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    Peter Weber

    Hans Ulrich Probst, 25. Juni 2007

    «Ich schweife ab, um zur Sache zu kommen … muss masslos übertreiben, um den Dingen gewachsen zu sein.»
    «Ich aspiriere
    Ins Offene»
    «Man müsse kleines Leben suchen … am Rand der grossen Ereignisse, im äusseren Quirl des eigenartigen Strudels, den wir Gegenwart nennen, in den Nischen und Winkeln, wo der Alltag nistet.»

    Herzlich willkommen Peter Weber,

    schön, 5 Wochen nach Ihrem letzten Auftritt in dieser Stadt erneut so viele Aficionados Ihrer Sprachkunst begrüssen zu dürfen.

    Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, ich freue mich, Ihnen den diesjährigen Preisträger des Solothurner Literaturpreises vorzustellen, und fühle mich zugleich beklommen: Angesichts der überschiessenden Sprachmacht, angesichts der verspielten Klangfülle und Radikalität von Peter Webers Texten, steht jegliche analytische Lobesprosa von vornherein auf verlorenem Posten. Und das Rezept des «Wettermachers»:

    «… ich muss masslos übertreiben, um den Dingen gewachsen zu sein …»

    ist dem Juror nicht erlaubt.

    So versuche ich einzig, das Glück eines Leseabenteuers zu umschreiben in geduldiger Annäherung an Webers Werk. Dies auch, weil seine Bücher die Lesenden fordern und herausfordern, sie lehren und verführen, Welt und Sprache neu und anders zu sehen.

    «Einmal sah er, dass die Augen der Katze Bildschirmfarbe angenommen hatten. Die Sätze waren ihr durch die Augen gelaufen» – registriert Weber fast aphoristisch verdichtet im jüngsten Buch.

    Was in Peter Webers vier Büchern vor uns liegt, das ist keine Zusammenfassprosa, keine Konfektionsware, sondern ein einzigartiges poetisches Universum, in dem der Autor mit raffiniertem Kalkül, kühner Einbildungskraft und schier anarchischem Furor der Sprache stets neue Klänge- und Resonanzräume eröffnet, und sich zugleich in insistierender Sinnsuche den komplexen Diskursen der Gegenwart stellt.

    Er tut das stets mit erzählerischer Verve, wie ein szenisches Kleinod aus dem jüngsten Buch «Die melodielosen Jahre» illustrieren mag, wo der Autor eine deutsche Wortneuschöpfung auf den Prüfstand nimmt:

    «SOFORTFAHRER liest der Reisende an deutschen Bahnschaltern, das Wort ist amtlichem, eine Spontanbildung der jüngsten Beschleunigungsjahre. Es bezeichnet jene Minderheit, die den Fahrschein nicht elektronisch vorbestellt hat, sondern am Schalter erscheint, sofort fahren möchte, sofort nach Erhalt des Fahrscheins, dafür einen Aufpreis in Kauf nimmt. Als O dieses Wort in seiner Bedeutungsvielfalt an der Reisewirklichkeit erprobte, auf einen schon fahrenden Zug aufsprang, bei schliessender Tür, landete er just vor dem Gesicht des Zugchefs.

    Es nahm schnell Farbe an. Der Mann verlor Takt und Fassung, schmiss ihm seinen Hut vor die Füsse, wodurch Empörung entwich sofort. Er tanzte seinen Stromtanz, sekundenkurz, bezichtigte ihn der Lebensmüdigkeit und allgemeinen Transportbehinderung, drohte, die Notbremse zu ziehen, was das ganze Bahnwesen aus dem Rhythmus brächte und eine fünfstellige Busse zur Folge hätte. Da O sich romanlang mit Bahnmännern und ihren Hüten auseinandergesetzt hatte, wusste er, ganz demütiger Passagier, dass ein Bahnbeamter hutlos niemals die Notbremse ziehen würde, und erwarb, als der Beamte Hut und Fassung wiedererlangt hatte, sofort eine Sofortfahrerkarte …»

    Nebst dem verblüffenden Witz und Tempo enthält die Stelle – durchaus typisch für Peter Weber einen selbstironischen Rückverweis auf seinen Erstling: Wer sich «romanlang mit Bahnmännern und ihren Hüten» auseinandergesetzt hatte, ist niemand anders als der Autor in seinem «Wettermacher», worin der Vater des Helden als Informationsbeamter der Bahn mit entsprechender Kopfbedeckung fungiert.

    Doch der Reihe nach – wer ist unser Preisträger – was hat er geschrieben?

    Geboren am 22. April in Wattwil im Toggenburg, das er derart nachhaltig auf die literarische Karte eingetragen hat, dass das Internationale Biografische Archiv Munzinger als Geburtsort Wattwil / Kanton Toggenburg vermerkt und so den Toggenburgern eben jene politische Eigenständigkeit zuerkennt, die sie laut Weber auszeichnet – nicht nur wegen Huldrych Zwingli und Ulrich Bräker, die aus dem nämlichen Landstrich stammen. Peter Weber hat zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester – sie hat in diesen Wochen gleichfalls für Schlagzeilen gesorgt, als neue Co-Direktorin des Zürcher Theaters am Neumarkt.

    Nach der Matur in Wattwil vertauschte Weber das Herkunftstal mit der Stadt Zürich, wo er gute Verhältnisse zum Schreiben vorfand, um just über das Tal seiner Herkunft zu schreiben, das Toggenburg, das «gleich einem langgezogenen Mollakkord quer zur Weltgeschichte» liegt. So entstand der Roman «Der Wettermacher». 1993 erschienen, entwirft dieses schwer einzuordnende Testgebilde wortgewaltig und so fantastisch wie fantasievoll einen ungewöhnlichen Heimatroman, der Land und Leute real und surreal in den Blick nimmt. Das klingt dann – wir sind hier ja im schweizerischen Mittelland – zum Beispiel so:

    «… Nebel ist der Hauptexportartikel des schweizerischen Mittellandes, Nebel beherrscht das schweizerische Mittelland vom Oktober bis in den Februar, unter dem Nebel ist das Leben ausgesprochen sinnentleert, unter der mittelländischen Nebeldecke geht im Durchschnitt jedes zweite Kind ein, stirbt an Lichtmangel oder Perspektivenlosigkeit, während über der Nebeldecke grenzenlose Heiterkeit herrscht …»

    Uber der Nebeldecke ist meistens auch das Toggenburg und diese vom Autor emotionalisierte und erotisierte Landschaft spielt die Hauptrolle im «Wettermacher». Mit dem Adoptivkind Abraham August Abderhalden hat Weber eine schillernde Figur zwiegeschlechtlicher Herkunft kreiert, die durch einen Blitzschlag der Zunge beraubt wurde, so dass ihr nur die Schrift bleibt, in der er wettern kann: Abderhalden organisiert die den Autor umtreibenden Stoffmassen, häufig in der Form von Briefen an den Adoptivbruder Freitag, der sich, hochbegabt, weil er sich zuviel hintersann und alles recht machen wollte, für immer in die Thur legte.

    Diese Briefform, nicht zufällig in der Romantik sehr beliebt, erlaubt fast alles an Wechseln in Tonfall, Sprechweise und Fokussierung. Abschweifung und Variation sind recht eigentlich Programm: – «ich schweife ab, um zur Sache zu kommen» – lesen wir und «Wetterbriefe sind Arabesken» . Abderhalden lässt sich treiben vom Erzählfluss, vergleicht sich mit dem Zürcher Reformator: «so wie Zwingli zu den Quellen zurückgegangen ist, bin ich zur Quelle aller Dinge gegangen, habe mich in Unterwasser in der Thurgrotte in den Erzählfluss geworfen, der treibt mich immerwährend weiter». Die Geschichte einer Familie, einer Epoche, eines Flusses, alles verwebt sich zu einem dichten Teppich, der neben sprachorgiastischenEruptionen auch zarte Texturen kennt: Grossartig etwa, wie der Wettermacher das erste verlegene Werben seine Vaters um die Mutter Ute imaginiert, eine subtil beschriebene, fast wortlose Szene an einem Kiosk …

    Der Grundton des Buches ist in moll gehalten, eher elegisch – es geht um den Verlust all dessen, was das Toggenburg einmal war, den Verlust des Bruders, um die Aporien der unaufhaltsamen Veränderung der ländlichen Zivilisation. Und doch geizt das Buch nicht mit Komik: Man könnte eine Typologie erstellen, wie Schweizer Autoren die anscheinend unausweichlichen familiären Sonntags-Ausfahrten literarisch gefasst haben –
    bei Weber klingt das so:

    «Sonntag für Sonntag fuhr man ins Blaue. Jahr für Jahr …
    Wer fuhr ins Blaue?
    Alle fuhren ins Blaue.
    Stramme nettgeratene Väter plus Anhang durchkämmten das Blaue in Stationswagen – Volvo, Ford – gleich rudelweise.
    Familienväter versamten sich flächendeckend, mit der Versamung ging die Erweiterung des Kanalisationsnetzes einher.
    Garagen sind Garanten für das Prinzip Hoffnung.
    Angekommen, wurden wir von Leuten, die sich als Verwandte ausgaben, begrüsst und abgeküsst, an einen Tisch gehöckt und bekamen Sauersuppe, Sauerbraten, Sauerkartoffeln vorgesetzt.
    Torte unter Sauerrahm …
    Auf dem Heimweg dein Vater gesättigt am Steuer. Mutter gedankenverloren neben ihm.»

    Gleich danach kotzt der Erzähler hingebungsvoll. Und erzählt dann, wie sich der Vater später an sein Bett setzte:

    «Nebst Mut hatte er sich Seligkeit angetrunken, versuchte mir vieles zu erklären, tauchte aber, wie er zu reden anfing, mit seiner Stimme ins Seichte und Tümpelige ab, sagte zwischen Seligkeit und trunkenem Elend hin- und herschwappend, bald
    nur noch:

    «Du bisch scho en liebe Siech, mer sind ales liebi Sieche, i binen arme Siech, ales semmr armi Sieche, du bisch doch en arme Siech, du bisch scho en liebe Siech …»

    Die Szene endet mit der wahrlich existentialistischen Frage:

    «Welches waren die Fäden, an die wir gehängt wurden, als wir in die Landschaft hineingerieten?»

    Diese paar Zitate geben wenigstens einen Widerschein des von unserem Preisträger in seinem Erstling gezündeten Sprachfeuerwerks.

    Zuletzt beschliesst der Wettermacher an seinem 20. Geburtstag, die Landschaft Toggenburg in Wasser, Wind und Wetter aufzulösen, und in die Stadt aufzubrechen, wo er wie es heisst «zum ersten Male unter dem Wetterrand durch und ins Offen schauen konnte.»

    Obwohl Peter Weber seinen Erstling für «nicht mehrheitsfähig» hielt und sich dafür lieber “100 präzise Leser als 1000 Halbleser” wünschte, wurde «Der Wettermacher» fast überfallartig zum Riesenerfolg . Ein Erfolg, wie er auch gestandene Autoren hätte aus dem Gleichgewicht bringen können. Nicht so Peter Weber: Klug vernetzt mit Altersgenossen aus der Musik- und Literaturszene – eben etwa in der Gruppe «Netz» – blieb der Autors stets geerdet und liess sich mit seinem zweiten Buch die notwendige Zeit.

    1999 erschien es – «Silber und Salbader» überschrieben. Eine wiederum aus überquellender Fantasie und zahllosen Wassermotiven gespeiste barocke Liebesgeschichte, die einerseits im romanhaften-verwunschenen, leicht morbiden Bäderviertel der Stadt Baden angesiedelt ist, und von dort via die Gleisharfe Zürich – das Bahn- und Bahnhofmotiv ist eine der Werkkonstanten dieses viel reisenden, dem «Morbus Abonnementi Generalis» verfallenen Autors – nach Osten ausgreift ins sogenannte Raschtal. Das Raschtal ist gleichsam das jetzt ganz fiktionalisierte «Toggenburg». Transzendierten Webers Fantasien im «Wettermacher» das konkret erlebte Kindheitstal, wird in «Silber und Salbader» eine fantastische Parallel-Landschaft erfunden, die aber, wie der Autor betont, «dennoch an Realem befestigt ist».

    Wie im «Wettermacher» ist es letztlich Webers funkelnde und gleissende Sprache, welche der von skurrilen und verschrobenen Einfällen strotzenden Geschichte den Zusammenhang stiftet. Und schon hier scheint sein ästhetisches Interesse am Verhältnis von Sprache und Musik durch, schon hier verhandelt er den Wechsel von improvisierter zur repetitiven Musik, vom analogen ins digitale Zeitalter – ein Hauptmotiv im neusten Buch «Die melodielosen Jahre».

    «Bahnhofsprosa» – Peter Webers drittes Buch erschien 2002. In der Eröffnungssequenz finden wir den Erzähler in der leer geräumten Halle des Zürcher Hauptbahnhofs, umgeben vom «üppig aufwachsenden Gebrabbel», das ihn an die Sixtinische Kapelle erinnert, wo solches Geraune von eigens eingesetzten Beamten, den Marescialli del Silenzio, mit zischenden «Silenzio»-Rufen unterbunden wird: Der Erzähler versucht sich im Hauptbahnhof gleichfalls als Wellenbrecher, der «Schiff» oder «Fisch» Filz oder Schilf ruft.

    Im Wissen freilich, dass vollkommene Stille anders als die Heilige Stille in der Sixtinischen Kapelle im Bahnhof heillos wäre. Im Gegenteil: «der ganze Hauptbahnhof ist ein Gefäss für höllischen Lärm.» Diese Eingangsequenz kehrt am Schluss des Buches leicht variiert wieder und stellt sozusagen die Bühne bereit für die in vier Sechser-Pakete geschnürte Textsammlung. Dieser er Hallentext erschien übrigens ein erstes Mal schon 5 Jahre vor dem Buch in der «NZZ»! Daran lässt sich ablesen, wie lange unser Preisträger an seinen Texten arbeitet. Eine Seite werde x mal neu geschrieben bis sie dem Autor druckfähig erscheint, der sein Handwerk vorab am frühen Morgen ausübt:

    «Ueberhaupt alles, was ich schreibe, verdankt sich diesen ersten Wachstunden am Morgen, den Uebergängen zwischen Schlaf- Wachzustand. Ich bin dämmerungsaktiv, ich schreibe früh am Morgen, und je weiter ich in einem Text bin, desto früher wird es, fünf Uhr, vier Uhr, ich beraube den Schlaf.»

    «Bahnhofsprosa» ist formal das strengste Buch von Peter Weber, ganz der Lakonie und Ironie verpflichtet. Das hat, scheint mir, dazu geführt, diese Texte zu unterschätzen. Sie sind genau so reich an wunderbar verstiegenen Einfällen und originellen Motiven wie die ersten beiden, dazu sprachlich ungemein sorgfältig gearbeitet, kompakt und schlackenlos.

    Der Kosmos Bahnhof mit der grossen weissen Uhr als Ausgangs- und Fluchtpunkt für reale und Kopfreisen wird vom Untergrund bis zur Hallendecke anschaulich ausgelotet und zugleich transzendiert.

    Beispielhaft ist etwa die Geschichte der Glocke, die einst auf einem aufgezimmerten Glockenstuhl den sakralen Säkularbau Bahnhof hätte krönen sollen – ihres falsch eingeschätzten Gewichts wegen aber tief im Bahnhofsuntergrund versackte, wie Weber fabuliert und als Erkenntnis festhält..

    «dass nur gemeinsame höhere Ziele unsere Dächer öffnen»!

    Gut lässt sich an diesen Texten beobachten, wie dieser Autor sämtliche Sinne ins Spiel bringt und synästhetisch in seine Sprache einarbeitet. Etwa, wenn er eine neue Lautsprecher-Ansagerin charakterisiert:

    «Eine neue Stimme spricht Inseln, die Ansagerin lässt Abfahrtszeiten und Reiseziele in wunderlich eintönigen Satzschlaufen verlauten, Gleise, die sich weit auszweigen sollten, schmelzen zu Klumpen, Reiseziele klingen wir Zufluchtsorte, enden in einer brummenden Wolke. Nächste Station: EINTON möchte uns die Ansagerin einbläuen, wobei die Zischlaute gezähmt, die Vokale eigenartig erfüllt sind. Die junge Frau scheint vor dem Mikrophon in sich hinunterzureden, spricht näselnd Stirnen.»

    Oder – mir als Radiomann naturgemäss teuer – die mit «Mittelwelle» überschriebene Geschichte, wonach jeweils sonntagmorgens alte Ehepaare in der Halle auf kleinen Tischen hölzerne Radioapparate verkaufen – ja jene Kisten mit den wundersamen kleinen Leuchtanzeigen:

    «Grünlich oder bläulich zuckendes Fluidum in kleinen Röhrchen, sie zeigen die Senderstärke an. REIN ANALOG steht auf einem Schild geschrieben. Die alten Ehepaare haben nur wenige Geräte im Angebot, die Preise stiegen wöchentlich, da jeder sein privates Fluidum erstrebt. Bei den Wellenmenschen entsteht letzte Wärme, obwohl die Geräte sehr leise gestellt sind. Wenn man sich die Tische entlangbewegt, wechselt man Sphären und Welten, immer hört man kirchliche Musik, wobei nie klar ist, ob die bahnhofseigene Orgel mit im Spiel ist. Aus anderen Geräten kommen Hörspiele, Geschichten stricken sich über die Tischränder hinaus, oder eben schmeichelnde Musik, Sulzklösse, auf knisternden Mittelwellen tanzend, weit entfernt die hellen Gesänge der Gleise, in Fetzen die Ansagen, verweht. In einer Ecke läuft auf mehreren Geräten der tropische Sender,der nur Musik aus Afrika, Südamerika, der Karibik sendet, er nennt sich Morning Sun, die Bässe purzeln, binden heimkehrende Tanzende ein, die in kleinen Grüppchen mitzuwippen beginnen, ohne zu merken, dass sie mit ihren zuckenden Bewegungen im Halleninneren schwarzfechtende- Heere bilden.»

    Solche Miniaturen setzen das poetische Programm um, welches dem Erzähler in einem der letzten Kapitel von einer «Missionarin … so leise, dass ich genau hinhören muss» aufgegeben wird: «Man müsse kleines Leben suchen, vor den Kulissen, am Rand der grossen Ereignisse, im äusseren Quirl des eigenartigen Strudels, den wir Gegenwart nennen, in den Nischen und Winkeln, wo der Alltag nistet.» (ein Programm, das auch auf den von Weber jüngst mitgewürdigten grossen Dichter Gerhard Meier erinnert!)

    Wenige Seiten vorher hat der Erzähler schon seinen in die Zukunft weisenden Anspruch formuliert:

    «Ich aspiriere
    Ins Offene»

    Als Vorgriff aufs folgende Buch sind die letzten Sätze zu lesen, welche den Anfang aufnehmen und eine mirakulöse Ueberblendung von Bahnhofhalle und Sixtinischer Kapelle zelebrieren; in dieses Amalgam ruft der Erzähler, um die Geräuschwellen zu teilen zuletzt:

    «Ufer, analog, digital» – worauf der Marschall des Schweigens sich ihm zuwendet:
    «Diesmal bin ich erwischt worden. Man wird mich belangen», endet das Buch.

    Aus dem Abstand von 5 Jahren erscheint es geradezu bizarr, dass diese «Bahnhofsprosa» bei einem erheblichen Teil der Kritik durchfiel, derart, dass der erfolgsverwöhnte Verfasser von einer «etwas unwirtlichen literarischen Oeffentlichkeit» sprach und mutmasste:

    «Ein solcher Text scheint zu provozieren, rein formal», und weiter:

    Weil ich mich gewissen Trivialisierungstendenzen verweigert habe, sind offensichtlich Phantombilder entstanden.. ..Gefragt sind lineare, leicht zu erschliessende Texte.»

    Mit dem dieses Frühjahr erschienenen vierten Buch «Die melodielosen Jahre» muss unser Preisträger nun allerdings die letzten Zweifler überzeugt haben: Nur unsensible Schnelleser oder Leserinnen ohne Ohr für den schwarzen Schimmel Kunst können diesem Text die Anerkennung versagen.

    Wovon erzählen «Die melodielosen Jahre»? «Schwierig zu sagen», wäre wohl die Antwort des Verfassers selber, der sich zu recht gegen griffige Etikettierungen und smarte Abstracts verwahrt.

    Im neuen Band wird gar nicht erst eine unmittelbar zusammenhängende Geschichte fingiert – es handelt sich um ein Mosaik von Beobachtungen, Kurzgeschichten, Märchen, Motivblättern, Reiseberichten und schlank verdichteten, offen autobiografischen Reminiszenzen, gegliedert in 13 mit skurrilen Titeln überschriebene Kapitel.

    Peter Weber beschreibt die Epoche von 1989 bis heute, wie sie ein süchtiger Bahnreisender in vielerlei Gestalt aber identischem Kern erlebt. Die Ich-Figur löst sich nach flirrender Ueberblendung der Szenerie vom teebraunen Main zu Frankfurt nach Istanbul am Bosporus auf und macht Platz für eine Handvoll Stellvertreterakteure. Einer von ihnen heisst Oliver und sein Name erinnert nicht zufällig an Gulliver, mit dem er Neugier und Staunen und Fernrohrblicke auf fliegende Inseln teilt – ein anderer heisst schlicht O, weitere Inkarnationen der nur bedingt fiktiven Autorfigur heissen Mr. Please, in Erinnerung an Webers Atelieraufenthalt in London, oder der Mann mit dem blauen Pullover.

    Wie Gulliver wird der Reisende an immer neue Ufer – oder Bahnhöfe – geschwemmt, wobei ihn vor allem das im Osten neu entgrenzte Europa anzieht – Dresden, Prag, Warschau sind nur einige Stationen.

    Melodielosigkeit bezeichnet bei Weber die im Uebergang vom analogen zum digitalen Zeitalter aufgetretene Dominanz der monotonen Wiederholung, des stampfenden Rhythmus der elektronischen «Musik». Und diese Melodielosigkeit ist es, die sein genuines Medium gefährdet: die deutsche Sprache:

    «Mit der Ankunft des Monotonen und den so entstandenen Druck- und Betonungsverschiebungen in der Musik war ihm Deutsch nicht mehr geheuer. Die Sprache war umstellt, im Innersten berührt, durchwummert, durchblitzt …

    … Monotonie hiess die untergründige Umgestalterin, Melodien wurden lustvoll zermahlen, verschluckt, auch Sprachmelodien. Monotonie wirkte tief ins Sinngewebe ein.»

    Diesen Prozess der Monotonisierung bildet Webers Buch ebenso gekonnt und mit eigenen Wiederholungsmustern ab, wie er zugleich ihn reflektiert und auch gegen ihn anschreibt.

    Entscheidend ist aber auch hier die Erzählsubstanz. Die vordergründig losen Kapitel summieren sich zum unabgeschlossenen Porträt der Epoche, angereichert mit superb inszenierten Erinnerungen an Kindheit und Schulzeit.

    Ein besonderes Glanzstück bildet, das London-Kapitel, wo der Autor 1997 ein Atelier bezieht, sein «persönliches Wiederholungsexil» antritt und von den farbigen Kindern im Viertel bald Mr. Please genannt wird, weil er ihnen auf ihre Bitte «please, Mister, please» jeweils die Bälle in den umzäunten Schulhof zurückwirft. Er liest Jonathan Swifts «Gulliver» und pflegt schon bald täglichen Kontakt mit den sprechenden Pferden der berittenen Polizei. Sie sind es auch, die ihn aufmerksam machen auf Ungereimtes in der fernen Heimat: Die in dieses Kleid gewandete Satire Webers auf das heimattümelnde Engagement für den Toggenburger Dichter Ulrich Bräker, das sich ein im Buch bloss Mr. Billion genannter schwerreicher Chemie-Industrieller und Politiker – «bekannt als Lautsprecher der Sammelpartei der Aussereuropäischen» -1998 einiges kosten lässt, diese Satire liest sich köstlich vielschichtig – und steht, wie erwähnt, unter der Schirmherrschaft des Gulliver-Erfinders – eine Textstelle liesse sich auch als aktueller Kommentar zu helvetischen Steuerdiskussionen lesen:

    «Mr. Please richtete sein Fernrohr in andere Weltgegenden, auf eine Insel in Ozeanien, dort entdeckte er den Häuptling Meistesser. Der hatte unstillbaren Hunger, verschlang, was er konnte, wurde dicker und dicker, mächtiger und mächtiger. Je dicker er war, desto mehr wurde er von seinen Untertanen bewundert. Als es nichts mehr zu essen gab, frass er sein Volk auf. Dann seine Insel. Bis er selber gross wie eine Insel war, im Meer schwamm und neue Siedler anlockte, die auf seinem Bauch Städte bauten.»

    Was auffällt: Das sind keine Sprachwolkenballungen mehr, die aufeinandergetürmt werden, sondern prägnante Beschreibungen eines Phänomens.

    Zu den eindringlichsten Passagen gehören für mich jene, in denen Peter Weber, so direkt wie nie zuvor biografische Erfahrungen aufgreift. Die gerade drei Seiten, auf denen O über das Verfassen des Lebenslaufs für den verstorbenen Vaters berichtet sind berührendes Zeugnis der neuen produktiven Engführung des Erzählens von Peter Weber hin zu existentiellen Fragestellungen.

    Warum zeichnen wir heute Peter Weber mit dem Solothurner Literaturpreis aus?

    Peter Weber fängt in seinem Werk mit ausserordentlicher Musikalität, Einbildungskraft und Phantasie und in unverwechselbarer poetischer Prosa die Welt im Grossen und im Kleinen ein.

    Seine virtuosen Texte sind von magischem Zauber: Entstanden aus einer alle Sinne umfassenden, überwachen Wahrnehmung, verweben sie eigenwillig Klangdichtung mit den realen und fantastischen Wirklichkeiten von Biografie und Gegenwart.

    Mit geduldiger Konsequenz hat Peter Weber in den letzten 15 Jahren seine literarische Handschrift entwickelt und mit dem jüngsten Buch zu neuer Vollendung gebracht. Eine Handschrift, welche der deutschen Sprache lustvoll experimentierend eine Vielzahl neuer Töne und Bedeutungen entlockt, welche aus biografischem Material, luzider Beobachtung, der Umwelt, spielerischem Umgang mit literarischer Tradition und ungebärdiger Erfindung singuläre Texte geschaffen hat.

    Ueber vier Bücher hinweg behauptet sein Werk eine grosse Kontinuität und demonstriert doch in kleinen Veränderungen stete Entwicklung:

    Bleibend scheint Peter Webers Faszination:

    Dazu als Schlussakkord eine letzte Textprobe – so enden «Die melodielosen Jahre»:

    «Die Züge verkehren planmässig.

    So gelesen auf den neuen Fahrplanbildschirmen in der Schweiz. Kleinvögel warten in den Bahnhöfen, sie flattern kolibrigleich auf, wenn Züge ankommen, pflücken, zerstossene Mücken von den Schnauzen, um wieder in die Bildschirme zurückzutauchen. Die Gletscher schmelzen.
    Die Züge verkehren planmässig.
    Im Hafenbecken des Zürichsees überwintern die Schwäne eng beieinander. Hinter einemZaun, in schönster Uferlage. Ein Jungtier schwimmt hinaus, lässt graues Schwangeld ins Wasser, die Tropfen sinken ins klarste Blau, wölken sich trübend aus dabei. Die kleinen Silberfische, Fingerlinge, streiten sich darum, Schwarmfrass. Die Sonne scheint. Die Züge verkehren planmässig.»

    Und wir hoffen auf planmässig weiter erscheinende Texte von Ihnen, lieber Peter Weber.

    Herzlichsten Glückwunsch zum Solothurner Literaturpreis 2007 – auch im Namen von Christine Tresch und Beat Mazenauer, denen ich für die stets inspirierte Zusammenarbeit in der Jury ebenso danke, wie für den hilfreichen Support für diese Laudatio.

    Alle drei danken wir den Sponsoren des Preises für Ihr Engagement und für die Freiheit, in der sie uns arbeiten lassen. Schliesslich danke ich Beatrice Aebi für die Organisation des Anlasses und nicht zuletzt dem Maultrommler Anton Bruhin, einem Freund des Preisträgers, für die musikalischen Akzente.