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    Thomas Hettche

    Hans Ulrich Probst, 17. Mai 2015

     

    «Ich denke heute mehr denn je, dass es in der Literatur genau darum geht: das Herz zu berühren.»
    «Wir sagen: Die Zeit vergeht. Dabei sind wir es, die verschwinden.»

    Lieber Thomas Hettche,
    Meine Damen und Herren,

    Ich heisse Sie herzlich willkommen und freue mich, dass Sie nach dem Gespräch unseres letztjährigen Preisträgers mit Bundesrat Berset geblieben sind, um unseren neuen Preisträger und Gast aus Deutschland zu feiern.

    Thomas Hettche erhält den Solothurner Literaturpreis für sein beeindruckendes Werk, das, voller Feingefühl für Atmosphäre und Figurenzeichnung, thematische Tiefe mit erzählerischer Virtuosität verbindet.
    Seit 25 Jahren zählt Thomas Hettche, vergangenen November 50 Jahre alt geworden, zu den markantesten Köpfen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur; sein breit gefächertes Oeuvre zeichnen Kontinuität in der literarischen Qualität und beständiger Wandel im erzählerischen Zugriff aus.

    Ich kann dieses Werk hier nur auszugsweise vorstellen und beginne mit dem jüngsten Roman «Pfaueninsel», einem immens reichen, rundum gelungenen historischen Roman mit einer bewegenden tragischen Liebesgeschichte und klugen kulturphilosophischen Einsprengseln. Geschrieben in einer fast «klassisch» zu nennenden, geschmeidigen Sprache, mit ruhiger Intensität in ausgewogener Komposition und einer Vielzahl packender Szenen und berührender Figuren. «Pfaueninsel» stellt einen Höhepunkt dar in Hettches Schaffen, aber auch in der deutschsprachigen Literatur dieser Tage.
    Erzählt wird ein scheinbar entlegenes Einzelschicksal und zugleich die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts.
    Der Roman beginnt mit dem Satz: «Die junge Königin stand einen Moment lang einfach da und wartete, dass ihre Augen sich an das Halbdunkel des Waldes gewöhnten.»

    Wir schreiben das Jahr 1810 und die junge Königin, das ist Luise, Liebling ihrer preussischen Untertanen; sie erblickt im moderigen Unterholz den kleinwüchsigen Knaben Christian Strakon. Erschreckt entfährt ihr ein böses Wort, «Monster». Christian berichtet seiner gleichfalls kleinwüchsigen Schwester Marie, der Hauptfigur des Romans, von der Begegnung mit der Königin und dem vernichtenden Wort. Sein Blick auf die Zwergenschwester freilich ist ein ganz anderer:
    «Gewiss, er sah dasselbe wie alle anderen auch, wenn sie seine kleine Schwester betrachteten, die Makel des Zwergwuchses, (…) Er wusste, wie sie watschelte, weil ihre Beine sich schon zu verkrümmen begannen. Doch er sah in Maries Augen unter den schwer lastenden Brauenbögen auch, wie neugierig und zärtlich sie alles betrachtete, was ihr begegnete. Er kannte ihren Mund, der so gern lachte. Wie vorsichtig und liebevoll ihre Stummelfinger alles betasteten. Wie klug sie für ihr Alter war. Für ihn war sie schön.»

    Mit dieser Exposition sind Thema und Protagonistin exakt umrissen: Was gilt als schön? Und wer bestimmt darüber? Die monströse Verwünschung wird Maries Leben umspannen, das Hettches Roman zur Gänze, von 1800 bis 1880, verfolgt. Auf die Pfaueninsel, das kleine Eiland in der Havel, Rückzugsort der Preussenkönige zwischen Potsdam und Wannsee, kommt sie als sechsjährige Waise zusammen mit dem Bruder, auf Geheiss des Hofes. Hören wir noch ein paar Zeilen als Zeugnis von Hettches glanzvoll poetischer Prosa, wenn er die Ankunft Maries auf der Insel schildert:
    «Der Himmel über dem Jungfernsee flirrte an den Ufern, und die hohen Bäume, deren Grün so satt war, dass es von ihnen abzutropfen schien, neigten sich tief über den Grund und kamen immer näher, als die Havel sich verengte. Und dann hatte sie die Insel gesehen, zum allerersten Mal. Hochgeschmückt mit ihren Bäumen kann sie selbst wie ein masthohes Schiff heran, weiss der Ausguck der beiden Türme des Schlosses. Ihr Herz schlug wie wild, so glücklich war sie in jenem Moment, denn sie war sich sofort völlig sicher, dass sie, so, wie sie war, nur hierhergehören konnte. Und hatte im selben Moment, zum ersten Mal in ihrem Leben, den Schrei eines Pfaus gehört.»

