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    Monika Helfer

    Nicola Steiner, 16. Mai 2021

    Sehr verehrte Damen und Herren,
    lieber Nationalrat und Stadtpräsident Kurt Fluri,
    lieber Walter Pretelli, lieber Hansjörg Boll, liebe Jury-Kollegen
    liebe Iris Wolff, lieber Michael Köhlmeier

    liebe Monika Helfer,

    In Monika Helfers Roman «Vati», der in diesem Frühjahr erschien, erinnert sich die Ich-Erzählerin nur an einen einzigen Film aus ihrer Kindheit, der ihr nicht mehr aus dem Kopf geht: «Die Geierwally». Kurz nach dem 2. Weltkrieg wohnt die Ich-Erzählerin mit ihrer Familie in einem Erholungsheim für Kriegsopfer auf der Tschengla (das ist ein Hochplateau in Vorarlberg), dessen Verwalter ihr Vater Josef ist – selbst ein vom Krieg beschädigter Mann mit einer Prothese am Bein, das er sich im Krieg halb abgefroren hat; ein Mann, der aber alles daran setzt, in die neue Zeit zu passen und modern zu sein – deshalb lässt er sich von seinen Kindern «Vati» rufen.

    Regelmässig rückt er am Abend im Speisesaal die Tische weg, stellt dreissig Stühle in Reih und Glied auf, hängt eine Leinwand auf, um Kino zu spielen. Viele Filme gibt es nicht im Programm, und deshalb kennen alle im Erholungsheim schon bald «Die Geierwally» in- und auswendig und bleiben dem Kinoabend fern. Aber die Tochter bleibt (schliesslich ist es ihr Lieblingsfilm) und nimmt sich jedes Mal neu vor, den Film so zu schauen, als habe sie ihn noch nie gesehen.

    Und es bleibt ihr noch etwas in Erinnerung: wie der Vater hinter sie tritt, ihr seine Hand auf den Kopf legt und ihr die Haare aus der Stirn streicht – eine zärtliche Geste, die seine Sprachlosigkeit zu ersetzen weiss.
    Das ist eines der sinnlichen, poetischen und eindringlichen Bilder im Lebenswerk von Monika Helfer. Ihre scheinbar beiläufigen Skizzen und Beobachtungen sind weit mehr als Illustrationen des zu Erzählenden.
    Wie zaubermächtige Trigger – oder man könnte auch zeitgemässer von (allerdings) gutartigen Viren sprechen – berühren sie den eigenen biografischen Kern der Leserinnen und Leser und setzen in ihnen ganz persönliche Bilder und Erinnerungen frei.

    So ging es mir beim Lesen von «Vati». Da musste ich plötzlich an meine Kindheit und Jugend denken, und an ein Bild, das meine Erinnerungen prägt:
    Zu den Festen fanden sich bei uns gern die Verwandten und engen Freunde zusammen, und irgendwann wurden die wilden Geschichten ausgepackt. Immer wieder dieselben, wie das vermutlich bei den meisten Familien der Fall ist. Darunter auch die Anekdote, dass der Vater meines Taufpaten aus Innsbruck in der Verfilmung der «Geierwally» von 1940 bei allen Aufnahmen, die in den Bergen spielten, die «Stunts» für die Hauptdarstellerin Heidemarie Hatheyer übernommen hatte. Er war ein offenbar sehr zierlicher und gleichzeitig sehr sportlicher Mann, der als Geierwally verkleidet in dem Film auf die Berge kraxelte oder mit den Skiern von ihnen runterfuhr …
    Diese Bilder haben sich in meinem Kopf festgesetzt, als wäre ich persönlich dabei gewesen.

    Genauso wie das Kino-Bild auf der Tschengla in «Vati». Mit der zärtlichen Geste des Vaters gegenüber seiner Tochter – eine Geste, die für mich Sinnbild für Monika Helfers Schreiben ist.
    Allerdings sollte man sich von diesem vielleicht etwas idyllisch anmutenden Bild nicht täuschen lassen. Monika Helfers Bücher streicheln zwar behutsam und mich berührend (um im Bild zu bleiben) über meinen Kopf bis in die Seele hinein, ihre Sprache und ihr Gestus sind aber gleichzeitig nüchtern und prägnant, unaufgeregt und ohne Pathos und Kitsch, dafür mit viel Sinn für Humor.
    Die Bilder sind immer gebrochen: hinter der zärtlichen Geste des Vaters mit seiner in sie eingeschriebenen Sprachlosigkeit verstecken sich auch die Erfahrungen des Krieges.
    Monika Helfer erzählt von dem, was wir Leben nennen, und das ist nun mal doppelbödig, vielschichtig und vertrackt. Sie erzählt von Familien, vom Schicksal, von Verlust, von Unausgesprochenem und Unaussprechbarem,
    von Brüchen, Beschädigungen und Verletzungen. Und sie tut es wahrhaftig.

    Wahrhaftig – das ist ein Stichwort, das so oft im Zusammenhang mit der inzwischen ständig und überall zitierten «autofiktionalen Literatur» fällt.
    Dem französischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Serge Doubrovsky zufolge sind das Texte, die gefangen sind im «Drehkreuz», im Zwischenraum der Gattungen – nicht Biographie, nicht Roman, also weder wahr noch erfunden. Oder beides.
    Monika Helfers letzte beiden Romane «Die Bagage» und «Vati» und meines Wissens nach auch der nächste, den wir hoffentlich bald lesen dürfen, werden von vielen meiner Kolleginnen und Kollegen (und auch von mir) als «Autofiktion» bezeichnet.

    Ich kann mir vorstellen, liebe Monika Helfer, dass Sie solche Zuschreibungen eher amüsieren. Denn Sie schreiben ganz offensichtlich nicht nach wissenschaftlichen Kriterien, sondern nach poetischen. Sie verbinden das Geschehene mit Empfundenem, das Erwiesene mit dem Denkbaren,
    Sie erkunden beim Schreiben tastend, kreisend, suchend die Spuren, denen Sie folgen, und begeben sich auf Wege und Pfade ohne Wegweiser (und wissenschaftliche schon gar nicht), Sie schlendern staunend und wachsam durch Räume und Zeiten – ohne ein konkretes Ziel, ohne eine Absicht vor Augen, unvoreingenommen, offen für Unerwartetes. Im Gepäck haben Sie:
    Ihr Feingefühl, die Sprache, Ihre Neugier und den wachen Blick.

    Monika Helfer ist eine aufmerksame und genaue Beobachterin. Sie hält Ausschau nach Details, nach Bildern, nach Erinnerungen, nach biographischen Bruchstücken – nach Findlingen also, die sie dann in einer Weise zusammensetzt, die Züge einer Rekonstruktion trägt.
    Und doch möchte ich nicht von Puzzleteilen sprechen, da sich manche Fundstücke so oder auch ganz anders zusammenfügen liessen; es fehlen da und dort Teile, für immer verloren, es bleibt das Ungewisse und Rätselhafte.
    Besonderes Augenmerk legt sie auf Risse in den Familiengeschichten und
    -geheimnissen, auf gesellschaftliche Strukturen und Muster, die aufbrechen, und auf geschlechterspezifische Rollenverständnisse, die zu viel Elend und Ungerechtigkeit geführt haben.
    All diese Schicksale, Zeitläufe und Umstände zeichnet sie episodisch nach, nicht selten eingebettet in urtümlich anmutende Landschaften und Stimmungsszenarien.

    Dabei verwebt Helfer Erinnerungen und Erzähltes, Bilder und Fotografien zu einem Gemälde. Ihre Werke sind aber keine opulenten Ölgemälde, sie sind auch nicht in süsslichem Aquarell gemalt. Ich selbst musste beim Lesen an Fresken denken an einer brüchigen Klostermauer, unvollständig erhalten, aber umso stärker im Ausdruck.
    (Gut, das mag auch an meiner katholischen Herkunft liegen. Vielleicht haben Sie, liebe Monika Helfer, eher so etwas wie «Die Kinderspiele» von Pieter Bruegel dem Älteren im Kopf, wie sie im Kunsthistorischen Museum in Wien hängen – ein Bild, das in Ihrer «Bagage» aufgerufen wird – dem Buch, in dem Monika Helfer die Familie mütterlicherseits erkundet.)

    Im übrigen beginnt auch dieser Roman mit einem Bild: Mit der Mutter, die draussen an der lose hängenden Wäscheleine die weisse Wäsche aufhängt; eine Mutter, die möchte, dass ihre Kinder sauber sind wie die anderen Kinder des Dorfes – mindestens so sauber wie sie selbst schön ist, mit einer Schönheit gesegnet, die ihr dann noch zum Verhängnis werden wird. Maria Moosbrugger heisst sie, und sie ist die Grossmutter der Ich-Erzählerin, die Mutter der «Bagage», wie die Familie verächtlich vom Dorf gerufen wird – vollkommen vergessend, dass wir alle unsere Bagage, unser Gepäck haben, das uns
    liebevoll und schmerzhaft zugleich von unseren Familien ins Leben mitgegeben wurde.

    (Ich kann diese Bildhaftigkeit, die ich meine, auch anders und umständlicher ausdrücken: Die literarische Visualisierungsstrategie von Monika Helfer übersetzt gewissermassen die Ästhetik des Betrachteten in eine sinnliche Erfahrung.)

    Alles hängt mit allem zusammen: Die Geierwally-Anekdote meines Taufpaten verbindet sich gewissermassen mit der Erinnerung der Ich-Erzählerin in «Vati» – ein Buch, das man noch einmal ganz anders liest, wenn man «Die Bagage» kennt. Dann kennt man beispielsweise Tante Kathe bereits, die sich nach dem Tod der Mutter um die 11jährige Monika und ihre Schwester kümmert.

    Monika Helfer nimmt uns Lesende an die Hand und sie nimmt uns mit in ihre Familiengeschichte. Aus dieser zärtlichen Geste entwickelt sich eine geheimnisvolle Verbindung zwischen dem Erzählten und dem selbst Erlebten: Fremde Geschichten legen sich über die eigenen – bis wir meinen, selbst dabei gewesen zu sein.

    Und doch ist da ein geheimes Zentrum, das zu schmerzhaft ist, als dass es sich in jedem Fall teilen liesse: Ihre Tochter Paula und deren tragisches Schicksal – ein Zentrum, das Ihrem Werk, liebe Monika Helfer, eingeschrieben ist, und das deshalb auch heute nicht unerwähnt bleiben soll.

    Den Menschen in ihren Romanen begegnet Monika Helfer mit Respekt und Anerkennung, trotz oder gerade wegen ihrer Schwächen. Sie nähert sich behutsam, zart und herantastend, wägt ab im Urteil, seziert und analysiert und wertet nicht – und wenn, dann sehr subtil –, sie zeigt, was ist, sie versöhnt sich und kann verzeihen. Mit mehr Würde kann man Menschen, selbst den weniger angenehmen, kaum begegnen.

    Und vielleicht darf ich an dieser Stelle noch etwas anmerken: Zehn Minuten Laudatio sind für eine Autorin wie Monika Helfer, die sich seit vielen Jahrzehnten schon in ihren Romanen, Erzählungen und Kinderbüchern so vielschichtig mit uns Menschen, mit Entwurzelung und Heimatlosigkeit, mit Beziehungen und Liebe, mit Freundschaft und Familie auseinandergesetzt hat, reichlich knapp bemessen. Deshalb möchte ich Sie alle, die heute hier vor Ort oder digital zugeschaltet sind, herzlichst einladen, sich auch mit den Romanen aus den früheren Jahren zu befassen, beispielsweise mit «Oskar und Lilli» (einem meiner Lieblingsromane), mit «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!» oder mit «Bevor ich schlafen kann».

    Liebe Monika Helfer, ich bin Ihnen sehr dankbar. Dankbar dafür, dass Sie es mir so leicht machen, die mit dem Solothurner Literaturpreis verbundene Anerkennung zu begründen.
    Ich danke Ihnen für Ihre Bücher und dafür, dass Sie uns – das ist so platt wie wahr – zeigen, wie tröstlich das Erzählen und wie trostspendend das Lesen sein kann.

    Und ich danke Dir, liebe Monika, für die vielen Bilder, die sich in meinem Kopf festgesetzt haben, denn sie sind mir ein Ansporn, eine Verpflichtung und Ermutigung dazu, all dem wieder mehr Beachtung und Zuwendung zu schenken, was tief in mir drinnen erhalten und wirkmächtig geblieben ist aus länger vergangenen Zeiten.

    Ich gratuliere Dir pandemiebedingt um ein Jahr verspätet sehr sehr herzlich auch im Namen meiner beiden Jury-Kollegen Lucas Gisi und Hanspeter Müller-Drossaart und aller anwesenden Gäste hier im Saal und natürlich auch im Namen derer, die uns Online zugeschaltet sind, zum Solothurner Literaturpreis 2020!