dem furiosen und verstörenden Start mit «Die Züchtigung» von Buch zu Buch ihre Analyse vertieft und ihr inhaltliches Spektrum im welthaltig Historischen genauso wie im Psychologisch-Individuellen laufend erweitert hat: gleichzeitig hat Anna Mitgutsch ihre poetischen Gestaltungsmittel beeindruckend zur Vollkommenheit verfeinert, und zu einem nie aufdringlichen, jederzeit im Dienst des Themas stehenden unangestrengt poetischen Ton, zu unverwechselbarer Intensität gefunden hat.

    Wir freuen uns, liebe Anna Mitgutsch, auf viele weitere Arbeiten von Ihnen.

    Jetzt aber möchten wir Sie ganz einfach beglückwünschen zur verdienten Auszeichnung mit dem Solothurner Literaturpreis 2001 – wir das sind auch meine Jury-KollegInnen Christine Eggenberg und Beat Mazenauer,die mich auch bei der Vorbereitung dieser Ausführungen kompetent unterstützt haben – Christine Eggenberg, das sei hier beigefügt, leider zum letzten Mal. Nach acht Jahren möchte sie wegen einer beruflichen Herausforderung auf die zwar angenehme aber doch zeitraubende Belastung als Jurorin zurücktreten – ich möchte Ihr für Ihre originellen Impulse und ihre still-intensive Mitarbeit im Namen auch der Stifter des Preises, ganz herzlich danken. An diese geht, wie gewohnt, der Dank der Jury für die Freiheit, die Sie unserem Wirken lassen. Bedankt seien schliesslich namentlich auch Frau Aebi und Herr Egli für die organisatorische Arbeit hinter den Kulissen!

    Herzliche Gratulation Anna Mitgutsch.

    Meine Damen und Herren ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.