    König Friedrich Wilhelm III. lässt auf der Insel einen englischen Garten anlegen, ein künstliches Paradies mit exotischer Fauna und Flora: Löwen und Kängurus, Affen und Elche, bis zu 800 Tiere bevölkern zeitweise den streng geordneten Garten – dass die meist für den märkischen Sand ungeeigneten Tiere zuhauf verenden, kümmert die ehrgeizigen Konstrukteure kaum.
    Und mittendrin die Zwergin Marie, die als «Schlossfräulein» installiert, die Blicke der Besucher auf sich zieht. Sie wächst mit dem Neffen des Hofgärtners, Gustav auf, löst sich aus der inzestuösen Bindung mit Christian, um Gustav lieben zu können. Dieser sieht seine Liebe biedermeierlich als Pflanzenliebe, die animalische Sexualität macht ihm Angst. Als der sinnenfreudige «Wilde» Christian bei einem für die Geliebte des Königs organisierten Fest auf der Insel dieser obszön unter die Wäsche geht, wirft Gustav – welch beklemmende Szene – den faunischen Zwerg über die Brüstung in den Tod, ohne dafür belangt zu werden. Waren nach voraufklärerischem Verständnis auch missgebildete Zwergwüchsige Teil der göttlichen Schöpfung, grenzt sie das Wissenschafts- und Industriezeitalter als ‹kranke Missbildungen› aus. Gustav, inzwischen selbst Hofgärtner, kann seine für ihn widernatürliche Liebe nicht leben und nimmt, besonders grausam, Marie ihr gemeinsames Kind weg. Marie versteinert, vereinsamt, fällt aus der Zeit, so wie die Pfaueninsel selbst auch, nachdem der Hof das Interesse an ihr verloren und die verbliebenen Tiere in den neugegründeten Berliner Zoo verpflanzt hat.

    Die Zeit, ihr Wesen, unser Umgang mit ihr – das sind Leitmotive nicht nur in diesem Buch von Thomas Hettche: «Wir sagen: Die Zeit vergeht. Dabei sind wir es, die verschwinden. Und sie? Ist vielleicht nur so etwas wie eine Temperatur der Dinge, eine Färbung, die alles durchdringt, ein Schleier, der alles bedeckt, alles, von dem man sagt, dass es einmal war. Und in Wirklichkeit ist alles noch da, und wir sind alle noch da, nur nicht im Jetzt, sondern zugedeckt von ihr, der Zeit, im Setzkasten der Ewigkeit.»

    Wie beiläufig verhandelt die «Pfaueninsel» Grundfragen der Menschheit, zeigt den Wandel vom Barock zum Biedermeier in Schönheitsvorstellungen und Naturbegriff, den Vormarsch der exakten Wissenschaften, der Technik, der Industrie. Marie, und das ist eines der Wunder dieses Textes, wird dabei in ihrer zärtlichen Empathie für Natur und Kreatur zur selbstverständlichen Identifikationsfigur für die Lesenden.

    Ein einziges Mal verlässt sie die längst gebrochene Insel-Idylle; einer amourös gefärbten Einladung eines Hofkoches folgend, fährt sie im Jahr 1860 mit der neuen Eisenbahn von Potsdam nach Berlin: Phänomenal, wie Hettche diese Mirakel des Maschinenzeitalters schildert:
    «Noch nie hatte Marie Gleise gesehen, diese Eisenbänder, die den Blick schneller und unbedingter mit sich wegziehen als jede Strasse, und sie verlor sich in diesem Band, bis an seinem einen Ende, ein Stück nur entfernt von der Plattform, auf der sie wartete, der ächzende und zischende Dampfwagen von vielen Männern unter Mühen herumgedreht wurde, der dabei dampfend stillhielt wie ein sehr grosses Tier.
    Und als das eiserne Tier mit seinem Gesicht in die Flucht der Eisenbänder hineinglotzte, zischte und ächzte es plötzlich lauter, und dann, ohne dass man zuvor irgendeinen Willen oder eine Anspannung bemerkt hätte, kam es zu ihnen heran.»

    In Berlin wohnt der Bekannte im Gebiet der heutigen Chaussee-, Torstrasse, wo Eisenerz verarbeitende Fabriken stehen – was natürlich auch auf das Sagenmotiv der mythischen Zwerge verweist, die im Erdreich nach Erz und Edelmetall schürfen. Doch Marie findet kein Gold, sondern eine industrielle Feuerhölle und auch keine Liebe. Sie selbst kommt zuletzt selber im Feuer um, als sie das grosse Palmenhaus in Brand steckt, wobei ihre letzten Gedanken nochmals dem geliebten, dort getöteten Bruder gelten.

    Die «Pfaueninsel» ist in jeder Hinsicht ein Wurf – im zuweilen an Fontane gemahnenden Tonfall, in der Leitmotivtechnik, im bald hautnah bei Marie verweilenden, dann wieder mit objektiver Sachlichkeit die Epoche betrach-tenden Blick, aber auch in der haptischen und optischen Gestaltung des Buchs.
    Der Stoff des jetzt vorliegenden Chef-d’oeuvres hat den Autor lange beschäftigt. Schon 1993 hatte er eine Reportage über die Pfaueninsel verfasst. Dazu merkt der Autor an: «Es hat so lange gebraucht, mich von den eigenen Modernitäts-Vorstellungen frei zu machen. Ich denke heute mehr denn je, dass es in der Literatur genau darum geht: das Herz zu berühren.»

    Tatsächlich ist Thomas Hettche von seinem ersten Buch «Ludwig muss sterben» bis zur vollendeten «Pfaueninsel» einen weiten Weg gegangen, den es jetzt in ein paar Strichen nachzuzeichnen gilt:
    Im hessischen Treis in der Nähe von Giessen aufgewachsen, hat Thomas Hettche in Frankfurt Germanistik und Philosophie studiert und mit einer Arbeit über Musil abgeschlossen, später mit dem literarischen Venedig-Essay «Animationen» auch promoviert. Er hat grosse Teile seines Lebens in Frankfurt verbracht, aber auch in Stuttgart und Rom gelebt. Gegenwärtig ist Berlin sein Hauptdomizil. Daneben ist ihm ein Refugium im Wallis – erworben in der Folge des ihm verliehenen Spycher-Preises in Leuk – zum wichtigen Rückzugs- und Schreibort geworden. Seit seinem Studienabschluss 1991 wirkt Hettche als freier Schriftsteller und Publizist.

    Nach bewusst experimentellen Schreibanfängen, angesiedelt an der Schnittstelle von Körperlust und Körperlosigkeit, greift schon sein zweiter Roman «Nox» (1995) gleichsam handfest ins Zeitgeschehen ein. Er spielt in der Nacht des Mauerfalls 1989. Gleich zu Beginn wird dem Erzähler von einer jungen Frau die Kehle durchschnitten; doch der Tote – der auktorialen Verantwortung entbunden – schildert das Geschehen in jener Berliner Nacht der Vereinigung ungerührt weiter, so akribisch wie den mählichen Zerfall des eigenen Leichnams.
    Neben der jungen Frau, die sich in dieser Nacht ganz den körperlichen Varianten der Vereinigung ausliefert, geistert als dritte Hauptfigur ein sprechender DDR-Grenzwachthund durch den grellen, in seiner punktgenauen Sprache kühl kontrollierten Roman.

    Der Durchbruch gelingt Hettche mit «Der Fall Arbogast» (2001), schon auf dem Umschlag als Kriminalroman bezeichnet. Dabei interessiert den Autor kein ‹whodoneit›. Die Faktenlage des Buches – sie geht auf den historischen Fall eines groben Justizirrtums im BRD-Mief der 1950er Jahre zurück –, ist schon nach wenigen Seiten klar: Hans Arbogast, Vertreter von Billardtischen und verheiratet, nimmt eines Nachmittags im Sommer 1953 eine lebenslustige, aus der DDR geflohene Anhalterin in seinem Borgward Isabella mit. Sie landen zusammen im Gebüsch, wo Marie nach beidseits gewolltem ekstatischem Verkehr unversehens – vermutlich an Herzversagen – zu Tode kommt. Das klingt bei Hettche so – anschaulich, unaufgeregt, fern allen Voyeurismus:
    «‹Schau mich doch an!› Sie antwortete nicht. Erst, als er das registrierte, bemerkte er auch, dass sie schon einen unendlich langen Moment seinen Bewegungen nichts mehr entgegnete. Er erstarrte und lauschte, und da war es völlig still bis auf das zischelnde Gras. Sie hielt ihn nicht mehr. Noch immer auf Knien und Armen kauernd, sackte sie nun in sich zusammen, er glitt aus ihr heraus und sie ihm weg. Abgewandt lag sie da, die ihm eben noch so nah gewesen und rührte sich nicht. Und er spürte, woran er später oft denken musste, eine ganz fremde Art von Müdigkeit, die an ihm zog. Eine Müdigkeit von solcher Nachtschwärze, dass es ihn den sonst nicht furchtsamen Mann, plötzlich ängstigte wie ein Kind. Als ginge etwas vorüber und langte ihn an.»

    In Panik versteckt Arbogast die Leiche, wird bald verhaftet und des Lustmordes bezichtigt. Aufgrund schludrig geführter Ermittlungen – ein prominenter Gerichtsmediziner verdreht den Obduktionsbericht in seinem Gutachten glatt ins Gegenteil – wird er zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Arbogast indes hält an seiner Unschuld fest – trotz mittelalterlichen Strafvollzugs mit Einzelhaft und eines perfid auf sein Geständnis drängenden Gefängnisgeistlichen. Erst nach 14 Jahren, Ende der 1960er-Jahre, die Ehe ist längst geschieden, die Mutter verstorben, kommt der Fall Arbogast – dank gewandeltem Zeitgeist, einem forschen Anwalt und engagierten Journalisten – erneut vor Gericht. Im Revisionsprozess entlarvt der Star der damaligen DDR-Gerichtsmedizin die Schlamperei und Fehlschlüsse der westdeutschen Gutachter im ersten Verfahren – eine Schlappe sondergleichen ist das, wie ein Spezialist aus der verfemten DDR die willfährige BRD-Justiz blamiert. Arbogast wird mangels Beweisen freigesprochen.

    Hettche hat umfassend recherchiert, sich aber, zum Nutzen der Lesenden, in der Gestaltung der Figuren viel Freiheit gelassen, etwa, indem er aus dem Ostberliner Stargutachter eine attraktive Frau macht. Obwohl akkurat berichtet, stehen im Zentrum des Romans nicht die Details des Prozesses, der Autor erschliesst die dahinterstehende Mentalitätsgeschichte der Nachkriegs-BRD, die aus NS- und Kriegszeiten nachwirkende Gewaltbereitschaft, Verrohung und Prüderie. Dazu geht er der Frage nach der Wirkung endloser Haft nach, welche dem lebenslänglich Verurteilten zur zweiten Haut wird. So sinniert Arbogast im Zuchthaus Bruchsal – ähnlich wie Lenzburg oder Regensdorf mit zentralem Wachtturm und einzelnen Flügeln ausgestattet –: «Jede der Zellen, dachte Arbogast in dem Moment, als das Licht verlöschte und er im Dunkeln routiniert das Bett von der Wand klappte, ist wie eine einzelne Wabe in die Wände der hohen Säle gehängt, unverbunden und unerreichbar, gäbe es nicht die schmalen eisernen Galerien, die zu ihnen hinführten. Wir sind allein, dachte Arbogast, und seltsamerweise beunruhigte ihn das in keiner Weise, sondern nahm ihm im Gegenteil die Angst.»

