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    Lukas Bärfuss

    Hans Ulrich Probst, 1. Juni 2014

    «Mein Schreiben kommt immer aus einer Frage.»
    «Für mich ist die Kunst eine Kommunikationsform und Kommunikation braucht ein Gegenüber.»

    Lieber Lukas Bärfuss,
    Meine Damen und Herren,

    ich heisse Sie herzlich willkommen zur Feier unseres diesjährigen Preisträgers und freue mich, dass Sie nach dem Jubilar Adolf Muschg nun auch ihm zuhören mögen, der sein Sohn sein könnte und der bei aller Verschiedenheit dessen Rolle übernommen hat – als kritischer Frager und ins Offene Denkender.

    Mit Lukas Bärfuss feiern wir einen ungemein vielseitigen Autor, dessen Werk sich literarisch brillant und politisch brisant präsentiert. Lukas Bärfuss ist einer der erfolgreichsten Theaterautoren der Gegenwart, aber auch ein raffinierter Romancier und experimentierfreudiger Essayist. «Kunst braucht den Ernstfall» – ist er überzeugt, und so nähert er sich grossen Themen mit Dringlichkeit und Witz. Hartnäckig und sensibel zugleich fragt Bärfuss nach der Verantwortung von uns allen; seine nuancierten und wirkmächtigen Texte spüren phantasievoll dem nach, was den Menschen zum Menschen macht – in all seinen Widersprüchen.

    42 Jahre jung, hat Lukas Bärfuss bereits ein umfangreiches Oeuvre vorgelegt, das wir an dieser Stelle nur auszugsweise würdigen können.

    Wo anfangen? Obwohl der Solothurner Literaturpreis, den wir heute zum 22. Mal vergeben, das Gesamtschaffen einer deutsch schreibenden Autorin oder eines Autors ehrt, drängt sich im Fall von Lukas Bärfuss auf, zuerst von seiner jüngsten Publikation zu sprechen; dem dieses Frühjahr erschienenen Roman «Koala».

    Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Das Lachen? Oder der Suizid, der «freie Tod, der ja nur kommt, weil ich es will», wie Nietzsche schreibt. Darum geht es in «Koala». Ist Selbstmord Zeugnis eines «Heroismus des freien Willens» oder bloss der Feigheit?
    Dies fragt sich der Ich-Erzähler des Romans, ein 40jähriger Schriftsteller, nach dem Suizid seines fünf Jahre älteren Bruders. Während der Erzähler als zwanzig Jahre zuvor dem Ort ihrer Jugend entfloh, blieb der Bruder dort hängen. Die beiden begegnen sich ein letztes Mal, als der Schriftsteller im Heimatstädtchen einen Vortrag über den 200 Jahre zuvor freiwillig aus dem Leben geschiedenen deutschen Dichter Heinrich von Kleist hält, der in eben jener Gegend noch einen Neuanfang versucht hatte. Wenige Monate später bringt sich der Bruder mit einer Überdosis Heroin um. Dieser Suizid macht den Erzähler betroffen und traurig, aber auch wütend und ratlos. Er erlebt den plötzlichen Verlust als massive Gewalterfahrung, die sein Denken schwarz einfärbt. Auf der Suche nach Gründen für die Tat realisiert er, dass viele Menschen in seinem Umfeld eine derartige Erfahrung teilen, keiner aber darüber sprechen will – Selbstmord ein Tabu! Nun weitet der Erzähler seine Untersuchung zum Suizid auf Philosophie und Psychologie aus, doch ohne befriedigenden Antworten zu finden. Fast verzweifelt registriert er: «Der Selbstmord sprach für sich, er brauchte keinen Erzähler.» Trotzdem erzählt und forscht er weiter: Seine Erinnerung verdichtet sich: Den Bruder prägte nach schwieriger Jugend, einem Unfall und zeitweisem Abtauchen in Drogen eine sonderbare Trägheit und Antriebslosigkeit. Den Schlüssel zu dieser Prägung glaubt der Erzähler im Pfadfinder-Namen des Bruders zu finden, den dieser in einem sadistischen Ritual erhalten hat: «KOALA». Ja, jener halb hässliche, halb putzige australische Beutelsäuger, der lebenslang auf Eukalyptusbäumen haust und an Faulheit noch die explizit «Faultier» benannte Tier-Art übertrifft. Daraus ergibt sich eine Fährte, welcher der Ich-Erzähler dann fast obsessiv folgt.

    Der Roman, haben wir hier beizufügen, gründet auf autobiografischer Erfahrung seines Verfassers. Im Dezember 2011 beging der (Halb-)Bruder von Lukas Bärfuss Selbstmord. Und im Mai zuvor hatte unser Preisträger in Thun – der Name der Stadt fällt im Buch übrigens nie – über Heinrich von Kleist gesprochen. Tatsächlich setzt der Selbstmörder Kleist nicht nur die Anfangsmarke im Buch, er ist unverkennbar präsent auch im Schreibstil von Lukas Bärfuss: In seinen zugleich präzisen wie kunstvoll verschachtelten Sätzen ist die Referenz an den makellosen Stilisten Kleist offenkundig. Die nüchterne Diktion des Textes entwickelt sofort einen Sog – sie hält Distanz zum Tod des Bruders und kommt ihm gleichzeitig ganz nahe.

    Im grüblerischen Nachdenken über die unverstandene Selbst-Aggression des Bruders verkrallt sich der Ich-Erzähler in dessen Pfadfindernamen und interpretiert diesen Koala zunehmend als Totemtier des Bruders. Letzterer, so vergegenwärtigt er sich, «lehnte die Arbeit ab, die Anstrengung, und verfolgte niemals ein Ziel.» Das Totemtier, so die Annahme, «existierte, ohne nach etwas zu streben.»
    Und nun, nach rund achtzig hinreissende erzählten Seiten nimmt das Buch eine verblüffende Wendung: Lukas Bärfuss beginnt, die von Entbehrung, Leiden und Tod geprägte australische Landnahme durch britische Häftlinge im Jahr 1788 nachzuzeichnen, sein Exkurs schildert dies in der Art eines düsteren Abenteuerromans – berückend und bedrückend zugleich. Dann heftet er sich an die Fersen der 20 Millionen Jahre zurückreichenden Geschichte des Koalas. Siedler und Aborigines hatten die nur auf dem 5. Kontinent vorkommende Art beinahe ausgerottet, weil das phlegmatische Beuteltier ohne natürlichen Feinde sich ohne Gegenwehr von den Bäumen schütteln und töten liess. Die Lebensweise des Koalas, der bis zu 20 Stunden täglich schläft und seinen Wirtsbaum Eukalyptus so gut wie nie verlässt, bildet einen riesigen Gegensatz zum anstrengenden, von Krankheit, Mangel und Massensterben dominierten Alltag der Kolonisatoren. Das Prinzip des Koalas, so Bärfuss, «ist das der Faulheit und der totalen Anpassung an die Umstände. Er lebt in einer feindlichen Umwelt und überlebt, obwohl er keine Anstrengung unternimmt. Diese Methode beschäftigt mich auch künstlerisch (…) Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, die versucht, alles durch Arbeit zu veredeln: Je mehr man sich anstrengt, desto besser wird etwas. Das Buch ist auch eine Kritik an dieser Haltung.»

    Über diese schlaue Wendung führt der Erzähler im Roman die Lesenden zurück zum toten Bruder, welcher sich ebenso Strebsamkeit und Ehrgeiz, verweigert hatte. Solche Kerntugenden, so argumentiert der Roman-Erzähler, hätten sich zusammen mit der Angst entwickelt, welche erst mit der Spezies Mensch in die Welt gekommen sei. Gott sei tot, aber die Angst geblieben, heisst es weiter:
    «Die Medizin gegen die Angst war der Fleiss (…) Die Faulheit wurde ausgelöscht und vergessen, ihre Geschichten, ihre Segnungen, ihre Blüten, ihre Verse und Lieder (…) Die Arbeit eroberte den Raum, die Faulheit legte sich in die Zeit und nahm sie sich als Liebhaberin. (…) Auch ich war der Arbeit verfallen, stand bei Tagesanbruch auf, erledigte mein Soll, (…)Und ich begriff auf einmal, weshalb man es scheute, über den Selbstmord zu reden. Er war nicht wie eine Krankheit ansteckend, er war überzeugend wie ein schlüssiges Argument. Es war eine Lüge zu behaupten, dass man die Selbstmörder nicht verstand, im Gegenteil. Jeder verstand sie zu nur zu gut. Denn die Frage lautete nicht, warum hat er sich umgebracht? Die Frage lautete: Warum seid ihr noch am Leben? Warum verkürzt ihr nicht die Mühsal?»
    Mit dieser kühnen Umkehr der Beweislast findet der Erzähler nicht die Lösung für des Bruders Suizid, aber einen Ausweg: Nicht der Selbstmord, das Weiterleben bedarf der Begründung! Und so ist jetzt der Leser, die Leserin gefordert.

    Der Erzähler steht am Ende unversöhnt am See, wo die Asche des Verstorbenen versenkt wird: er muss mit dem Verlust weiterleben. Doch er hat sich, genauso wie der Verfasser, fürs Leben entschieden – sonst könnten wir dieses aufwühlende Buch heute nicht feiern. Die Schluss-Sätze lauten:

    «Ich stieg in den Wagen, fuhr nach Hause, setzte mich an den Schreibtisch und machte mich an die Arbeit.»

    Der Verfasser tut also das, was er eben noch in Zweifel gezogen hat, und der Romancier gesteht im Gespräch seine Ratlosigkeit auch ein:
    «Wir sind getrennt von der Schöpfung. Wir haben kein natürliches Habitat. Wir müssen uns alles erarbeiten, erst daraus entsteht die menschliche Kultur. Sie ist eine Folge dieser Trennung und ich frage mich, ob dieser Geburtsfehler zu überwinden ist. Die aktuellen Vorschläge zur Krisenbewältigung gleichen sich alle in einem Punkt: Mehr Arbeit, mehr Anstrengung, mehr Ehrgeiz, mehr Wachstum. Gibt es eine andere Perspektive. Ich habe sie nicht gefunden.»
    Diesem tiefen Zwiespalt und der Kardinalfrage «Wozu leben wir?», begegnen die Lesenden im Werk von Bärfuss immer wieder. Nachdem wir mit «Koala» mitten ins Werk des Autors eingestiegen sind, gilt es einige weitere Fakten nachzutragen:

    Der heute in Zürich-Hottingen wohnhafte zweifache Familienvater, kam am 30. Dezember 1971 in Thun zur Welt, damals «Garnisonsstadt», d.h. dominiert von Armee und Rüstungsindustrie, der 68er-Aufbruchsgeist weit weg. Lukas Bärfuss, unter komplizierten Bedingungen aufgewachsen, war nach eigener Auskunft ein »Schulversager», doch früh ein manischer Leser. Nach den obligatorischen neun Schuljahren verlässt er Thun, arbeitet bei einem Tabakbauern im Jura, dann als Eisenleger und vor allem als Buchhändler in Bern.

    1998 erklärt er sich – noch ohne Buch-Publikation – zum Schriftsteller und kann dank eines Jahres-Stipendiums der Langenthaler Lydia-Eymann-Stiftung den Tatbeweis antreten.

    Am Anfang steht die Zusammenarbeit mit dem gleichaltrigen Berner Regisseur Samuel Schwarz. Zusammen gründen sie die rasch erfolgreiche Freie Theatergruppe 400 ASA und Bärfuss findet seine Rolle:
    «Schreiben ist normalerweise eine einsame Sache, man sondert sich ab. Mich aber hat es zu den Leuten gebracht. Ich war abgesondert von dieser Gesellschaft, bis ich sagte, ich wolle Schriftsteller sein und nichts anderes.»
    Seine Stücke liegen meist auch in Buchform vor, sie zu lesen ist ebenso spannend wie sie auf der Bühne zu sehen.
    Egal, ob er fürs Theater schreibt oder einen erzählenden Text, Bärfuss erklärt selbstbewusst: «Ich gehe immer von mir und sehr radikal von meinen eigenen Interessen aus: Es ist meine Hybris als Künstler, dass ich glaube, mein Interesse müsste noch andere Menschen betreffen.»

    Und in der Tat: Nebst dem dramaturgischen Geschick und der genuiner sprachlicher Kraft verfügt er über eine schlafwandlerische Intuition, fundamentale Themen aufzugreifen und überraschend zu gestalten. Bärfuss antizipiert oft Konflikte, die uns später unter den Nägeln brennen; darin liegt wohl eine Erklärung für den Siegeszug seiner Stücke auf europäischen Bühnen. Dazu gelingt ihm, prägnante, unvergessliche Figuren zu schaffen, sie in ihren Abgründen und Nöten, auch in ihrer Widersprüchlichkeit auszustellen, doch nie blosszustellen, auch wenn das böse Ende meist unausweichlich folgt. Sind die frühen im Kollektiv erarbeiteten Produktionen getränkt von anarchischer Wildheit und der Dekonstruktion herkömmlicher Theatermittel, wird Bärfuss später formal strenger, weniger plakativ, vielschichtiger, poetischer

    Wahlweise ein paar Beispiele: In «Die sexuelle Neurosen unserer Eltern» geht es um die selbstbestimmte Lust Behinderter. Eine junge Frau, jahrelang mit Medikamenten klein gehalten, entdeckt nach deren Absetzung ihre Sexualität, wird dabei von einem Pädophilen missbraucht und später von den überrumpelten Eltern in repressiver Toleranz zu Abtreibung und Sterilisation gezwungen.
    Im vielfach ausgezeichneten Stück «Der Bus. Das Zeug einer Heiligen» entfaltet Bärfus die Themen Religion, Glaube und Intoleranz – und inszeniert ein Vexierspiel von verstörender Gewalt über Gut und Böse, Täuschung und Gnade.
    «Malaga», eines der jüngeren Stücke, zeigt ein junges Paar mit Kind, das sich nicht darüber einigen kann, wer die kleine Rebecca am Wochenende betreut, derweil Mann und Frau je ihren scheinbar unaufschiebbaren Interessen frönen wollen. Zuletzt wird das Kind einem, wie sich herausstellt, unzuverlässigen Jugendlichen überlassen – und die Katastrophe bleibt nicht aus.
    In «Die Probe» konfrontiert uns der Autor mit einem alten Problem: «mater certa – pater incertus est»: Heute freilich kann sich jeder Vater per DNA-Analyse vergewissern, ob ein Kind wirklich seines ist – was damit an Vertrauen verloren geht und an Paardynamik entsteht, stellt Bärfuss drastisch zur Debatte.

    Obwohl Lukas Bärfuss, wie gehört, für Stoff- und Themenwahl radikal seiner Neugier, seinen Interessen folgt, betreibt er nie Nabelschau. Er verweigert seinen Theaterfiguren jegliche Psychologie. Gerade weil er mit Ambivalenzen operiert und eigene Kommentare meidet, zwingt er die Zuschauerinnen zur Stellungnahme. Bärfuss nutzt die Schaubühne insofern als moralische Anstalt des 21. Jahrhunderts, als seine szenischen Engführungen die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen einfordern: «Für mich ist die Kunst eine Kommunikationsform und Kommunikation braucht ein Gegenüber».
    Der Theatermann beherrscht dabei den Einsatz oft unfreiwilliger,groteker und tragischer Komik. Seine szenischen Zuspitzungen verblüffen durch schwebende Vieldeutigkeit, die den Figuren eine – freilich hart erarbeitete – Leichtigkeit verleiht.

    Lukas Bärfuss beginnt jeweils erst zu schreiben, wenn er sich mit minutiöser Recherche sachkundig gemacht hat. Diese Verankerung im Wissen gibt seinen Stücken Fundament und Nachhall. Dazu kommt eine registerreiche, geschmeidige, Sprache, welche nicht mit vordergründigen Effekten prunkt, doch stets den Kern der Sache trifft.
    Dies gilt genauso für seine Essays und publizistischen Beiträge: Bärfuss‘ scharfsinnigen, oft scharfzüngigen Interventionen sind nie Selbstzweck, sie dienen grundlegenden Erkenntnisinteressen: «Mein Schreiben kommt immer aus einer Frage», sagt der Autor; und es ist daher keine Spielerei, wenn er seine Dankesrede für den Müllheimer Dramatikerpreis 2005 ausschliesslich in Fragen gekleidet hat, Fragen wie:

    Was, glaubt einer wie ich, der Stücke schreibt, kann die Sprache ausrichten, anrichten, einrichten, entrichten, abrichten, aufrichten, berichten?
    Glaubt einer wie ich, diese menschliche Gesellschaft sei der Mitarbeit würdig. Glaubt er diese Gesellschaft liesse sich entwickeln, verbessern? Oder bleiben wir … gefangen in den ewigen Zyklen von Gewalt und Trübsinn …?
    Spielt das eine Rolle? Spielt einer wie ich eine Rolle ? Welche ?
    Oder, im Gegenteil, findet einer wie ich, der Stücke schreibt, durch die Sprache zu seinem Kern, zu seinem wahren Wesen. Müsste er sich nicht fürchten vor diesem Wesen das da in seinem Zentrum hockt, vermutlich?
    Natürlich verweist dieser durchgehende Fragegestus auch auf einen Grossen unserer Literatur, auf Max Frisch, in dessen Nachfolge ich Lukas Bärfuss sehe: ich denke, er teilt als Autor, was Max Frisch in seinem ersten Tagebuch 1946-49 zum Anspruch an die eigene (Theater-) Arbeit formuliert hat: «Als Stückschreiber hielte ich meine Aufgabe für durchaus erfüllt, wenn es einem Stück jemals gelänge, eine Frage dermassen zu stellen, dass die Zuschauer von dieser Stunde an ohne eine Antwort nicht mehr leben können – ohne ihre Antwort, ihre eigene, die sie nur mit dem Leben selber geben können.»
    Wesentlich dabei: Frisch und Bärfuss stellen ihre Fragen in literarischen Texten. Sie vertrauen der Magie der Bühne und der erzählerischen Fiktion!

    Angesichts der vorgerückten Zeit springe ich jetzt übergangslos zu jenem Werk, das die bisher benannten Qualitäten im Schreiben und Nachdenkens des Preisträgers beispielhaft bündelt: Der Roman «Hundert Tage» von 2008:
    Bärfuss thematisiert darin den Völkermord in Ruanda vor zwanzig Jahren, dem mehr als 800000 Menschen zum Opfer fielen; es ist ein leidenschaftlich politisches Buch, in seiner Komposition kompakt und konzentriert.

    Erzählt wird aus der Perspektive von David Hohl, eines damals vor Ort tätigen jungen administrativen Mitarbeiters der Schweizer Entwicklungshilfe; diese war im afrikanischen Bergland stark präsent und allzu lange unheilvoll verbandelt mit dem innerafrikanischen Apartheid-Regime der Hutu, welches die Tutsi-Minderheit systematisch unterdrückte und fast ausrottete. David Hohl kommt 1990 nach Kigali, langweilt sich im Bürodienst und geht eine wilde Beziehung mit der schönen Agathe ein, einer Hutu aus der herrschenden Schicht, obwohl oder weil sie ihn schon bei der ersten Begegnung am Flughafen von Bruxelles verächtlich hat abblitzen lassen. Schleichend wird der Hass gegen die «Langen» von den regierenden «Kurzen», wie Tutsi und Hutu bei Bärfuss heissen, geschürt. Die europäischen Entwicklungshelfer und Diplomaten schauen lange, zu lange weg, auch David bleibt in seiner sexuellen Verstrickung mit Agathe blind für ihren wachsenden Rassismus. Als dann die Tutsi-Rebellen ins Land vorrücken und im Frühling 1994 das lange geplante, wohlorganisierte Morden der Hutu-Milizen losbricht, und die Europäer die Stadt verlassen, da geht David nicht mit – wegen Agathe, die selber zur Mordfurie werden wird.

    Er versteckt sich während des hunderttägigen Albtraums in seinem Haus; dort wird er von den Tätern verschont und versorgt, weil sie den Schweizer wie alle seine Landsleute auf ihrer Seite wähnen. Hohl wird derart zum Komplizen und gar zum Mittäter, weil er die Ermordung seines Gärtners nicht verhindert, welcher zuvor selbst seine Zugehfrau Erneste umgebracht hat:
    «Ich sah damals nicht ein, warum ich ihn hätte retten sollen, einen Mörder, der Mördern zum Opfer fällt, wilde Tiere, die sich gegenseitig zerfleischen. Sein Tod schien mir die verdiente Strafe für seinen Mord an Erneste. (…) Weil ich gerecht sein wollte, wurde ich schuldig, und als ich mich schuldig machte, fühlte ich mich gerecht.»
    So bilanziert der desillusionierte Hohl Jahre später seinen Einsatz und gewissermassen auch jenen der Schweiz und des Westens. Er hat sich in den Jura zurückgezogen und erzählt seine Geschichte, einem ehemaligen Mitschüler, dem er Kutteln an roter Sosse serviert, während es draussen sanft schneit. Grossartig an dieser Roman-Konstruktion ist, dass Bärfuss mit dem zuerst naiv-idealistischen, dann egozentrisch-distanzlosen jungen David einen völlig unzuverlässigen Erzähler gewählt hat, dem nicht einfach zu trauen ist. So zwingt die Anlage des Buchs den Leser, sich beständig zu positionieren. Bärfuss hat zwar aufs Genaueste, und auch vor Ort, recherchiert, er schreibt aber keinen Dokumentarbericht, sondern einen stilistisch glanzvollen, in den szenischen Verdichtungen des Ungeheuerlichen beklemmenden, verstörenden Roman.

    Schon in «Hundert Tage» taucht das Evolutionsthema auf, das Bärfuss in «Koala» wieder beschäftigt, hier nach der Begegnung mit einem alten Berggorilla, der in Hohl Zweifel sät am Nutzen der Evolution:«… dass wir besser geblieben wären, was wir gewesen waren, wenn wir dafür diese Ruhe, Gelassenheit, diese Versenkung im Moment hätten zurückgewinnen können (…) Falschheit, Betrug, Täuschung, das hatten wir gefunden, als wir uns des Fells und der groben Gesichtszüge entledigten.»

    Während David Hohl die Gorilla-Gruppe beobachtet, werden in unmittelbarer Nähe Tutsi-Kinder abgeschlachtet.

    Bärfuss arbeitet helvetische Sekundärtugenden wie Fleiss, Disziplin und Ordnung als Voraussetzungen für den gezielten Genozid heraus – David Hohl: »Das Schlimmste ist der Gedanke, den ich in den hundert Tagen hatte und der mich bis heute quält, dass es eine Symbiose gab zwischen unserer Tugend und ihrem Verbrechen.»

    Sokonfrontiert das Buch die Lesenden – ohne die barbarischen Tötungsakte selbst je darzustellen – mit den Konsequenzen der unbedachten Kollaboration mit den Tätern. Hohl erinnert sich, dass jenes «Höllenland» auch «die Schweiz Afrikas» genannt wurde, und fragt sich, «ob wir im Gegenzug auch das Ruanda Europas werden könnten», und seine provokative Antwort lautet: «… ich weiss, wenn uns etwas davor bewahren wird, dann bestimmt nicht die Wohlbestalltheit unserer Gesellschaft, unsere Disziplin oder auch nur der Respekt vor den Institutionen, den Obrigkeiten, unsere Liebe zur Ordnung und zur Routine, ganz im Gegenteil. All das ist kein Hindernis sondern die Voraussetzung für einen Massenmord. Nichts liebt das Böse mehr als den korrekten Vollzug einer Massnahme, und darin, das muss man doch zugeben, gehören wir zu den Weltmeistern.»

    Zusammengefasst: die kongeniale Verbindung von unbequemer politischer Reflexion mit dichten Erzählpartien machen aus «Hundert Tage» ein funkelndes literarisches Juwel, welches – aus dem Abstand von ein paar Jahren noch klarer erkennbar – in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einzigartig dasteht.

    Noch lange wird uns David Hohls bitteres Fazit wider die helvetische Selbstgerechtigkeit beschäftigen; er zieht es, während der Chronist seines Berichts in den Schnee blickt und in den Kutteln löffelt, die ihm sein Freund vorgesetzt hat: «Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obenauf zu bleiben und nicht in der roten Sosse unterzugehen.»

    Ich komme zum Schluss: Wir zeichnen heute einen wunderbar begabten und kühnen Autor aus, der zu einer unverwechselbaren und unverzichtbaren literarischen und politischen Stimme im Land geworden ist. In seinem faszinierend vielfältigen Werk nähert sich Lukas Bärfuss mit persönlicher Dringlichkeit und Eigensinn existentiellen Fragen dieser Zeit.

    In intensiven Szenen und packenden Geschichten untersucht er Entwicklung und Widersprüche im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Leidenschaftlich engagiert, dabei in einer suggestiven, so bestechend schönen wie unerbittlich klaren Sprache, lotet Lukas Bärfuss die Untiefen unserer Selbstverständlichkeiten aus.

    Herzlichsten Glückwunsch also, lieber Lukas Bärfuss zum Solothurner Literaturpreis 2014. Wir freuen uns auf viele weitere literarische Texte und politische Gedankenanstösse von Ihnen. Ich gratuliere natürlich im Namen der ganzen Jury und möchte meinen KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer für die ergiebige Zusammenarbeit danken: auch diese Laudatio gründet auf Lektüre und Diskussion von uns dreien. Als Jury danken wir den Sponsoren des Preises für ihr Vertrauen und die Freiheit, in der sie uns arbeiten lassen.

    Für den organisatorischen Teil des heutigen Anlasses danke ich herzlich Frank Schneider vom Verein Solothurner Literaturpreis und dessen Präsidenten Ivo Bracher. Und nicht zuletzt danke ich dem Gitarristen Jaap van Bemmelen aus Solothurn für die musikalische Umrahmung. Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit am Ende des diesjährigen Literaturfestes zu Solothurn.