• Die
    Ankündigung
  • Der
    Preis
  • Die
    Preisträger*innen
  • Die
    Preisverleihung
  • Die
    Jury
  • Das
    Pressematerial
  • Der
    Kontakt
  • Laudatio auf

    Peter Bichsel

    Hans Ulrich Probst, 4. Juli 2011

    Lieber, verehrter Peter Bichsel,
    Meine Damen und Herren,

    Es ist durchaus ein spezieller, ein grossartiger Moment in der Geschichte dieses vor 20 Jahren erstmals verliehenen Preises, wenn wir heute Peter Bichsel auszeichnen.

    Für mich ein so beglückender, wie heikler Moment! Was lässt sich denn über den Preisträger, der das Schweizer Literaturschaffen der Gegenwart wie kein zweiter prägt, noch sagen, was er selbst nicht längst besser formuliert hätte?
    Hören Sie also gleich ein paar kurze Sätze:
    «Ein Schriftsteller ist einer, der immer wieder Dinge erfindet, die es bereits gibt.»
    «Ausprobieren, wie es wäre, wenn es nicht so wäre, wie es ist.»
    «Der Mensch wäre nicht überlebensfähig ohne Geschichten»
    «Wer keine Neigung zur Traurigkeit hat, der ist für die Literatur verloren.»
    «Die Vorstellung, dass Zebras hornlose Nashörner sind, gefällt mir.»

    Das sind lauter Bichsel-Sätze und über jeden einzelnen von ihnen liesse sich so lange sprechen wie mir insgesamt Redezeit zusteht. Peter Bichsel ist ein Dichter von fabelhaften Sätzen, jeder hat seinen Rhythmus, seinen Bichsel-Tonfall. Das ist schnell gesagt, aber es ist tatsächlich so.

    Diese Sätze kommen so einfach daher – das zögernde, langsame Aussprechen, wie es den Autor kennzeichnet, hören wir gleichsam mit – aber leicht wird dabei unterschätzt, wie präzise vorgedacht die Wörter in ihnen zueinandergefügt werden.
    Jede und jeder von uns kennt Sätze wie die eben gehörten, jeder hat «seinen Bichsel» im Kopf und im Ohr.

    Und so lade ich sie ein zu einer Reise zu meinen persönlichen Lieblingssätzen aus gut 40 Jahren Bichsellektüren.
    Der Solothurner Literaturpreis war von Anfang an als internationaler Preis für herausragende Literatur aus dem ganzen deutschen Sprachraum konzipiert.

    Heute ehren wir mit Peter Bichsel einen Weltautor – einen Autor, der mit seinen poetischen Texten tief in den helvetischen Alltag eindringt und von den wunderlichen Windungen und Wendungen des Lebens und des Universums klar, poetisch, und zutiefst human erzählt!

    Erzählen ist für Peter Bichsel existenziell mit dem Überleben unserer Gattung verknüpft.
    Das hat er vor einem Jahr unnachahmlich formuliert – auf einer Bahnreise natürlich …

    «Ich bin wirklich überzeugt:», sagt Bichsel, «Der Mensch wäre nicht überlebensfähig ohne Geschichten, und Geschichten sind keine Geschehnisse und es sind keine Tatsachen, und Geschichten haben weder mit Sensationen noch mit Pointen zu tun, Geschichten sind wie das WauWau eines Hundes, der hat es gut, der kann für alles, wenn er sich freut, WauWau machen.
    Wir armen Menschen, wir müssen, wenn wir WauWau machen wollen, müssen wir Worte dafür finden, die man dem WauWau unterlegen kann, und das Worte -Suchen, die man dem WauWau unterlegen kann, das ist Erzählen, das ist Erzählen.
    Das Leben ist auch immer dasselbe und es ist immer ein bisschen Scheisse halt, und da gibt es nicht viel mehr dazu zu sagen als: so ist es halt. Und Liebe ist halt so. Und da hilft nur erzählen. Man kann das Leben nicht beschreiben, man kann es nur erzählen.»

    Soviel zur Einstimmung – auch im mündlichen Duktus sind die Musikalität, der feine Humor und die Anschaulichkeit von Bichsels Sätzen sofort erkennbar.

    Kurz fassen kann ich mich, was den Lebenslauf unseres Preisträgers angeht. Er dürfte Ihnen im Wesentlichen vertraut sein. Der Autor hat zudem stets eine angenehme, unzeitgemässe Diskretion im Privaten gewahrt – und schliesslich lesen wir in einer seiner Kolumnen:
    «Es ist mir peinlich, eine Biographie anhören zu müssen, die zwar die meine ist, die mir aber fremd vorkommt». Dazu ein Aperçu: In seinem «das Lager» genannten Arbeitsraum an der hiesigen Hauptgasse 32 hängt, unübersehbar ein Blatt mit dem Satz: «Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber zu benehmen, als kennte er mich.» –
    Ein Satz von Robert Walser, der zur Vorsicht mahnt. Am selben stimmungsvollen Ort hängt ein weiterer Satz an der Wand:
    «Die Erfahrung ist immer die Parodie der Idee», ein Satz von Goethe – und Peter Bichsel ist stets auf der Seite der Ideen, der Imagination, einer der in Fragen lebt, nicht in Antworten. Und zuallerst in Geschichten.

    Meine Geschichte als Leser von Peter Bichsel beginnt 1969 als junger, auch an Kinderliteratur interessierter Student. Das schmale Bändchen mit einem SBB-Zug samt Re 4/4-Lokomotive auf dem Umschlag, wie sie eben noch als Spielzeug in meinem Jungenzimmer gefahren war, elektrisierte mich – lauter Geschichten von alten, kinderlosen Käuzen, welche sich mit der vorgefundenen Realität nicht zufrieden geben, eigensinnig, rebellisch. Faszinierend und vielschichtig sind sie alle – nicht ohne Komik, doch durchtränkt von sanfter Trauer. Vom lautmalerischen «Onkol Jodok word ons bosochon, or ost on goschotor Monn, wor roson morgon zom Onkol» bis zum witzig-verwirrenden »Ein Tisch ist ein Tisch» mit seinem Vertauschen von Bezeichung und Bedeutung, einer Geschichte, die keineswegs lustig endet, denn am Schluss wird der Mann nicht mehr verstanden und verstummt.
    Das Wunder beim Wiederlesen dieser alterslosen Texte, welche Kinder und Erwachsene ebenso fesseln, das Wunder ist, wie genau und raffiniert sie formal und inhaltlich gebaut sind, und wie scheinbar schlicht und eingängig sie zunächst wirken: Peter Bichsel hat im Erfinder, der lauter Dinge erfindet, die es schon gibt, ein geniales Bild für die Arbeit des Schriftstellers «erfunden», und dieser weiss …

    «auch Sachen, die es gibt, zu erfinden, ist schwer, und nur Erfinder können es.»

    Mir am liebsten ist über all die Jahre die Geschichte vom «Mann, der nichts mehr wissen wollte» geblieben:
    «Das ist schnell gesagt», nichts wissen wollen, heisst es dort, doch das Unterfangen ist so leicht nicht, denn der Mann merkt, dass er erst wissen muss, was er nicht wissen will, um es vergessen zu können. So häuft er unentwegt neues Wissen an und eines Tages kauft er ein Buch über das Panzernashorn.

    Lassen Sie mich die Fortsetzung vorlesen:
    «Und das Panzernashorn fand er schön.
    Er ging in den Zoo und fand es da, und es stand in einem grossen Gehege und bewegte sich nicht.
    Und der Mann sah genau, wie das Panzernashorn versuchte zu denken und versuchte etwas zu wissen, und er sah, wie sehr ihm das Mühe machte.
    Und jedesmal, wenn dem Panzernashorn etwas einfiel, rannte es los vor Freude, drehte zwei drei Runden im Gehege und vergass dabei, was ihm eingefallen war, und blieb dann lange stehen – eine Stunde, zwei Stunden – und rannte, wenn es ihm einfiel, wieder los.
    Aber weil es immer ein kleines bisschen zu früh los rannte, fiel ihm eigentlich gar nichts ein.
    ‹Ein Panzernashorn möchte ich sein›, sagte der Mann, ‹aber dazu ist es jetzt wohl zu spät.›
    Dann ging er nach Hause und dachte an sein Nashorn.
    Und er sprach von nichts anderem mehr.
    ‹Mein Panzernashorn›, sagte er, ‹denkt zu langsam und rennt zu früh los, und das ist recht so›, und er vergass dabei, was er alles wissen wollte, um es nicht mehr wissen zu wollen.»

    Nach dieser fulminanten ersten Begegnung mit Bichsels «Sätzen» habe ich auch die ersten Bücher, «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» und «Jahreszeiten» gelesen – eindrücklich der innovative, sprachkritische Ansatz, die Lakonie, mit der von Rissen im Kleinbürger-Alltag, und auch schon von der Wehmut angesichts der Vergänglichkeit erzählt wird. Unvergesslich der aufgeschlitzte Teddybär in der Geschichte «Holzwolle»:

    «In Schneemännern muss es auch etwas haben.
    Man wird es nie finden. Sobald man es sucht, ist der Schneemann keiner mehr.
    So wie der Teddybär keiner mehr war.
    Teddybären haben viel treuere Augen als Hunde»

    Ebenso teuer ist mir die Geschichte «Löwen», das fast archetypische Porträt eines Grossvaters, der sich trinkend langsam aus dem Leben schleicht – «er war tot geworden» heisst es treffend. Ein ganzer Lebensroman auf drei Seiten!

    Nach den «Kindergeschichten» brauchte ich als Liebhaber belletristischer Bichsel-Sätze Geduld. Im gleichen Jahr wie die »Kindergeschichten» aber erschien »Des Schweizers Schweiz», Bichsels in sanftem Klartext verfasste Kritik an der reaktionären und selbstgerechten Schweiz in Buchform – ebenfalls ein unverwüstlicher Text – Zeitdokument und zugleich weiter hochaktuell. Vor 42 Jahren, bei der Entgegennahme eines Förderpreises des Kantons Solothurn, sagte der Autor es so:

    «Das Gefühl, das ich bei politischen Diskussionen in unserer Öffentlichkeit bekomme, bei diesen Leisetretereien, beim dauernden Vertuschen, Beschwichtigen, das Gefühl heisst Angst. Ich halte es für meine Aufgabe, dem Bestehenden Schwierigkeiten zu machen, denn nur Schwierigkeiten veranlassen die Veränderung.»

    Folgerichtig dominierte in den Jahren danach die politische Essayistik – unvergessen die Arbeit für den sozialdemokratischen Solothurner Bundesrat Willi Ritschard. Beides zusammen, die in einer ganz neuen Sprache entwickelte, unwiderlegbare Kritik an den helvetischen Verhältnissen und die universale Gültigkeit der poetischen Entwürfe in »Milchmann-« und «Kindergeschichten», zusammen haben sie Peter Bichsels Ruhm begründet.

    1985 erschien dann der Erzählband «Der Busant. Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone.» Er beginnt mit der witzig-bissigen «Solothurner Operette» «Der Busant», zu der ich mich als Nicht-Solothurner vor Solothurnern zu äussern gewiss hüten werde.

    Meine Lieblingsgeschichte in diesem Buch, das mir fast exakt vor 25 Jahren die erste persönliche Begegnung mit unserem Preisträger ermöglichte, ist «Eine Erklärung an den Lehrling von Prey». Darin stellt der Autor wiederum einen liebenswürdigen Kauz ins Zentrum, er nennt ihn «Professor Ingol Habertruber»; ein «Meister des Halbwissens», der kein einziges Buch hinterlassen, aber sich unentwegt Fragen gestellt» habe. Wie im »Erfinder» begegnen wir hier einem verkappten Selbstporträt des Erzählers, wenn es vom skurrilen Habertruber heisst:

    «Das Leben Ingol Habertrubers war von Anfang an zu kurz, als dass es seinen Bedarf an Vergangenheit hätte decken können. Seine Gegenwart war Erzählen.»

    Bei diesem Erzählen, zu dem er meist mit der Wendung «kürzlich» oder «übrigens» anhebt, hat Habertruber einen Lehrling, der ihm einfach nur zuhört, denn:

    «Er hatte gelernt, den Augenblick des Erzählens jedem Wissen und jeder Brauchbarkeit vorzuziehen» und auch, «dass im Halbwissen alles Frage ist.»

    Und erneut begegnen wir dem Panzernashorn:

    «Die Vorstellung, dass Zebras hornlose Nashörner sind, gefällt mir.
    Das erste Nashorn auf dem europäischen Kontinent übrigens war nur ganz kurz zu sehen. Es fiel beim Auslad im Hafen von Lissabon ins Wasser und ertrank.
    Nun, Habertruber interessierte sich nicht für Zoolo›.gie, nicht für Botanik oder Biologie. Er beschäftigte sich viel mehr mit Naturkunde, nämlich mit der Kunde von der Natur. Er wollte nichts von ihr wissen, sondern etwas von ihr hören. So wurden für ihn die Nashörner eine europäische Angelegenheit.
    Gleichzeitig machten dem Habertruber Kühe einen recht exotischen Eindruck. ‹Ich mag sie sehr›, sagte er, ‹aber die sind nicht von hier›. Und erst die Geschichte von jenem Bauernbuben, der später ein bekannter Löwenbändiger wurde, und der zu Hause mit den Kühen heimlich Dressurnummern einübte, erst diese Geschichte machte Kühe für Habertruber wieder zu erwähnenswertem Wissen.»

    Solche, aus einem verblüffenden Einfall entwickelte Szenen, welche der Verfasser in schillernde Seifenblasen verwandelt, die dann unsere Phantasie wecken, solche Miniaturen sind zum Markenzeichen Peter Bichsels geworden sie zu lesen und wiederzulesen beglückt mich jedes Mal neu.

    Acht Jahre nach dem «Busant», hat Peter Bichsel mit «Zur Stadt Paris» wohl nicht nur aus meiner Sicht sein Meisterwerk der kurzen Form vorgelegt, eine Form, die nicht er, sondern die ihn gewählt hat.

    Bichsel liebt als Leser lange Romane, Joseph Conrad, Jean Paul, Goethes «Wilhelm Meister» begleiten ihn seit Jahrzehnten, als Autor freilich weiss er:

    «Man muss täglich mit seinen eigenen Unmöglichkeiten umgehen».

    Die Titelgeschichte des Bandes, der 48 Texte auf 108 Seiten enthält, und eine Art Summa von Peter Bichsels elliptischem Erzählen mit grossem Hallraum bildet -, die Titelgeschichte umfasst keine zwanzig Worte und lautet:

    «Sehnsucht
    In Langnau im Emmental gab es ein Warenhaus. Das hiess Zur Stadt Paris. Ob das eine Geschichte ist?»

    Die Geschichte von der Sehnsucht hat Bichsel einmal «unsere einzige» genannt. «Wenn sie uns diese Geschichte nehmen sind wir tot.» Sehnsucht, Zeit, Vergänglichkeit, das sind die Themen dieser im Gewöhnlichen und Gewohnten verankerten Geschichten.
    Mein Lieblingstext aus diesem Buch ist: «Die Hemden», auch keine drei Dutzend Wörter lang – ein Text, der durch die Auslassungen, das Nichterzählte den Lesenden Empathie und Reflexion erlaubt:

    «Die Hemden
    ‹Wenn du mal stirbst›, sagt sie, ‹werde ich deine Hemden nicht weggeben.
    › Seine Hemden sind swissairblau.
    ‹Ich mag es, deine Hemden zu bügeln›, sagt sie.
    ‹Ich möchte vor dir sterben›, sagt sie.
    Swissairblau war damals eine Farbe.»

    Es scheint mir unmöglich, von dieser grossen Liebesgeschichte im Unscheinbaren nicht berührt zu werden. Ein Prosagedicht beinahe, Ode und Elegie.

    Die schlackenlose Schönheit dieser Prosa, die gelungene Balance von Schmerz und Freude, ferner die menschliche Wärme, mit welcher der Verfasser seine Figuren ausstattet – phänomenal!

    Als Leser dieses Buchs hält man es wohl mit dem «Erzähler» auf dem Markt der in der gleichnamigen Geschichte auf die Frage eines Kindes,
    «ob er lieber lustige oder traurige Geschichten erzähle»,
    antwortet:

    «‹Wenn ich es unterscheiden könnte, dann möchte ich lieber traurige erzählen.›»

    Besser kann ich den Ort von Bichsels Erzählposition nicht fixieren.

    Nach «Zur Stadt Paris», diesem superben Kompendium des Erzählens folgte Anfang 1999 Bichsels bisher letzte rein literarische Publikation: «Cherubin Hammer und Cherubin Hammer» ihr geheimnisvoller Titel. Mich hat verblüfft, mit wieviel Schalk und Augenzwinkern der Autor in diesem Buch sein Spiel um die Fragen: Was ist eine Biografie? und wiederum: Was ist eine Geschichte? betreibt: Alte Fragen, die Bichsel nicht eigentlich beantwortet, sondern mit federleicht hingetuschten Skizzen und funkelndem Fabulieren vom Tisch zaubert. Abgesehen von der ruhigen Schönheit seiner unangestrengten hochmusikalischen Prosa liegt der Reichtum dieses Werks in seiner Offenheit, welche den Lesenden als Co-Autor mobilisiert. Ein flirrendes poetisches Kunstwerk voller Humor mit vielen offenen und versteckten literarischen Referenzen.

    Seit diesem doppelten Engel Cherubin hat Peter Bichsel «NUR» (in fetten Anführungszeichen) Kolumnen veröffentlicht – und regelmässig aus den seit kurzem wenigstens als Hörbuch vorliegenden »Transsibirischen Geschichten» vorgelesen.
    Bevor wir uns dem Kolumnen-Gebirge zuwenden, das des Verfassers stete Rede, er sei ein «fauler« Autor, Lügen straft – (hiezu nur beiseite: das Verzeichnis der lieferbaren Bücher führt rund 50 Titel von Bichsel auf – bis heute schreibt er Monat für Monat regelmässig seine Kolumne für die ‹Schweizer Illustrierte›, die letzte vor zwei Wochen galt dem 95jährigen Beizgenossen Otto, dem die Geschichten abhandenkommen, weil die Mittrinker und Zuhörer zu jung geworden sind und sie galt auch der Freude an der Sportberichterstattung als Reservat des Erzählens, neuerdings im Internet-Liveticker , wo Bichsel die Tour de France, «das schnelle Ereignis mit dem langsamen Erzähler» geniessen wird.)

    Vor den Kolumnen möchte ich von einem früheren Text reden, der mir, wie kein anderer, die Prämissen und Impulse von Bichsels Schreiben aufgezeigt hat. Es sind seine Poetik-Vorlesungen «Der Leser, das Erzählen», 1982 in Frankfurt vorgetragen.
    Was sich in dieser nun fast 30 Jahre alten Fundgrube der Vorlesungen findet, ist aufregend. Wie immer formuliert Bichsel behutsam listig, prägnant:

    «Geschichtenerzählen ist Umgehen mit der Zeit, und dass wir unser Leben als Zeit erleben, hat damit zu tun, dass unser Leben endlich ist und auch damit, dass das Leben unserer Freunde endlich ist.
    Was bleibt, ist die Traurigkeit über die Endlichkeit.
    Die selbstverständliche Traurigkeit der Menschen macht sie zu Geschichtenerzählern. Ohne Zeitbegriff gäbe es keine Geschichten …
    Unser Leben wird dann sinnvoll, wenn wir es uns erzählen können.»

    Erzählen als Überlebensnotwendigkeit – wie zu Beginn vom WauWau gehört. Und weiter :

    «Während ich Geschichten erzähle, beschäftige ich mich nicht mit der Wahrheit, sondern mit den Möglichkeiten der Wahrheit. So lange es noch Geschichten gibt, so lange gibt es noch Möglichkeiten.»

    Die Verteidigung von Möglichkeiten, vielleicht auch scheinbar unmöglicher, die Überschreitung eines als öd oder unerträglich empfundenen realen Alltags, die Überschreitung im Konjunktiv und im Modus der Möglichkeitsform, sie entspricht politisch der Verteidigung der Utopie und der Hoffnung auf Veränderung.

    Schon vor den Poetikvorlesungen hat Bichsel in seinen klugen ‹Schulmeistereien› im Text «Grammatikalische Zukunft» seine unbeirrte Verteidigung der Utopie exemplarisch in Erzählung geformt:

    «Ein Kind fragt seine Mutter «Was für ein Tag ist heute?» Die Mutter sagt: Heute ist Mittwoch. «Was wäre, wenn Donnerstag wäre?», fragt das Kind; und die Mutter sagt:
    ‹Frag nicht so saudumm.›
    Mir hat die Frage des Kindes gefallen. Sie ist zwar unbeantwortbar, aber es ist eine gute Frage. Vielleicht weiss das Kind, oder ahnt es, dass die Frage unbeantwortbar ist. Vielleicht will es nichts anderes, als seine Mutter ins Unbeantwortbare locken, ins Absurde, ins Konjunktivische, ins ‹Was-wäre-wenn› (…)
    Man kann sich in Fragen gut einrichten, man könnte in Fragen leben. Kinder leben in Fragen, Erwachsene leben in Antworten.»

    Peter Bichsel ist das staunende und das hartnäckige fragende Kind, das den Antworten nicht einfach glaubt, sondern zögert: Max Frisch, und ihn heute zu zitieren, ist mir wesentlich, Max Frisch hat diese Haltung seines Freundes, unseres Preisträgers, einmal so gewürdigt:

    «Peter Bichsel nimmt wahr und erzählt uns, was er da und dort wahrgenommen hat, zögernd … das poetische Zögern, wo die andern im Vorurteil Ruhe und Ordnung finden, ist subversiv. «Zögernd in Fragen leben, dem Bestehenden Schwierigkeiten machen: der Aufklärer, der an die Möglichkeit der Veränderung, an Möglichkeiten überhaupt glaubt, und der trotzig darauf besteht, wie er mir einmal sagte;
    «Die Menschen sind als einzelne Exemplare gedacht.»

    «Was wäre wenn?» – das halte ich für einen Leitklang und ein zentrales Movens bei Peter Bichsel; in einer der für mich schönsten Kolumnen greift der Autor es im November 1998, auf. «Das Metzgerspiel» lautet die Überschrift. Auf einer langen und etwas langweiligen Zugfahrt erinnert sich der Erzähler, wie er bei langfädigen Versammlungen sich vorstellt, die Teilnehmer wären ganz andere. Statt Schriftsteller lauter Seiltänzer oder lauter Metzger. Und derart wird etwa die GV des Autorenverbands zur Tagung der Metzgermeister, der Lektor zum Charcutier, der Verleger zum Schlachter. und die Langeweile des Verfassers und von uns Lesern ist wie weggeblasen – der Raum offen für Poesie, wenn Bichsel fortfährt:

    «Ich schreibe dies im Zug zwischen Solothurn und Genf, ein fast nebliger Tag, ‹diffus› nennt man wohl dieses Licht. Vor dem Fenster jetzt nur noch Bäume, einige Birken dazwischen, ich sitze in der transsibirischen Eisenbahn, kurz nach Moskau, ja genau so habe ich mir das vorgestellt …

    Ausprobieren, wie es wäre, wenn es nicht so wäre, wie es ist.»

    Peter Bichsel hat der Form der Kolumne in den letzten 35 Jahren eine ganz eigene Gestalt gegeben. Seit dem Auftrag für das legendäre Magazin des Tages-Anzeigers jeweils ein «P.S.» zu verfassen, sind für verschiedene Zeitschriften rund 400 Kolumnen entstanden, die gebündelte Publikation vor sechs Jahren ergab ein ziegelsteindickes Buch. Auch wenn Peter Bichsel kein genuiner Epiker ist, seine Kolumnen bilden zusammen doch einen Roman unserer Zeit: ein Roman in Form von Alltagsgeschichten, Stellungnahmen, Kommentaren, Liebeserklärungen, eine Chronik des täglichen Lebens und dessen schleichenden Wandels. Umwerfend sind thematische Vielfalt, gedankliche Vielschichtigkeit, sprachliche Raffinesse und rhythmische Perfektion. Peter Bichsel hat das alte journalistische Genre des Feuilletons wiederbelebt, die Kolumne literarisch nobilitiert und sich mit der Sorgfalt seiner Sprache zugleich meilenweit entfernt vom überflüssigen Randspaltengeschwätz in Gratispostillen und Unterhaltungsgazetten. Immer nahe beim Gewöhnlichen, aber auch beim Persönlichen, – Erinnerungen, Lektüren –, dabei bescheiden, nie auftrumpfend. Bichsel interessieren nie die Geschehnisse, irgend ein sogenannter Plot, sondern mehr das Ungeschehene und Ungesagte, Schweigen und Scheitern.

    So hat sich Bichsels Kolumnen-Massiv längst zum stillen Hauptwerk gemausert, ergänzt um die vorhin schon aufscheinenden – »Transsibirischen Geschichten», das sind Vorlesestücke, Gelegenheitsarbeiten. Verspielt und abgründig komisch bieten diese Geschichten ein Konzentrat lebendiger Fabulierkunst. Der Autor inszeniert darin einen Erzähler, der fast unfassbar bleibt, unerreichbar wie Sibirien und doch als Stimme sehr präsent. Oft sind es Freundschaftsporträts – und dazu heisst es in «Die mehreren Peter von Matt oder kampanischen Nationalgesichter»:

    «ein Freund ist nicht einer, der mich versteht, sondern einer, der das Nichtverstehen akzeptiert, den Kopf schüttelt und lächelt.
    Also sass ich nun in dieser Transsibirischen Eisenbahn, von der ich schon immer geträumt hatte, und von der ich jetzt träumte. Denn ich fürchte mich vor Realisationen … Jedes Leben, das in Wirklichkeit stattfindet, kann uns daran hindern, dass es im Kopf stattfindet, und Leben, das nicht im Kopf stattfindet, findet nicht statt.»

    Wieviel Leben Peter Bichsel in unsere Köpfe zu zaubern gelingt! Auch wenn ich ihn nicht persönlich in seiner liebenswürdigen Bestimmtheit kennen würde, als Leser wäre er mir auch in Grönland oder Tasmanien zum Freund geworden.
    Peter Bichsel ist nicht nur im übertragenen Sinn das Herz der gegenwärtigen Schweizer Literatur. Er ist mit seiner Fähigkeit zur Freundschaft auch eine ihrer produktivsten Antriebskräfte – indem er jüngere Schreibende ebenso fördert, wie er sich unbeirrt und eigensinnig in aktuelle Debatten einmischt – ungewollt, aber nachhaltig vielen ein Vorbild in Bürgertugend.

    So ist es unserer Jury eine riesige Freude, Peter Bichsel auszuzeichnen mit dem Solothurner Literaturpreis 2011:
    Sein einzigartig vielfältiges und prägnantes Werk zielt mit absoluter Konzentration und zugleich vordergründig einfach auf die wesentlichen Fragen unserer Zeit. Mit seiner unverwechselbaren, eindringlichen Sprache ist er – in der Tradition von Jeremias Gotthelf und Johann Peter Hebel – zu einem Volksschriftsteller geworden, der in staunenswerter Konstanz und mit melancholischer Grandezza aus dem scheinbar Gewöhnlichen die wunderbarsten literarischen Funken schlägt.

    Herzlichsten Glückwunsch also, lieber Peter. Wir freuen uns auf viele weitere poetische Geschichten, erhellende Kolumnen, unaufgeregt radikale Interventionen von Dir!

    Ich gratuliere natürlich auch im Namen meiner Jury-KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer: wie immer, aber diesmal wohl besonders, stützt sich meine Laudatio auf Überlegungen von uns dreien.

    Wir danken den Sponsoren des Preises für ihr Vertrauen und die vollständige Freiheit, in der sie uns jurieren lassen. Für die organisatorische Arbeit für den heutigen Anlass geht grosser Dank an Frank Schneider vom Verein Solothurner Literaturpreis und Regula Santschi von den azmedien. Und zuletzt danke ich herzlich der Solothurner Cellistin und Sängerin Barbara Gasser für ihre musikalische Begleitung zu dieser Feier – Peter Bichsel hat diese Musikerin bewusst für diesen Anlass gewählt. Wir hörten und hören Kompositionen von Roland Moser, Alfred Schnittke und Cathy Barberian.

    Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit!