Laudatio auf
Peter Stamm
Lieber Peter Stamm, meine Damen und Herren,
herzlich willkommen,
auch im Namen der Jury, denn neu bestimmen ja Lucas Gisi, Hanspeter Müller-Drossaart und ich den Preisträger des Solothurner Literaturpreises – wir haben die Plätze von Christine Tresch, Hansueli Probst und Beat Mazenauer eingenommen,
Hansueli und Beat begrüsse ich an dieser Stelle ebenfalls sehr herzlich.
Ich steige ein, indem ich kurz aus dem Nähkästchen plaudere – Sie können sich vermutlich in etwa vorstellen, wie so was läuft: Es gibt zahlreiche deutschsprachige Neuerscheinungen, durch die wir drei uns gewühlt – und gelesen haben. Der Solothurner Literaturpreis ist zwar ein Preis für ein Gesamt-Werk, aber als Faustregel gilt auch, dass ein aktuelles Buch des Autors oder der Autorin vorliegen sollte, das der Jury ihren Entscheid ein wenig erleichtern möge. Wir haben geredet, diskutiert, priorisiert – und waren uns – für uns alle drei eine unerwartete Begebenheit! – bei Peter Stamm sehr schnell sehr einig!
Nun werden Sie vielleicht sagen: «Peter Stamm – da hat es sich die Jury aber ganz schön einfach gemacht. Der ist etabliert, verkauft sich rasend, hat das alles sowieso nicht nötig. Wie langweilig.» – Kann man. Nur, wie immer im Leben ist alles viel komplizierter. Denn Peter Stamm zählt zu jenen deutschsprachigen Autoren, an denen sich die Geister lautstark scheiden, der den Gegenwind kennt – das wird er jetzt vielleicht ungern hören, denn das tut immer auch ein wenig weh. Er ist als Autor keineswegs unumstritten, seine Literatur polarisiert. Was lässt sich denn noch Besseres über Literatur sagen?
Keine Angst: Ich zitiere jetzt keinen Verriss (obwohl es davon auch welche gibt), ich berufe mich viel lieber auf unsere Jury-Begründung: Lucas Gisi, Hanspeter Müller-Drossaart und ich zeichnen Peter Stamm aus für ein Werk, das in der deutschsprachigen zeitgenössischen Literatur konsequent hervorsticht: Der «typische Stamm-Sound» – ein lakonischer und hochrhythmisierter Ton – zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Seine Themen sind vielfältig. Trotzdem blitzt immer wieder das Leiden an der Langeweile auf und der Traum von einem anderen Leben. Stamm wirft den Blick auf das Gewöhnliche und verleiht dem Banalen im Leben Sinn.
(Eine kleine Randbemerkung zu dieser Formulierung: Als wir unsere Begründung auf Facebook gepostet hatten, meldete sich Nora Gomringer mit grossem Einverständnis zu Wort – und einer kleinen Präzisierung unserer Begründung, weil sie die Sinnhaftigkeit irritiert hat, die wir drei Peter Stamm da ausgestellt hatten. Sie kommentierte: «Hm, Sinngeber finde ich schwierig. Er ist doch eher ein Re-Inszenierer von Wirklichkeiten, die dann – so genau dargelegt – Raum für Über-Sinnliches öffnen. Die Geister, die uns quälen, verfolgen und formen. Unsere ganzen nicht gelebten Lebensalternativen.» Soweit Nora Gomringer.)
Also auch hier wieder: Über Peter Stamm als Sinn-Geber lässt sich vielleicht streiten – über seine Meisterschaft in der «Re-Inszenierung von Wirklichkeiten», wie Nora Gomringer es nennt, nicht: Peter Stamm beherrscht das Spiel mit Parallelwelten und Möglichkeitsformen virtuos. So verwischt er ganz bewusst die Grenze zwischen Realität und Fiktion, zwischen Erlebtem und Erzähltem. Es ist die so erzeugte Magie, die uns als Lesende nicht loslässt.
Dazu eine weitere kleine Facebook-Anekdote – und dann kommen wir auch sofort zum Werk, versprochen. Als ich unsere Presse-Mitteilung auf Facebook gepostet habe, hat sich nicht nur Nora Gomringer zu Wort gemeldet. Ich erhielt auch eine Nachricht von Peter Stamm, den ich als «Person», mit der ich auf Facebook befreundet bin, markiert hatte. (Und vielleicht muss ich auch dazu sagen, dass das Profil-Bild eine schöne junge Frau zeigt…) In dieser Nachricht schrieb Peter Stamm folgendes:
«Liebe Nicola, wie immer in solchen Fällen lösche ich die Markierung und ergänze: Ich bin nicht dieser Peter Stamm. Die Welt ist klein und so teilen wir uns einige Bekannte, auch im richtigen Leben. Ich mag Ihre Arbeit ganz gerne, würde aber verstehen (mit Bedauern), wenn dieser Vorfall unsere FB-Freundschaft beenden würde. Liebe Grüsse, Peter Stamm»
Ein Doppelgänger? Ein Peter Stamm, der nicht «echt» ist? Oder zumindest ein anderer? Was für ein seltsam anmutendes Moment, dass hier plötzlich ein zentrales Motiv aus Peter Stamms – des Autors – Werk Eingang in die virtuelle Realität gefunden hat.
Und mit diesem kleinen Ausflug in Parallelwelten bin ich nun tatsächlich beim Werk angekommen.
Zwanzig Jahre lassen sich in der kurzen Zeit heute Vormittag nicht angemessen würdigen. Deshalb ein paar Stichproben ins grosse Werk Peter Stamms:
Am 14.4.1998, also vor genau zwanzig Jahren (und ein paar Tagen), bekam Peter Stamm einen Anruf von der Verlegerin Elisabeth Raabe, in dem sie ihm mitteilte, dass sie seinen ersten Roman «Agnes» im Arche Verlag veröffentlichen werde. (Da hatte er andere Roman-Projekte – «Ein Traum von Stein», «Schmerz» oder «Faule Blüten» die Titel – sowie einen Kriminal-Roman (mit dem Titel «Was will dieses Graun bedeuten» nach Joseph von Eichendorff) schon auf Eis gelegt, oder vielmehr in die Schublade zurück.)
Noch im selben Jahr konnte man das Buch aufschlagen, und da stand (ein legendärer Anfang!): «Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet. Nichts ist mir von ihr geblieben als diese Geschichte.»
Und diese Geschichte schlug ein! Der damals 35-jährige Autor avancierte bei der Kritik und beim Publikum über Nacht zum Shooting Star einer jungen Schweizer Literatur – in Baden-Württemberg war der Roman in den letzten Jahren sogar Schulstoff.
An den Plot werden Sie sich vermutlich alle erinnern (inzwischen ist das Buch ja auch verfilmt): Ein junger Mann, der an einem Buch über amerikanische Luxuseisenbahnwagen arbeitet, lernt in der Chicago Public Library die Physik-Doktorandin Agnes kennen. Die beiden werden ein Paar, doch als der Ich-Erzähler die Geschichte ihrer Liebe schreiben will – oder vielmehr: von Agnes dazu ermuntert wird, beginnt sich die Fiktion nach und nach von der Wirklichkeit zu lösen und ihren eigenen Gesetzen zu folgen. – Mit fatalen Folgen für die Wirklichkeit (in der Fiktion wohl bemerkt).
Vielleicht kennen Sie, meine Damen und Herren, das Gefühl, das Agnes an einer Stelle des Buches beschreibt, ja auch. Da heisst es: «Ich bin immer traurig, wenn ich ein Buch zu Ende gelesen habe. Es ist, als sei ich zu einer Person des Buches geworden. Und mit der Geschichte endet auch das Leben dieser Person. Aber manchmal bin ich auch froh. Dann ist das Ende wie die Befreiung aus einem bösen Traum, und ich fühle mich ganz leicht und frei, wie neugeboren.»
Mit dem Ineinandergreifen von Leben und Literatur hat Peter Stamm das Thema gefunden, das ihn durch sein ganzes Werk begleiten und immer neu herausfordern wird.
An anderer Stelle sagt Agnes: «Ich frage mich manchmal, ob die Schriftsteller wissen, was sie tun, was sie mit uns anstellen.» – Auf diese Frage gibt Peter Stamm in seinen Bamberger Poetik-Vorlesungen aus dem Sommersemester 2014 eine Antwort, und zwar folgende: «Schreiben beinhaltet ein gewisses Mass an Leid, aber auch die Freude des Gelingens. Man kann durchaus süchtig danach werden, mit Worten eine Art Wirklichkeit zu erschaffen, Figuren zu kreieren, sie zu beobachten, zu lenken, ihnen Dinge zustossen zu lassen und sie zu retten oder zu bestrafen. «Gott spielen, während andere arbeiten», hat das Chrigel Fisch, ein Kollege von mir (also von Peter Stamm) einmal genannt.»
Auch wenn eigentlich schon alles in den zitierten ersten drei Sätzen von «Agnes» steht, findet sich bereits in diesem ersten Roman kein Wort zu viel. Ursprünglich als Erzählung konzipiert, wird daraus paradoxerweise durch das Wegstreichen von Kommentaren des Erzählers ein Roman. Damit ist ein künstlerisches Verfahren geboren, das zum Markenzeichen von Stamms Büchern wird: die Verdichtung durch Reduktion.
Frei nach Tucholsky formuliert: Über Peter Stamm ist eigentlich schon alles gesagt – aber noch nicht von mir. Ich verweise in diesem Zusammenhang gern auf einen Sammelband mit dem Titel «Sprechen am Rande des Schweigens», der zahlreiche wissenschaftliche Texte zu Peter Stamm und seinem Werk versammelt. Sehr zu empfehlen für alle, die bereits ALLES von Peter Stamm gelesen, gesehen, gehört haben – sämtliche Romane, Erzählungen, Theater-Stücke, Hörspiele, Artikel, Jugend-Buch-Adaptionen wie Heidi oder den Schweizerischen Robinson und Groschen-Romane (ja, auch die finden sich im Repertoire des Autors, allerdings unter Pseudonym – die können Sie vermutlich nur lesen, wenn Peter Stamm es auch will).
Lassen Sie es mich mal aus meiner ganz un-wissenschaftlichen Leserinnen-/Literatur-Journalistinnen-/Jury-Vorsitzenden-Sicht sagen:
Peter Stamm schafft es, uns mit seiner schlanken Prosa Geschichten von Menschen zu erzählen, die sich in ihrer Welt nicht zu 100% zu Hause fühlen und die gleichzeitig immer auch befürchten, das Leben könnte an ihnen vorbeiziehen. Sie fragen sich: Leben wir unser eigenes Leben oder «werden wir gelebt»? Und vielleicht ist alles auch nur Einbildung, vielleicht ist alles ein bisschen oder auch vollkommen anders?
Peter Stamms Figuren sind oft Menschen mit einem Unbehagen – an sich, an anderen, an der Welt überhaupt. Menschen, die Krisen durchleben, die Momente des Scheiterns, der Entwurzelung, der Fremdheit erleben – alles existentielle Situationen, die aber nie pathetisch aufgeladen sind, sondern oft ganz behende wie mit einem Achselzucken aufgelöst werden. Manchmal bekommen wir Lesende dieses Achselzucken gar nicht richtig mit, da ist es vielleicht eher ein Heben der Augenbraue. Aber etwas passiert, und hinterher ist nichts mehr, wie es vorher war.
Warum beispielsweise Werner sich in der Erzählung «Treibgut» von seinem Selbstmord abbringen lässt, können wir nur vermuten. Klar, da ist diese rätselhafte Lotta, mit der er plötzlich abhaut, aber trotzdem: In vielen Erzählungen tut sich unversehens eine Leerstelle auf, die von uns nicht immer gleich gefüllt werden kann. Das kann frustrierend sein, denn hier wird man als Lesende bisweilen auch allein gelassen, aber so ist das nunmal bei Peter Stamm: Nichts liegt dem Autor ferner, als uns Lesern die Welt zu erklären. Sein Schreiben ist kein Frage – und Antwort-Spiel, sondern ein Frage – und Frage-Spiel. Wer Antworten sucht, sollte lieber die Finger von seinen Büchern lassen.
(Nora Gomringer würde jetzt vielleicht ergänzen: Und wer Sinn sucht, ebenfalls.)
Dabei schreibt er seinen Figuren eine Tiefe ein, ohne psychologisch zu werden – gerade so viele Pinselstriche setzt er, dass man die Person schemenhaft erkennen kann. Widersprüche bestimmen Stamms Erzählen. So fesselt uns Lesende in «Agnes» beispielsweise gerade die Kälte, mit der die verstörende Alltäglichkeit des Beziehungslebens geschildert wird, und die Figuren kommen uns ausgerechnet durch ihre geheimnisvolle Unzugänglichkeit nahe.
Oder Kathrine in «Ungefähre Landschaft», das beunruhigend faszinierende Porträt einer jungen Frau in schwebender Ambivalenz zwischen Sinnsuche und beinahe trotziger Entwertung. Knapp und zurückhaltend, ja: fast zögerlich umfängt Peter Stamms Sprache das Dasein dieser jungen Frau, die uns immer wieder mit ihrer Vitalität und Intelligenz einerseits und andrerseits mit ihrer scheinbaren Antriebslosigkeit überrascht. Mit prägnanter Wortwahl und Verdichtung verunsichert der Autor nachhaltig unsere gewohnten Lesemuster und Bewertungshaltungen Romanfiguren gegenüber. Lesen kann eigene Gewissheiten aufbrechen. Das führt uns Peter Stamm immer wieder vor Augen. (Noch einmal: Was lässt sich Besseres über Literatur sagen?)
Kathrine also lebt in einem kleinen norwegischen Dorf nördlich des Polarkreises. Das Leben dort ist geprägt durch die Eintönigkeit der rauen Natur. Ich zitiere: «Man traf sich im Fischerheim oder im Pub, im Elvekro. Man trank Tee und Kaffee und erzählte sich Geschichten. Man trank Bier, bis man die Dunkelheit vergessen hatte.»
Kathrine ist jung, 28, alleinerziehend, tagsüber bringt sie ihren Sohn Randy zu ihrer Mutter, damit sie arbeiten kann. Sie kontrolliert im Hafenzoll die eingelaufenen Schiffe auf Schmuggelware. Dabei lernt sie verschiedene Männer kennen: den russischen Kapitän Alexander, den dänischen Ingenieur Christian, und Thomas, den Produktionschef einer Fischfabrik, den sie schliesslich heiratet. Im Stamm´schen Sound klingt das so: «Thomas wusste, was er wollte. Als er anfing, vom Heiraten zu sprechen, hatte Kathrine noch nicht einmal daran gedacht. Sein Leben war ein Strich durch die ungefähre Landschaft ihres Lebens.»
Doch eines Tages entdeckt Kathrine, dass Thomas’ Leben auf einer grossen Lüge beruht. – Um es kurz zu machen: Alles endet gut, biblisch gewissermassen, wiederum mit einem anderen Mann an Katherines Seite. Am Ende heisst es: «Später kauften sie eine Wohnung, dann ein Haus. Sie wohnten in Tromsø, in Molde, in Oslo. Randy fuhr in die Ferien zur Grossmutter ins Dorf. Er kam zurück. Es wurde Herbst und Winter. Es wurde Sommer. Es wurde dunkel, und es wurde hell.»
Die Beispiele, die ich hier zitiere, zeigen es stellvertretend fürs Werk: Alles andere als geschwätzig ist Stamm in seinen Texten. Präzise, prägnant und mit nüchternem Realismus setzt er seine Figuren und Handlungsorte. Sehr ökonomisch für uns Lesende (bei anderen Autoren wären die Romane und Erzählungen um ein Vielfaches länger), allerdings darf man einen grossen Schreib – und einen noch viel grösseren Streich-Aufwand vermuten, denn so rhythmisch und verdichtet zu erzählen, das schüttelt keiner mal eben so aus dem Handgelenk. «Das Einfache, das ist auch das Schwere», hat der grosse Goethe gesagt.
Natürlich liegt bei einem Autor wie Peter Stamm, der in seinem Werk so ausgiebig mit Realität und Fiktion spielt, immer auch die Frage nach dem autobiographisch grundierten Schreiben nahe. Er selber leugnet das – wie sich das für jeden anständigen Autor gehört. In seinen bereits erwähnten Bamberger Poetik-Vorlesungen kann man es nachlesen, da sagt er über seine ersten literarischen Anfänge in jungen Jahren:
«Da sowohl die Berufsschule als auch mein Lehrbetrieb nur wenige hundert Meter vom Haus meiner Eltern entfernt waren, wohnte ich, bis ich neunzehn Jahre alt war, zu Hause. Irgendwann während der Lehre muss ich angefangen haben, meine ersten literarischen Texte zu schreiben. Mein bisheriges Leben war so ereignislos und formlos gewesen, dass ich dabei – und bis heute – nicht auf die Idee kam, meine Biographie als Material zu verwenden.»
Zum Schluss noch ein paar wenige Worte zu seinem aktuellen Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», aus dem Peter Stamm nachher eine Passage lesen wird. Denn hier nimmt Peter Stamm eine Bewegung auf, die er mit «Agnes» begonnen hatte (und die natürlich auch in anderen Texten immer wieder aufblitzt): die unauflösbare Verschränkung zwischen Realität und Fiktion. (Ich hab mich beim Wieder-Lesen und Neu-Lesen seiner Texte oft gefragt: Ist das jetzt nicht gerade ein leiser Protest des Autors Peter Stamm gegen die Wirklichkeit?)
Der Schriftsteller Christoph hat in seinem Leben einen einzigen Roman geschrieben – und der war auch erfolgreich. Als er zu einer Lesung in sein Heimatdorf eingeladen wird, begegnet er im Hotel, in dem er untergebracht ist, einem jungen Mann, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist, einem Doppelgänger, der darüber hinaus auch noch Chris heisst. (Willkommen in der Matrix.)
«Endlich hörte ich eine Tür knallen und sah kurz darauf Bewegung im Flur, die innere Glastür ging auf, und ein junger Mann kam auf mich zu. Während er am Schloss herumhantierte, sah ich sein Gesicht neben der Spiegelung meines eigenen, aber erst als er mir die Tür aufhielt, erkannte ich, dass er ich selbst war.»
Diese Begegnung verfolgt Christoph sein ganzes Leben – bis er viele Jahre später Kontakt aufnimmt zu Chris’ Freundin Lena. (Ebenfalls eine junge Version von Christophs ehemaliger Freundin Magdalena.) Also: zwei Helden, die dasselbe Leben führen, um 30 Jahre versetzt. Komplizierter will ich es gar nicht machen, denn Sie sehen schon (und auch die zitierte Passage verweist darauf): Peter Stamm legt uns hier ein Spiegelkabinett vor, das die grosse Frage nach Schicksal oder Kontingenz (also Zufall) verhandelt und das Thema Individualität.
Peter Stamm bleibt sich auf seinem literarischen Weg treu – und auch wenn er sich bedachtsam fortbewegt, steht er nie still. Es ist ein Weg, den wir Leser – namentlich Hanspeter Müller-Drossaart, Lucas Gisi und ich – seit zwanzig Jahren mit ihm gehen dürfen, ohne immer die Richtung zu kennen. Manche seiner Werke begleiten uns stärker, manchmal entfernt sich der Autor von uns. Zahlreiche seiner Bücher tragen dieses Moment der Bewegung im Titel: «Wir fliegen», «Der Lauf der Dinge» (darin sind alle seine Erzählungen versammelt), «Weit über das Land», ja sogar seine Bamberger Poetik-Vorlesungen «Die Vertreibung aus dem Paradies».
Ich möchte das Spiel mit Titeln nicht ausreizen, trotzdem nenne ich drei weitere Bücher: «An einem Tag wie diesem», «Nacht ist der Tag», «Sieben Jahre». – Das sind gewissermassen alles Zeitangaben. Das schonungslose Vergehen der Zeit – ich erinnere an das Ende von «Ungefähre Landschaft»: «Es wurde Herbst und Winter. Es wurde Sommer. Es wurde dunkel, es wurde hell.» –, das schonungslose Vergehen von Zeit ist nur eines der zentralen Motive seines weitläufigen Schaffens, das die ganz grundlegenden Fragen unseres Seins stellt.
In diesem Sinne blicken wir gespannt und frohen Herzens auf die nächsten zwanzig Jahre!
Ganz herzlichen Glückwunsch, lieber Peter, zum Solothurner Literaturpreis 2018!