    Der Autor nimmt unzweideutig Stellung gegen unmenschlichen Vollzug und voreingenommene Gutachter, er hält aber auch Distanz zum Protagonisten, der als Identifikationsfigur nicht taugt. Schuld oder Unschuld? Das Gericht muss urteilen, die Literatur kann vieles in der Schwebe lassen. Seine sehr filmisch erzählte Geschichte trifft das Zeitkolorit präzis und wirkt gerade darum zeitlos.

    Auffällig an der Arbeit unseres Preisträgers ist sein Bemühen, für jedes neue Buch eine eigene Form und Sprache zu finden. Dies gilt auch für den 2006 erschienenen Roman «Woraus wir gemacht sind», eine packende Mischung aus Thriller, Roadmovie und Essay über unser Verhältnis zu den USA:
    «Niemand weiss, was bleiben wird. Von uns nicht und nicht von allem anderen. Eine Drift hat uns erfasst, die alles ändert, was wir kennen. Wir ahnen, dass in dieser Drift viel von dem verschwinden wird, was wir lieben. Vielleicht verschwindet sogar selbst jenes Ding, das wir Liebe nennen.»

    Solche Sätze grundieren die Stimmung dieses Romans. Er beginnt ein Jahr nach dem 11. September 2001 und endet am Vorabend des Irakkriegs im Frühjahr 2003, also in der Phase der Mobilisierung der US-amerikanischen Öffentlichkeit für den illegitimen Irakkrieg. Wie Hettche diese Präsenz der Bush-Propaganda dem Text beiläufig unterlegt, ist für sich allein schon eindrücklich.
    Zum Plot: Der deutsche Biografien-Schreiber Niklas Kalf kommt mit seiner schwangeren Frau Liz aus beruflichen Gründen erstmals in die USA, er hat den Auftrag die Lebensgeschichte des vor den Nazis emigrierten Physikers Eugen Meerkaz zu schreiben und trifft in New York Verleger und Übersetzerin.
    In der zweiten Nacht schon wird Liz in erpresserischer Absicht entführt: Kalf soll über geheimnisvolles Material aus dem Leben des Physikers verfügen – allein er kennt und hat nichts davon; so gerät er in eine Geschichte, von der er «nichts weiss». Verzweifelt und ratlos bricht er, einer dünnen Fährte folgend, auf nach Marfa, einer texanischen Kleinstadt nahe der Grenze zu Mexiko, bekannt für ihre Künstlerkolonie um Donald Judd. Hier realisiert er, wie Hettche einmal schreibt: «Jeder betritt Amerika in seinen Träumen zuerst». Kalf wird in Marfa mit einer völlig anderen Welt konfrontiert, die ihm als Kind der ersten Fernsehgeneration zwar vertraut vorkommt, in der aber, wenn der Asphalt am Stadtrand endet, die absolute Leere beginnt. Für Wochen versackt er in aufreizender Untätigkeit, hat flüchtige Begegnungen, beobachtet ausdauernd den Provinzalltag ohne zu begreifen, ob «seine Beobachtungssucht nun Flucht war, oder ob die Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst, (…) ihm die genaue Wahrnehmung der Aussenwelt erst ermöglichte» – für einen Autor keine unwichtige Frage! Kalf verliert alles, was ihm bisher lieb war, er fällt wie aus der Welt, wobei der Erzähler den ungeduldigen Leser mit poetisch betörenden Bildern bei Laune hält, etwa wenn es heisst: «Als die kleine Turboprop-Maschine nach El Paso abhob, streckte sie sich in den schwarzen Himmel hinein wie eine magere Katze.»
    Oder: «In seiner ersten Nacht in Marfa weckten Niklas Kalf die Schreie der Züge. Töne, als schöben sie die Zeit vor sich her.»

    Erst als sich der provozierend passive Protagonist selbst roher Gewalt ausgesetzt sieht, erwacht er und bricht auf, um seine Frau zu finden und ebenso eine Antwort auf die Titel-Frage: Woraus sind wir gemacht und was ist die Liebe? Das alles gipfelt in einem Pulp-fiction ähnlichen Finale mit Showdown in einem stillgelegten Kino in Downtown L.A.. Noch bevor er dann Liz und das inzwischen geborene Kind in die Arme schliessen kann, formuliert Kalf:
    «Vielleicht war die Liebe so etwas wie ein Vertrag, aber ein Vertrag, der die ganze Welt umfasste, weil wir den Tod in unseren Augen sehen. Kein Tier sieht den Tod. Die Liebe ist das, was uns unter dem leeren Himmel möglich ist. Endlich, dachte er noch einmal, ist es vorüber (…) Alles war plötzlich einfach: Nichts als der Tod ist uns gewiss, und keiner kann ihn uns nehmen. Der Himmel ist leer, und wir haben nur uns. Das ist die Liebe. Sie ist kein Gefühl. Denn wenn wir gehen, bleibt der andere allein.»

    Überzeugend verknüpft dieser Roman das Nachdenken über eine aus den Fugen geratene globale Welt mit elementaren Fragen nach Verantwortung und Verbindlichkeit und mit Mythen und Projektionen des Europäers.

    An drei Romanen habe ich versucht, die literarische Souveränität des diesjährigen Preisträgers ansatzweise zu illustrieren: an «Pfaueninsel», dem in Komposition, Motivverknüpfung, stilistischem Glanz und bewegender thematischer Tiefe schwer zu übertreffenden jüngsten Meisterstück; dann im enger geführten zeitgeschichtlichen «Der Fall Arbogast», gesellschaftskritisch und dem Rätsel der Anziehung auf der Spur. Schliesslich in der originellen Auseinandersetzung mit den Bildern, die wir uns von anderen, von uns, von der Zeit und von der Liebe machen in der raffinierten Mixtur von «Woraus wir gemacht sind».

    Nicht fehlen darf in dieser Laudatio der auch in den Romanen präsente Denker und Essayist Hettche. Freilich verwahrt sich unser Preisträger gegen jede Etikettierung als theoretischer Autor: «Seit 25 Jahren nimmt mich die Kritik als eher theoretischen Autor wahr. Dabei kreist mein Schreiben seit dem ersten Buch im Innersten um die Frage, wie man einen Leser mit einer Erzählung so gefangen nehmen kann, dass er bezaubert ist.”

    Zuletzt ist von ihm die Essay-Sammlung «Totenberg» erschienen. Sie enthält eine Reihe einfühlsamer Porträts, etwa über die Literaturwissenschafterin Christa Bürger, seine frühere Hochschullehrerin, über die Fotographin Angelika Platen oder die Buchhändlerin Henriette Fischer auf Sylt. Dabei fällt auf, wie behutsam der Verfasser zu fragen versteht, so dass die Gespräche mit diesen Persönlichkeiten weit über übliche journalistische Oberflächlichkeit hinausweisen.

    Wenn wir zum Abschluss von drei betriebsamen Literaturtagen diesen Preis an einen Autor vergeben, für den Literatur «keinen Zweck braucht, weil sie ganz Mittel ist, ein Lebensmittel, Schiffszwieback auf unser aller Reise», dann soll dies nicht geschehen, ohne dass auch Thomas Hettches Perspektiven auf das Buch im digitalen Zeitalter und der heutigen Kulturindustrie zur Sprache kommen. Gefragt, ob es etwas gebe, war nur er, der Autor, machen könne, antwortete Thomas Hettche 2012:
    «Für mich ist es tatsächlich dieses Ding: das Buch. Sein Wunder ist, dass der Leser mit ihm in ein exklusives, nichtvernetztes Gespräch treten kann. Meine Arbeit findet statt zwischen meinem Kopf und dem Kopf des Lesers. Da hängt nicht Google dran, da hängen nicht Musik und Bilder und Kommentarfunktionen dran. Diese Einsamkeit auf beiden Seiten, der des Autors und des Lesers, die Konzentration auf einen Text, der endlich und abgeschlossen ist, das ist das, was wir haben und was bleiben wird.»

    In »Totenberg» findet sich weit weniger Zuversicht, vielmehr dominiert eine kulturpessimistische Ernüchterung, wenn Hettche im Betrieb, in Buchhandlungen, Universitäten, Rundfunkanstalten einen «schleichenden Prozess der Auszehrung» am Werk sieht:
    «Die literaturwissenschaftlichen Seminare, in die ich eingeladen werde, muten ihren Studenten keine Bücher mehr zu, sondern kopieren zehnseitige Ausschnitte, anhand derer nicht etwa Romane verstanden, sondern lediglich Frage- und Diskussionstechniken eingeübt werden sollen. (…) Immer mehr Traditionsbuchhandlungen die seit Jahrzehnten Lesungen veranstalten, mutieren zu Papeterien. In den Rundfunksendern trifft man auf Redakteure, die das Buch, über das sie mit einem sprechen wollen, nicht mehr gelesen haben dürfen, damit sie die Hörer besser abholen können, wie man das nennt. (…) Der literarische Raum zerfällt, er verliert seine Gravitation, alle Kräfte streben hinaus.»

    Und Hettches prekäre Bilanz lautet: «Wird unter diesen Voraussetzungen etwas bleiben von dem, was mir kostbar an Literatur ist? Von jenem Zwielicht der Erwartung und des Wissens, das um Bücher glimmt und sie mit all den anderen Lektüren irrlichternd auflädt. Ich glaube: Nichts bleibt.»

    Denn auch die Hoffnungen auf eine digital-enzyklopädische Literatur hat sich für ihn zerschlagen:
    «Die Welt war – und wir sind dabei, das zu vergessen – die längste Zeit Natur und Natur ist sprachlos. Heute, da wir uns mit Wörtern, von Bildern, von Musik immer umgeben, gerade anschicken, mit all unseren Daten selbst Teil der digitalen Welt zu werden, wie wir bislang nur Teil der Natur waren, ist höchst fraglich, was mit der Literatur geschehen wird. Denn deren Magie bestand seit Jahrtausenden, Sprache in der Stille zu sein.»

    Hier könnten die Solothurner Literaturtage wohl gleich wieder mit der Diskussion beginnen – vielleicht gibt Thomas Hettche uns gleich anschliessend noch etwas Schiffszwieback auf die Reise.
    Jetzt aber wollen wir ihn feiern, feiern für seine poetisch aufgeladene, analytische Prägnanz in den weit sich vorwagenden Essays und für die Schönheit seiner lange nachhallenden Geschichten, die nie prätentiös, nie prunkend erzählt werden, bezaubernd und beunruhigend zugleich sind. Am Puls der Zeit und zugleich in kritischer Distanz ergründet unser Preisträger die Condition humaine so überlegt wie emotional – immer interessiert an individuellen Schicksalen in ihrer Vitalität und Zerbrechlichkeit Wie zeitlich oder räumlich fern auch Hettches Texte angesiedelt sein mögen, wissen die Lesenden sofort: tua res agitur, hier und jetzt.

    Ganz herzlichen Glückwunsch also, lieber Thomas Hettche zum Solothurner Literaturpreis 2015. Wir freuen uns auf viele weitere Texte von Ihnen, poetische und philosophische!

    Mein Glückwunsch erfolgt natürlich im Namen der ganzen Jury und ich möchte meinen KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer für die schöne Zusammenarbeit danken.Unsererseits danken wir den Sponsoren des Preises für ihr Vertrauen und die Freiheit, in der sie uns jurieren lassen. Für die organisatorische Betreuung der Preisverleihung danke ich Frank Schneider vom Verein Solothurner Literaturpreis, dessen Präsidenten Ivo Bracher und Sonja Abplanalp von der Bracher AG. Und ganz zuletzt danken wir Adrian Mira Klarinette/Saxophon und Philipp Stampfli, Klavier für die stimmige musikalische Umrahmung.

    Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit!