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    Ulrike Draesner

    Hans-Ulrich Probst, 21. Juni 2010

    «Poesie ist nicht das Aufblasen der eigenen Innenwelten, im Gegenteil. Abstraktes, Gedankliche, diffus Gefühltes möchte sie möglichst konkret machen.»
    «Literatur ist, auch, die Herausarbeitung des Randes von Sprechbarkeit …»

    Herzlich willkommen in Solothurn, liebe Ulrike Draesner, sozusagen auf halbem Weg zwischen Ihrem Wohnort Berlin und Ihrem für morgen anvisierten Ferienziel im Süden.

    Willkommen, meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, Ihnen heute mit Ulrike Draesner eine überaus kreative, ebenso eigenwillige wie vielseitige Autorin vorstellen zu dürfen. Eine Autorin, die sich den Herausforderungen der Gegenwart stellt, mit unerschrockener Neugier, mit leidenschaftlicher Sprachlust und mit immensen – auch historischen und naturwissenschaftlichen – Kenntnissen. Eine Autorin, der es wie nur wenigen gelingt, uns Lesende in so kluge wie überraschende Diskurse über grundlegende Fragen unserer Existenz und die Zukunft dieser Welt hineinzuziehen.

    Derart gefangen genommen wurde ich erstmals vor knapp zwölf Jahren bei der Lektüre von «Lichtpause», Ulrike Draesners erstem Roman. Wie eine Kamera zoomt die Erzählerin da zu Beginn in eine Quartierstrasse in einem Münchner Vorort, wo eines Abends der Notfallwagen zu einem reglos und schwerverletzt auf der Strasse liegenden Kind gerufen wird. Hilde C., so heisst das Kind, stellt man die Initiale C. vor Hilde, ergibt sich so das Wort Child, scheint ohne Fremdeinwirkung aus dem Fenster gestürzt – ob Unglück oder Selbstmordversuch bleibt offen. Diese Hilde, 11 Jahre alt, 1.45 gross, nicht gerade dünn, wie es heisst, zwischen Leben und Tod schwebend, übernimmt die Erzählerrolle. Einem Flaschengeist oder Medium gleich berichtet sie in grossen Rückblenden aus ihrem Leben. Während die Polizei bloss «Fakten sucht», ist das, was «herumliegt, eine Geschichte wie ein Fisch: wendig und schuppig». Für diese in allen Farbnuancen schillernde Geschichte einer Kindheit findet das Erzählmedium eine zupackende und subtile Sprache – ohne falsche Süsslichkeit, aber auch ohne Neunmalklugsein – einfach im Satzbau, raffiniert im Durchdringen des oberflächlichen Scheins durch Abklopfen der sprachlichen Konventionen und Bedeutungen. Da finden sich auf Anhieb ein unverwechselbarer Tonfall, verblüffende Bilder, oft auch schräge Komik, und zuweilen ein fast lyrischer Gestus.
    Wir erfahren von einer Kindheit in den atmosphärisch genau eingefangenen 60er-/70er- Jahren des vorigen Jahrhunderts in einer Mittelstandsfamilie mit Eigenheim, einer Kindheit mit all den Zwängen in der Schule, den normierten Erwartungen im Alltag. Das Mädchen Hilde, sensibel und empfänglich für die Wunder dieser Welt, widersetzt sich der allmählichen Dressur mit gescheiten Fragen und stillem Eigensinn. «Lichtpause» ist auch eine Geschichte von – oft fast unscheinbarer – Gewalt im Alltag, Gewalt durch Formung nach engen gesellschaftlichen Codes, Gewalt auch durch Sprache, Zurichtungen, denen Hilde ihre eigene Logik entgegenstellt. Etwa, wenn sie ihre Eltern nur «das Elt» nennt. Hören Sie, wie Ulrike Draesner das Verhältnis des Kindes zu seinen Erziehungs-Berechtigten fast körperlich durchleuchtet:

    «Sie weiss auch, dass es ‹die Eltern› heisst. Und dann gibt es eben noch das Elt. Es ist ganz eigen. Sie kennt es genau. Es sitzt gerne auf dem Sofa. Hilde kommt dann nur zitiert vor. Vor es hinzitiert. Das Elt ist ein ganzjähriger sitzender Nikolaus. Es spricht mit einem Mund. Vater und Mutter sitzen nebeneinander. Doch ihre vier Hände sind zwei, haben zwei dicke Arme, einen festen Körper, Doppelpack, wie er sich vorbeugt, zurücklehnt, aber nur ganz wenig. Denn ein Elt bewegt sich nicht. Ein Elt sitzt und befiehlt. Manchmal lächelt es auch. Aber das Gesicht ist starr. Das Lächeln klein. Das Elt kennt sich. Es kann nicht zerfliessen wie sie. Es ist geübt. Das Elt gibt es ohne das Kind nicht. Wenn das Kind nicht da ist, ist das Elt tot. Doch das denkt das Elt nicht. Das Elt ist sicher.»

    Der Preis für die Weigerung, so zu werden wie Mutter und Vater, in einer Welt voller Rätsel und Wunder zu verweilen, ist unweigerlich die Einsamkeit und so fühlt sich Hilde von allen getrennt.
    Die gleichsam aus Raum und Zeit herausgehobene Erzählerin sprengt die plane Chronologie, sie stellt Szenen nebeneinander, operiert mit Rhythmisierung, dem Wechsel von kurzen Alltagsepisoden und längeren reflexiven Passagen. So schafft sie einen Erzählfluss, dem sich der Leser, die Leserin gerne überlässt – nicht zuletzt weil er neue Blicke auf eigene Kindheitserfahrungen erlaubt.

    Vieldeutig ist auch der Titel dieses Romans: Gemeint sind damit die grossen Fotokopien von Bauplänen des Vaters von Hilde. Er ist Architekt und Hilde darf oder soll die Planrollen, die grösser sind als sie selbst, austragen. Lichtpause steht aber auch für die Abwesenheit von Licht, für eine Pause von der Wirklichkeit also. Während das Tempo in der erzählten Zeit laufend zunimmt, blüht Hilde in diesen Pausen geradezu auf, verweilt beim Langsamen, Unscheinbaren.

    Das Romanende führt zur Anfangsszene zurück – Hildes unglücklichem oder gewolltem tödlichen Sturz aus dem Fenster, festgehalten in einem poetischen Crescendo:

    «Hilde im Fall. Das Gefühl zuerst, dann das Geräusch: etwas knallt auf Asphalt. Wie in den Bergen: erst das Licht, dann der Stoss. Ein Körper blutig, auf Teer, zerdrückt. Unglückswagen, weiss. Kein Milchtransport, kein Müllauto, kein Lkw, kein Bauschutt. Kind unter Flieder. Wiederbelebung versucht. Klicken, ein Gleiten, Gelierendes Licht. Kleidung ausgezogen bis aufs Unterhemd, um besser massieren zu können, aber sinnlos gewesen. Ein kurzer Körper liegt da. Die kleinen Brüste ragen heraus.»

    Die kleinen Brüste ragen heraus: hätte Hilde – an der Schwelle zwischen Kind und Erwachsen – überlebt, sie wäre nicht mehr dieselbe; der Schluss signalisiert Abschied und Metamorphose. Allein die beiden kurzen Textbeispiele zeigen die virtuose Sprachkraft dieser Autorin. So war ich nach der begeisternden Lektüre ihres ersten Romans nicht verwundert zu entdecken, dass Ulrike Draesner als Lyrikerin debütiert hatte.
    «Gedächtnisschleifen» lautet der Titel ihres ersten, 1995 erschienenen Gedichtbandes, dem weitere gefolgt sind. Dieser Titel scheint mir programmatisch für ihr gesamtes Werk. Denn das Gedächtnis, das individuelle und das kollektive – was können wir wissen vom Vergangenen? Wie funktioniert Erinnerung, wie verwandelt sie sie sich, wie wird sie in Sprache gefasst – ist ein zentrales Motiv im Schaffen unserer Preisträgerin, und Schleifen im mehrfachen Wortsinn prägen ihre Schreibverfahren: Schleifen als Schlaufen und Wiederholungen ebenso wie Schleifen als abschleifen, zuspitzen, verdichten hin zur kompakten, zielgerichtet geschliffenen Form.

    Draesner Lyrik lässt Momente aus Erinnerung und Gegenwart gerinnen in eine gedanklich glasklare, formal innovative und musikalische Sprache. Die meisten ihrer Gedichte gewinnen aufgrund der Komplexität und Verdichtung durch mehrfaches Lesen – aber es gibt auch unmittelbar zugängliche, vom Klang und Rhythmus her operierende Texte – hören Sie ein bezauberndes Beispiel aus »Gedächtnisschleifen»:

    Das Hühnervolk, weiss im Regen
    «Wie klein die Apfelbäume sind, wie
    hoch die Flüsse stehen, dieses Jahr
    in den Gärten der Bauern heisst
    die frühe Lerche Galander
    schäumend und froh am
    Apfelbiss ein klebriger Mund
    wie ich stiften ging über
    die Felder den semmelblond
    erlaubten Schopf in den Himmel
    grannenbekrönt unter den Wolken
    lag, kamilleschüchtern dotter-
    blumenbestreut zwischen Kerbel
    und Garbe, Augustkönigin
    Kind.

    Wie hoch jetzt die Flüsse stehen,
    wie knorrig die Bäume werden dieses Jahr
    scharrt das Hühnervolk sich tiefer
    in die Erde. Ein weisser Knochen
    spitzt hervor. Daneben fault
    langsam der letzte Apfel im Regen.»

    Dieses Gedicht spricht von der Wiederbegegnung mit einem Kindheitsort, verbindet funkelnde Naturimpression mit wortschöpferisch beschworener Erinnerung und einem zwiespältigen Gefühl von Vergänglichkeit.

    Lassen Sie mich, ehe wir tiefer ins weitgespannte Oeuvre von Ulrike Draesner vordringen, einige biografische Daten einschieben:
    Ulrike Draesner ist am 20.Januar 1962 in München zur Welt gekommen und dort aufgewachsen. Die Familie ihres Vaters war am Ende des 2. Weltkriegs aus Schlesien nach Bayern geflüchtet. Protestantisch und nicht bayrisch sprechend, hat sie früh Ausgrenzungen erfahren und sich dann für »Unzugehörigkeit« entschieden, wie sie schreibt, eine Art »Unverwurzelung», was nicht »Wurzellosigkeit« bedeute, aber leicht lösbare Anwurzelungen – begleitet von der Sehnsucht nach beidem, quasi »nomadischem Angewachsensein».

    Nach einem Studienjahr in England vertauscht Ulrike Draesner das Studium der Rechte mit jenem der Anglistik, Germanistik und Philosophie, wobei sie sich auch eine Fülle neuester naturwissenschaftlicher Kenntnisse erwirbt, und promoviert über Wolfram von Eschenbachs »Parzival». Sie arbeitet als Wissenschafterin, Übersetzerin, Journalistin und Herausgeberin – bis sie nach den ersten Lyrik- und Hörspielpublikationen die Wissenschaft zugunsten des unsicheren Status der Freien Autorin aufgibt. Seit 1993 lebt sie in Berlin, angezogen von der neuen Hauptstadt, mittlerweile eine gewiefte Bewohnerin des legendären Prenzlauer Bergs und Mutter einer kleinen Adoptivtochter.

    Ihr umfangreichstes und bislang wohl ehrgeizigstes Schreibprojekt, der Roman «Spiele» aus dem Jahr 2005, führt freilich zurück nach München. Er spielt zur Hauptsache auf zwei Zeitebenen, 1972 und 2002 und ist, wie die Autorin sagt, eine Phantasie nach wahren Ereignissen: Sie verknüpft Erinnerung an und Recherchen über den Terroranschlag auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Sommerspiele in München – wo beim desaströsen Ende in Fürstenfeldbruck alle Geiseln und fast alle palästinensischen Geiselnehmer ums Leben kamen – mit einer erfundenen Geschichte, welche um Themen wie Heimat, Zugehörigkeit, aber auch Liebesverrat und Schuld kreist.

    Noch vorher, 2002, war ihr zweiter Roman erschienen, »Mitgift«. Darin entfaltet Draesner das Thema der geschlechtlichen Identität am Beispiel zweier Schwestern. Während Anita hermaphroditisch ist, intersexuell – ohne dies in ihrem gesellschaftlichen Umfeld freilich ausleben zu dürfen, sehnt sich Aloe in einen derart neutralen Zustand und will, mittels einer Magersucht, ihren Körper sexuell unsichtbar machen. Der Mann im Spiel, Lukas, zieht die Arbeit als Astrophysiker jeder Nähe vor, neutralisiert sich gewissermassen beruflich. Alle drei scheitern, wobei Draesner ihr Buch so angelegt hat, dass es sich aus der je verschiedenen Optik der ProtagonistInnen lesen lässt.

    Noch während der Arbeit am umfangreichen Roman »Spiele» erschien der Erzählband «Hot Dogs», eine Sammlung flink und frech erzählter Grosstadtgeschichten, die sich auch um Geschlechtsidentitäten, um Verkehrsformen und um Kinderwünsche im Design des neuen Jahrtausends drehen. Da gibt es «Gina Regina», die bei ihren One-Night-Stands unbemerkt das Sperma ihrer Kurzzeitpartner einsammelt und an Datenbanken weiterverkauft.

    Oder «Annaselbzwei», welche angesichts der Unfruchtbarkeit des Geliebten sich heimlich der künstlichen Reproduktionsmedizin bedient. «Wir tun alles Mögliche, unser Möglichstes!, wollte ich sagen,», verspricht sich der Arzt vielsagend. Und in der Titelgeschichte züchtet Zack aus dem urbanen Untergrund illegal aber lukrativ Pitbull-Hunde, bis ein Wurf Welpen unbeabsichtigt im Backofen ein böses Ende findet – also buchstäblich zu Hot Dogs wird. Das sind souveräne Stilübungen, gehalten in nüchterner Lakonie und schriller Komik, illusionslos unromantisch, dabei mit doppeltem Boden.

    Doch zurück zu «Spiele», dem opus magnum von Ulrike Draesner: Hauptfigur ist Katia Berewski. Sie kehrt nach Jahren nomadischen Daseins als erfolgreiche Fotoreporterin rund um den Globus im Jahr 2002 nach München zurück und stellt sich drängenden Erinnerungen. Dreissig Jahre zuvor hatte sie, kaum 13jährig, ihren 5 Jahre älteren Freund Max an einer Schul-Party kläglich blossgestellt und gedemütigt. Max schmiss nach diesem Liebesverrat die Schule und heuerte bei der Polizei an; kaum ausgebildet wurde er in Fürstenfeldbruck eingesetzt und vermutlich von den eigenen Leuten niedergeschossen und schwer verletzt.

    Katia sucht nach Max, um sich ihrer Schuld zu stellen und herausfinden, was im Olympiadorf und in Fürstenfeldbruck wirklich geschah. Dabei ist ihre Suche unausgesprochen von 9/11 geleitet; das Münchner Attentat erscheint als Keimzelle des globalen Terrorismus. Ferner will sie mehr über den Tod ihrer Mutter erfahren – sie starb, als Katia fünf Jahre alt war, und sie möchte herausfinden, warum Vater Edgar nicht mehr mit der Ärztin Susanne zusammen ist, die er seinerzeit im Olympiastadion kennengelernt hatte. Zu diesen Protagonistinnen und Protagonisten gesellen sich der aus Schlesien umgesiedelte, 1972 rund 80jährige Grossvater Jozef, der alte Zuckerstücke sammelt; der Geheimdienstler Onkel Franz, in Terrorakte- und -ermittlungen verwickelt, und schliesslich Paul, Bibliothekar in der Bayrischen Staatsbibliothek, dem Katia bei ihren Recherchen verfällt und mit dem sie eine Affäre mit unklarer Zukunft eingeht. Das Buch will, wie es einmal heisst, «herausfinden, was war, um herauszufinden, was ist». Seine Kernthemen sind Heimat, Zugehörigkeit, Schicksal und Schuld. Jozef hat seine Heimat verloren, Katia die ihre scheinbar freiwillig preisgegeben. Israelis und Palästinenser beanspruchen den gleichen Landstrich als Heimat. Wer gehört wohin, wer darf wo bleiben?

    Ulrike Draesner erzählt in diesem fast 500 Seiten starken Wurf nicht linear; in Spiralbewegungen bohrt sie in die Tiefe, folgt dem Geschehen 1972 einerseits und ihrer Hauptfigur 2002 andererseits, verbindet zahllose Geschichten, mal temporeich, knapp und träf, mal geduldig und nachdenklich mit dem Entfalten ihres Wissens über die Ereignisse 1972; sinniert über das Wesen der Liebe oder der Erinnerung und zeigt, dass es die Wahrheit nicht gibt. Es bleiben schwarze Löcher: in Bezug auf den Tod der Mutter ebenso wie auf die unglückliche Geschichte zwischen Max und Katia, erst recht in Bezug auf das Münchner Attentat und sein katastrophales Ende in Fürstenfeldbruck, eingeschlossen die mutmasslich inszenierte Flugzeugentführung im Oktober 1972, die zur Freilassung der überlebenden Geiseln geführt hatte.
    Immerhin weiss Katia am Ende, dass sie für das «Modell Leben heimatlos» nicht gemacht ist, und dass das in der Familie gepflegte Dogma, wonach grosse und kleine Geschichte sich nicht umeinander kümmern, sondern sich bloss durchdringen, falsch ist:

    «Falsch, Jozef! Falsch Franz! Jedes Durchdringen schliesst Berührung ein, bedeutet Veränderung. Katja war berührt. Das ‹Unglück› im September 1972 war kein Unglück, auch wenn mancher das gern geglaubt hätte, sondern eine unwahrscheinliche Mischung aus exakter Planung, grober Nachlässigkeit, heiterer Sorglosigkeit; ein riesiges Puzzle mit einem Loch in der Mitte; ein Verlauf, so unwahrscheinlich wahrscheinlich, so geschickt gedacht, so unglaublich aus der Hand gegeben, so exakt kalkuliert, so exakt verkalkuliert, so – menschenhaft. Kein starkes Schicksal, von oben verhängt und daher sinnvoll, sondern ein Schicksal von unten, aus dem Chaos der Menschen und ihrer Systeme.
    Das Ergebnis war knapp und klar. Sie lachte leise auf. Es hiess: Zuhause ist, wo dir auch die Katastrophen gehören.»

    Es gibt keine Gewissheiten, nur schmerzliche Begrenzung. Katia respektiert diese Begrenzung. Und sie schlüpft nie in die Rolle der Opfer oder Täter, sondern demonstriert mit ihrer subjektiven Perspektive, dass, wie Draesner einmal schreibt, Literatur auch herausarbeitet, dass es Ränder des Sagbaren gibt.

    Ob des überwältigenden inhaltlichen Reichtums von «Spiele», einem Buch von langem Nachhall, sei nicht vergessen, die literarische Souplesse hervorzuheben, die Draesners Schreiben hier auszeichnet, die Vielzahl perfekt beherrschter Register – hören Sie pars pro toto eine poetische Passage, welche die Autorin wohl auch ihrer Verankerung am Schauplatz des Geschehens mit verdankt: Katia fährt im Zug ihrer Recherchen im Winter 2002/03 zum inzwischen stillgelegten Militärflugplatz Fürstenfeldbruck – an diesem Tag von einem Meter Neuschnee zugedeckt – und schildert Schnee und die Münchner Winter wie folgt:

    «Mit dem Schnee fing ein Münchner Winter erst an. Der Schnee weht im Oktober spätestens Anfang November, von den Bergen herab. Dann verschwand er wieder, aber im Januar klebte er sich fest an der Stadt. Türmte sich. Kühlte sich selbst, lachte knirschend dazu. Über ihm schien die Sonne. Sie funkelte, er funkelte zurück. Die Luft war krisp, als wäre das leise Knistern des Schnees sie selbst. Sie war es. Im Schnee kamen Luft und Wasser zusammen und untersuchten sich, langsam und sehr genau. Jedes Kind spürte das, wenn es in einen Haufen sprang. Die Welt war oben blau und unten weiss. Als wäre ein Teil des bayrischens Himmels herabgestürzt. Jedes Kind wusste das. Dem Himmel schien es zu gefallen. Er leuchtete auf der Erde weisse und darüber blauer als je im August.
    Am Nachmittag in Fürstenfeldbruck trieben einzelne grosse Flocken schräg durch die Luft, als spielten sie mit sich. Ein paar Amseln hüpften im Schnee, pickten nach Gras …»

    Ein Ausschnitt aus dem Roman »Spiele».

    Zuvor hatten wir gehört, «Jedes Durchdringen schliesst Berührung ein, bedeutet Veränderung. Katja war berührt.» Und da dürfen wir die Verfasserin mit ihrer Protagonistin gleichsetzen. Berührtheit ist, ebenso wie Fremdsein oder Heimat, ein zentrales Motiv im Werk von Ulrike Draesner. Die enormen Anstrengungen zur Durchdringung historischen Dickichts und privater Verwerfungen, die ihre Bücher prägen, sind der Berührtheit geschuldet. Bei aller stets pathosfreien Schilderung der Figuren ist ihnen die Empathie der Autorin sicher. «Wer die Geschichte der anderen vergass, vergass sich selbst, in ihr» heisst es ebenfalls in »Spiele».

    Das Wort «berührt» begegnet uns erneut im Titel des jüngsten Gedichtbandes der Preisträgerin: »Berührte Orte«, das meint zum einen ganz wörtlich, Orte, welche die Dichterin auf ihren zahlreichen Reisen kennengelernt, gestreift hat, und die dadurch Anlass zu einem Gedicht geben. Explizit werden hier lyrisch und assoziativ die berührte/unberührte Natur, die Berührungen zwischen Menschen, Unberührtheit als Unschuld oder Berührung als poetische Wirkung thematisiert.

    Als Quintessenz der Reisens erscheint die berührende Erfahrung der Begegnung mit dem ganz Fremden, im Gedicht «unruh» mit einem Vogel, den Ulrike Draesner gleichsam in ein Stilleben bannt:

    unruh
    «wie aus einer anderen welt: nein
    es sind mitnichten augen. das tiefe gold
    das kakaobraun, nördlicher vogel. Es
    sind flecken die schatten der bäume
    das moosige licht. wir möchten augen
    sehen, knöpfe, möbel. ein uhu, mittel
    eurasisch, durchschnittlich. leg eine
    angeschnittene zitrone hinzu. natürlich
    haben sie seelen»

    Aus »Berührte Orte« – dem jüngsten Gedichtband Ulrike Draesners.
    Die Zeit erlaubt nicht, ausführlicher zu werden.

    Deutlich geworden ist hoffentlich, über welch fabelhafte sprachliche Mittel diese Autorin verfügt und wie gezielt und unprätentiös sie diese einsetzt. Dabei bedeutet Poesie für Draesner «eben nicht, zu metaphorisieren und oder zu verrätseln. Sie ist nicht das Aufblasen der eigenen Innenwelten; im Gegenteil. Abstraktes, Gedankliches, diffus Gefühltes möchte sie möglichst konkret machen.

    Dafür zeichnen wir Ulrike Draesner heute mit dem Solothurner Literaturpreis 2010 aus:

    All diesen Qualitäten begegnen wir wieder in Ulrike Draesners neuestem Buch, dem Roman «Vorliebe»: Zu Beginn sehen wir die Enddreissigerin und Astrophysikerin Harriet, wie sie sich trimmt, um aus 6000 Bewerbungen als Astronautin für eine Marsmission selektioniert zu werden. Sie bringt alle Voraussetzungen mit ausser ihrer «Erdenblödigkeit», die sich in Form von unglücklichen Lieben äussert, und sie während des Trainings zu Erinnerungen an die zwei Männer ihres Lebens drängt. Was sie erlebt hat, erscheint vordergründig als kommune Ehebruchsgeschichte: Harriet verliebte sich als jugendliche Ausreisserin in den zwei Jahrzehnte älteren angehenden Pfarrer Peter, der seinen Lebensplan deswegen nicht änderte. Mehr als zwanzig Jahre später fährt Ashley, Harriets Partner, Ingenieur von Beruf, mit dem Auto Peters Frau Maria um – und so treffen Harriet und Peter im Spital erneut aufeinander. Harriet fällt gleich in Ohnmacht. Es kommt zu einer längeren Affäre zwischen den beiden, der Maria eher verzweifelt, Ashley ironisch distanziert ihren Lauf lassen, bis sie sich wie von selbst erschöpft, bzw. durch den Herztod Peters ihr drastisches Ende findet. Harriet – aus ihrer Umlaufbahn geworfen flüchtet sich in den Traum einer Reise zum Mars.

    Im Kern zielt der Roman auf die Bilder, die wir uns machen von der Liebe und vom Kosmos – physikalisch und metaphysisch. Die Vorstellungen von Liebe stimmen in diesen Nullerjahren selten überein – nicht mit den gesellschaftlichen Ansprüchen und nicht mit dem, was Paare voneinander erwarten. Alle Figuren im Roman haben Gefühlsprobleme, die alten Muster funktionieren nicht mehr und die heutige Berufswelt mit ihren Mobilitäts- und Flexibilitätserfordernissen ist mit dem romantischen Liebesideal längst inkompatibel – «sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, soviel zu fühlen», registriert Harriet einmal, von Pathosangst geprägt wie viele ihrer Zeitgenossen:

    «Alles wie immer: die sogenannte Liebe zerrte Menschen hinter sich her wie ein Hund Blechbüchsen, die man an seinen Schwanz gebunden hat. Schnell und schneller rennt das Tier, die Liebenden hängen fest, suchen die Liebe, doch die rennt voraus, und irgendwann wirft sie die Liebenden ab.»

    Auch die scheinbar exakte Astrophysik entwirft Bilder aufgrund elektromagnetischer Impulse, Annahmen, Projektionen. So sind alle Weltraumbilder im Grunde auch Fiktionen und der Roman verschränkt den wissenschaftlichen mit dem poetologischen Diskurs um Wahrheit, Authentizität, Fiktion und Täuschung.

    Entsprechend den emotionalen Turbulenzen der Protagonisten operiert «Vorliebe» in Sprache und Ablauf mit beständigen Tempo-Variationen und stilistischer Vielfalt, einem klugen Mix von teils konventionell erzählten Episoden und dem Versuch, mit poetisch hoch aufgeladener Sprache das Geschilderte aufzurauhen, sich ins Ungesicherte vorzutasten.
    Und einmal mehr ist die Figur der Schleife erkennbar. Der Roman beginnt mit der Gegenwart und blendet dann vielfach zurück, um am Schluss in Harriets Imagination einer kosmischen Wiederbegegnung mit dem verstorbenen Peter zu enden und einen Zipfel Transzendenz zu erhaschen. Eine raffinierte, sehr zeitgenössische Geschichte von Lieben und Vorlieben, mit zarter Referenz an Goethes »Wahlverwandtschaften«.

    Überzeugend im Verweigern vorschneller Antworten, faszinierend im Aufwerfen zentraler Fragen und verführerisch in der Opulenz der literarischen Umsetzung ist Ulrike Draesner erneut ein grosser Wurf gelungen – und ein Beweisstück für das, was ihr die Glaubwürdigkeit als Schriftstellerin bedeutet. Sie hat es vor kurzem so formuliert:

    «Die Frage nach Glaubwürdigkeit ist eine Frage nach innerer Wahrhaftigkeit. Sie trifft den Text – und hinter oder besser in ihm den Autor. Je länger ich schreibe, umso überzeugter bin ich davon, dass man in diesem literarischen, suchenden Schreiben nicht lügen kann – nicht wirklich lügen?. Die Frage nach ‹innerer Wahrhaftigkeit› mag altmodisch wirken… Sie ist ein Akt einer Widerständigkeit, die an etwas wie Unersetzbarkeit glaubt. Am Ende betrifft – und erfordert sie – Haltung.»

    Besser kann ich es auch nicht sagen, worum es dieser Autorin zu tun ist!Herzlichsten Glückwunsch also, liebe Ulrike Draesner zur Auszeichnung mit dem Solothurner Literaturpreis 2010. Wir freuen uns auf viele weitere Texte von dieser Klugheit und poetischen Intensität! Ich gratuliere natürlich im Namen der ganzen Jury und möchte meinen KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer für das befruchtende Teamwork herzlich danken: wie immer fusst die Laudatio auf den Überlegungen von uns dreien.

    Unsererseits danken wir den Sponsoren des Preises für ihr Vertrauen und die Freiheit, in der sie uns jurieren lassen. Für die grosse organisatorische Arbeit für den heutigen Anlass danke ich herzlich Liliane Prina von der Vogt/Schild AG sowie Frank Schneider. Und last but not least danken wir der Solothurner Klarinettistin Franzika Baschung für ihre stimmungsvolle musikalische Begleitung mit Stücken von Heinrich Sutermeister und Charles Koechlin.

    Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit!