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    Matthias Zschokke

    Hans Ulrich Probst, 3. Juli 2006

    «Mein geträumtes Buch besteht aus lauter Nichts und nimmt ebenso wenig, allem voran nicht sich selbst, wichtig; es ist nur da, weil es da sein muss …»

    «Wir sind Träumer, glauben an Entwicklung, Veränderung, Verbesserung. Dieses Wir immer, das tröstliche Wir, das nicht existiert, das sich jeder bloss einredet, um sich weniger einsam zu fühlen …»

    «Ich sitze sehr gerne an meinem Tisch und schaue vor mich hin»

    Lieber Matthias Zschokke,
    Herzlich willkommen in diesem Saal – ich freue mich sehr, dass nur wenige Wochen nach Deinem Auftritt an dieser Stelle erneut so viele lese- und hörfreudige Menschen den Weg hierher gefunden haben.

    Willkommen, meine Damen und Herren,

    es ist mir ein grosses Vergnügen, Ihnen den diesjährigen Träger des Solothurner Literaturpreises vorstellen zu dürfen – ihn zu loben, wenngleich dies Vergnügen auch von einer bangen Beklemmung begleitet wird, denn
    «Je älter ich werde, desto mehr missfallen mir Äußerungen, die mir zu Gefallen gemacht werden. Ich mag keine Literatur, die mir gefallen will, keine Kunst, die mir gefallen will, keine Menschen, die mir gefallen wollen. Ich fühle mich von ihnen auf unangenehme Weise belästigt und eingeengt.»

    Dies hat Matthias Zschokke in einer Hommage an Robert Walser, den in diesem Jahr gleichfalls Gefeierten, geschrieben und in dessen Charakterisierung sich auch ein Stück weit selber porträtiert:

    «Er schreibt ausschliesslich für sich selbst, fürs Schreiben, fürs eigene Leben, um den Moment auszuhalten und nicht in den Sekunden unterzugehen»

    heisst es in Zschokkes Text «Warum ich Robert Walser mag» aus dem Jahr 2000. Der Laudator ist also gewarnt, eingedenk auch folgender Sätze aus dem jüngsten Buch des Preisträgers «Maurice mit Huhn»:

    «Mit dem Alter werden intelligente Menschen leiser. Sie trauen ihren Hochgefühlen und Schmerzen nicht mehr über den Weg. Superlative werden ihnen suspekt.»

    Keine Superlative also aber doch uneingeschränktes Lob für einen zauberhaften Poeten, der seit mehr als zwei Jahrzehnten mit spielerischer Hartnäckigkeit höchst eigensinnige Text-Teppiche webt, welche mit leichter Hand auch von schweren Sujets sprechen, dabei in Tonfall und Motivik eine faszinierende Kontinuität pflegen und in der gedanklichen Originalität und sprachlichen Virtuosität stets neu überraschen. Neben acht Prosabänden, umfasst sein reiches Oeuvre auch mehrere Theaterstücke – in der Westschweiz viel gespielt – sowie drei Spielfilme.

    Es hat unsere Jury gefreut und kaum verwundert, dass seit unserem Entscheid vor ein paar Wochen Matthias Zschokke weitere Auszeichnungen zuerkannt worden sind – so der Buchpreis des Kantons Bern und der Preis der Schweizerischen Schillerstiftung.

    Doch wie kann ich Ihnen diese Literatur nahebringen, die sich handlungsstarken Plots und verwickelten dramatischen Knoten fast kategorisch verweigert?

    «Mein geträumtes Buch besteht aus lauter Nichts und nimmt ebenso wenig, allem voran nicht sich selbst, wichtig; es ist nur da, weil es da sein muss.»

    Zschokke ist ein Meister der Gestaltung der Ereignislosigkeit, des Understatements, der Sensationen des Gewöhnlichen in scheinbar purer Poesie; seine Texte pendeln dabei stetig zwischen unverhohlener Melancholie und betörender Beschwörung kleinster Glücksmomente. Welchen Reichtum soviel wie beiläufig gesammeltes Nichts ergibt – das zeigt sich in Vollendung im jüngsten Buch unseres Preisträgers, «Maurice mit Huhn» – als Roman falsch etikettiert, ist ein Schatzkästlein luzider Alltags-Beobachtungen, phantastischer Geschichten, ironischer Aperçus, flirrend poetischer Miniaturen und unangestrengt nachdenklicher Reflexionen.
    In der gebotenen Kürze seien zuerst ein paar biografische Eckdaten unseres Preisträgers fixiert, sei sein Weg zur abgeklärten Meisterschaft skizziert:

    1954 in Bern geboren, als ein Urururenkel des berühmten 1848 verstorbenen Aufklärers Heinrich Zschokke, ist er in Ins aufgewachsen, er hat das Gymnasium in Biel und danach die Schauspielschule in Zürich besucht. Nach Engagements in Stuttgart und in Bochum bei Peter Zadek hat er den Schauspielberuf an den Nagel gehängt und sich 1980 in Berlin niedergelassen, wo er bis heute wohnt und schreibt.

    Sein Zuhause ist eine prächtige typische Berliner Altbau-Wohnung beim Zoo im alten Zentrum des Westens der Stadt.
    Sein Schreibort wiederum, ein so geräumiger wie extrem karg eingerichteter Raum, befindet sich in der ersten Etage des zweiten Seitenflügel eines Gebäude-Komplexes mit drei Innenhöfen und diente früher als Pferdestall eines Fuhrunternehmens später als Giesserei. Das Haus steht unweit des Nettelbeckplatzes im Wedding in Berlins Norden, einst ein lebendiges Arbeiterviertel, nahe auch dem früheren Mauerübergang Chausseestrasse, heute vom wirtschaftlichen Niedergang sichtbar betroffen.
    Diese asketische Schreibstätte in ihrer dauerhaften Schlichtheit ist dem Autor vertraut gewordene Inspirationsquelle und ein Stück permanente Fremdheit in unwirtlicher Umgebung in einem.

    Matthias Zschokke hat zwischen 1982 und 85 binnen kurzem mit den Romanen «Max», und «Prinz Hans», sowie dem in «Prinz Hans» enthaltenen Bühnen-Stück mit dem herrlichen Titel «Elefanten können nicht in die Luft springen, weil sie zu dick sind – oder wollen sie nicht» und schliesslich mit seinem ersten Film «Edvige Scimitt» gleich mehrfach höchst erfolgreich debütiert –auf einen Schlag war da eine neue, unverwechselbare Stimme, anmutig, verspielt, versponnen, zugleich mit allen Wassern gewaschen im Gebrauch auch neuester künstlerischer Techniken.

    «Max» ist eine Kunstfigur, der ihr Schöpfer Haltungen anprobiert wie andere Kleider, wie man in Erinnerung an Frischs «Gantenbein» sagen könnte. Max erprobt das Leben als Tat – er ist eine Zeiterscheinung, wie es heisst, und er spiegelt natürlich in manchem Erfahrungen des Verfassers –etwa im Verhältnis zur Herkunft:

    «Aus der Schweiz ist er weggelaufen, weil er sich nicht genau genug an die Selbstkasteiungsregeln gehalten hatte. So vergass er beispielsweise an drei aufeinander folgenden Tagen das vorgeschriebene zehnmalige Wiederholen des Dankseufzers ‹Uns geht es ja so gut› sowie das Auseinandernehmen seines persönlichen Maschinengewehrs. Auch glaubt er an die Existenz des Worts ‹Politik› und vertrat verschiedentlich öffentlich die Meinung, die Schweiz sei nicht die Welt»
    und weiter:

    «Max … besass unerlaubterweise kein Geld. Und er trug den Kopf nicht mehr auf Verbotshöhe. Und er ging langsamer durch die Strassen, als man geht.»

    Diese ironisch-kritische Haltung zur Schweiz hat Zschokke bewahrt:

    «Nirgends fällt es schwerer, Freude am täglichen Dasein zu empfinden, als in der Schweiz an einem strahlenden Sommertag unter blassblauem Himmel … Denn wird ein Einheimischer ertappt, wie er sich des Lebens freut und die Seen, Berge und Wiesen in aller Öffentlichkeit geniesst … dann fallen die anderen übern ihn her …»
    lesen wir in «Dienerbewerbung» – im 2002 erschienenen Erzählband «Ein neuer Nachbar».
    Zschokke spielt in «Max» ein ironisch-selbstironisches Spiel mit der Figur seines Autors und der Romanfigur, das er in den folgenden Büchern „Prinz Hans“ und „ErSieEs“ fortsetzt. „ErSieEs de Glych“ operiert mit den Schwierigkeiten der Geschlechteridentität, der betonten Künstlichkeit aller Zuschreibungen.
    Sämtliche frühen Prosabände, Theaterstücke und Filme Zschokkes – zu nennen sind unbedingt noch „Piraten und Brut“ – zeichnen sich durch eine zugleich radikale und sanfte «Abbrucharbeit» an den Konventionen der jeweiligen Gattung aus; und Zschokke zeigt darin auch den schleichenden Wirklichkeitszerfall angesichts einer fast totalen Medialisierung des Lebens und die Ohnmacht
    des Subjekts in dieser Lage. Insofern verstehen wir ihn durchaus als politischen Autor.

    Mir das liebste unter seinen leider vergriffenen Büchern, die zehn bis vierundzwanzig Jahre zurückliegen, ist «Der dicke Dichter», 1995 erschienen. Das ist die Geschichte eines Schreibenden in der Grosstadt Berlin, in der schon viele Motive anklingen, welche spätere Texte prägen. Der dicke Dichter, eine Mischung aus einer Art Oblomow im späten 20. Jahrhundert und dem unvergessenen Lyriker und Kinderbuchautor Günter Bruno Fuchs, der dicke Dichter ist zu Romanbeginn schon tot, ganz leise gestorben, und was der Autor vorlegt, gibt er vor, sei sein Nachlass. Der dicke Dichter hadert sanft, aber bestimmt mit dem Leben, er liebt die Einsamkeit der Stadt, er hält sie aus – und durchbricht sie nur mit Briefen an einen Freund, eine Geliebte sowie mit den «schönen Geschichten», die ihm Severinchen abverlangt, Severinchen, ein Kind, ist seine Muse, ob real oder bloss erdacht bleibt egal. Der dicke Dichter hält auch Zwiesprache mit Vögeln, Katzen, Schmetterlingen, beobachtet das unaufgeregt das hektische Treiben der Metropole und weiss vom Leben, dass

    «wir es nicht verstehen, das wir von Tag zu Tag weniger begreifen davon»,

    weiss, dass es «anstrengend bis zur Erschöpfung» ist und

    «der Wunsch, es gut zu führen aussichtslos».

    Sein poetisches Programm formuliert dagegen Widerstand:
    Die zarten Schlusssätze dieser träumerischen Liebeserklärung an die Schönheit des profanen Alltags gelten sowohl für den dicken Dichter wie auch für seinen ironiemächtigen Erfinder:

    «… so bin ich mit den Jahren ein Weltnarr geworden, in welchem eine rennende Maus in der Tordurchfahrt, ein hüpfender Spatz auf dem Bürgersteig, ein gehender Mann im Park, eine sitzende Frau am Fenster einer Neubauwohnung, eine ziehende Wolke und andere Nichtigkeiten von einem Moment auf den andern Glück auszulosen vermögen, und habe dabei mit der Tatsache zu kämpfen, dass mir meistens der Geruchssinn fehlt, meine Sehkraft geschwächt ist und ich den Tastsinn entbehre, was natürlich die Morgen die Tage, die Abende empfindlich beeinträchtigt.»

    In deutlich dunklerem Ton als im «Dicken Dichter» präsentiert sich die träge Langweile des Daseins im Roman «Das lose Glück», das Motive aus den „Piraten“ und «Brut» aufnimmt. Drei Männer und eine Frau treffen sich regelmässig auf einem Boot, das auf einem Schweizer See ankert, und verbringen ganze Nächte, indem sie einander erzählen – freilich ohne an die Kraft des Erzählens zu glauben, oft ohne einander zuzuhören und im Wissen, dass
    «nur, wer absolut einfältig ist, Antworten kennt».

    «Überall vergeht die Zeit und es geschehen grossartige Dinge. Hier nicht»
    heisst es programmatisch. Wie die auf den Pappmeeren dumpf dahindümpelnde Schauspielerbrut in «Piraten» haben die vier auf dem Boot Lebensenergie und Unternehmungslust verloren und führen darüber teils beredt, teils stumm Klage – das ist eine virtuose zivilisationskritische Elegie getragen von der Schönheit der Bilder, die Zschokkes Figuren für den Ausdruck ihres Lebensüberdrusses finden. Zu den vieren auf dem Boot stösst unversehens eine Frau, Ellen; sie ist aus Berlin zu einem Besuch in die Kleinstadt am See gekommen und am Abend spontan losgeschwommen. Erschöpft wird sie an Bord gehievt und ins Gespräch einbezogen – und sie erzählt von ihrem Leben, das vom nämlichen Lebensgefühl fahler Mattigkeit geprägt scheint.
    Ellen hat in Berlin einen Freund, mit dem sprechenden Namen Roman; dieser sitzt im Büro des uns schon bekannten Hinterhofs im Berliner Norden und betätigt sich als «Hofberichterstatter», wie es doppelsinnig heisst:

    «Hofberichterstatter: … Berichten, wie meistens gar nichts geschieht, wie der graue Hof verlassen daliegt. Jeden Tag genau festhalten, was stattfindet, nicht mehr nicht weniger. Akzeptieren, dass das Romans Leben ist, sein Abenteuer, dass es das ist, was ihm letztlich den Atem verschlagen haben wird.»

    Geschickt verknüpft der Autor Romans skurrile Notate aus dem Nordberliner Alltag mit den monologischen Klagegesängen vom Lebensüberdruss auf dem schwankenden Schiff. Die fünf auf dem Boot, von denen einer wegen eines idiotischen Zufalls zu Tode kommt, sind – so erklärt der Autor im Buch den Titel – nichts weiter als

    «Zerrupfte Hühner, die nicht wissen, dass sie sterben, die ganz und gar damit beschäftigt sind, Hühner zu sein, sich in den Sand zu hocken, wieder aufzustehen, das Gleichgewicht zu halten, ausgelastet mit den Schwierigkeiten, pickend über einen Hof zu schreiten, vogelfrei, im losen Glück»

    Auch hier wechselt der Autor zwischen distanzierterem personalem Stil und Ich-Erzählung hin und her und zwingt so die Lesenden, sich immer neu einzustellen. Gegen Schluss werden die Redenden gar nicht mehr benannt, kann man sich sie als austauschbare Stimmen im Dunkel der Nacht vorstellen. Zschokkes Figuren gemahnen oft an solche, wie sie auch Christoph Marthaler auf der Bühne zeigt, es sind liebenswerte Verlorene.

    Versöhnlicher, ausbalancierter, imprägniert von schwermütiger Gelassenheit präsentiert sich demgegenüber Matthias Zschokkes vorerst letztes Buch «Maurice mit Huhn» und verrät darin eine überlegene Reife, die sich auch im schlackenlosen und zugleich hochpoetischen Stil ausdrückt.

    «Wieder nichts zu tun gehabt», lautet der erste Satz; Maurice, ein Schweizer mittleren Alters, unterhält in Berlin ein «Kommunikationskontor» für Schreibaufträge, mit wenig Erfolg. Doch das ficht ihn kaum an; er sitzt gerne an seinem Schreibtisch im kargen Büro im zweiten Hinterhof – wir kennen es inzwischen – im Wedding und lässt seine Gedanken schweifen, widmet sich etwa der Frage, wer wohl in seiner Nachbarschaft regelmässig Cello übt; Diese Cello kennen Zschokke-Lesende aus dem vorangegangenen Erzählband «Ein neuer Nachbar»: «Jemand mit einem Cello ist in meine Nachbarschaft eingezogen» beginnt diese und endet mit der Ankündigung «Fortsetzung folgt». Diese liefert “Maurice mit Huhn“, aber das Rätsel, wer da spielt, wird erneut nicht gelöst – wir lesen zwar von einer brillant beschriebenen erotischen Balkon-Begegnung mit der angeblich 25jährigen Cellistin und von einem tiefsinnigen Dialog mit einem 50jährigen Cellisten, doch ein paar Seiten weiter heisst es lapidar:

    «Der Besuch beim Cellisten, bei der Cellistin hat nicht stattgefunden. Die Sehnsucht nach Abenteuer verführt zu den infamsten Lüge … Er hätte gern endlich einmal etwas erlebt.»

    Und so oszilliert dieser Text zwischen fantastischen fiktiven Abschweifungen, präzis verorteten, akribischen Beobachtungen der Berliner Depression und nuancierten Notaten über irgendein «petit rien», das sich dem Widerstand gegen das vorherrschende Tempo verdankt:

    «Das Lustige an den Spatzen ist nicht, was sie getan haben. Das Lustige an ihnen ist, dass Maurice die Zeit hatte, sie wahrzunehmen. In jedem Augenblick tun Spatzen, Menschen, Elefanten und Meere, was sie tun. In jeder Sekunde geschieht alles, doch wir sehen es nicht und empfinden Stillstand. Wir glauben, interessant sei das Ausssergewöhnliche, die Rhythmusstörung, der Aussetzer. Das Grandiose aber ist der Rhythmus, der Fluss, die Allgegenwart. Wenn wir jederzeit offen genug wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen, den Traum eines Lebens, einen Roman, ein ewiges Abenteuer. Man stelle sich bloss vor, wir würden, wo immer wir gehen und stehen, Spatzen sehen, Hunde, Menschen … wie sie sich verhalten, ist immer neu ganz und gar unbegreiflich.»

    Dieses Buch bleibt immer ganz nahe bei seiner Hauptfigur, doch in deren Mikrokosmos ist die ganze Welt enthalten, auch wenn Maurice das Soziale eher meidet, fast scheu auftritt, ein stiller Beobachter – ein säkularisierter Mystiker schier –, überzeugt davon, dass «die unfassbarsten Tragödien und Komödien» gleich nebenan geschehen. Fabelhaft sind auch die Einsprengsel von Besuchen des Protagonisten in der alten Heimat – sei es eine beklemmend erlebte Klassenzusammenkunft, sei es die anrührend-distanzierte Konfrontation mit der vergreisten Mutter im Dorf, wo ein uns allen bekannter Genremaler das in seiner naiven Direktheit eindrückliche Bild seines Sohnes «Maurice mit Huhn» gemalt hat, das auch den Umschlag von Zschokkes Buch ziert.

    Sein Ziel sei «grösste Einfachheit und Wahrheit», umschreibt unser Preisträger seine Poetik.
    Diese raffinierte Einfachheit demonstriert Zschokke in einer enorm musikalischen, vielschichtig tiefgründigen, und jederzeit ganz unangestrengt poetischen Sprache.

    Ich gebe zu, damit habe ich doch beinahe den suspekten Superlativ gestreift.
    Drum sei gleich ein Zitat aus «Maurice» nachgeschoben:

    «lieber als das ‹beste Theater der Zeit› würde ich Theater sehen. So wie ich lieber als den ‹besten Wein des Monats› Wein trinken … würde. Denn das Beste ist immer eine herbe Enttäuschung, da es die Hoffnung auf Besseres zerstört.»

    Natürlich, lieber Matthias Zschokke, werden wir uns über «Besseres» – weitere, womöglich noch schönere, luzidere Texte sehr freuen – auch wenn sie uns angesichts des jetzt vorliegenden Werks schwer vorstellbar scheinen …
    Wofür zeichnen wir Matthias Zschokke heute aus:

    Schliessen möchte ich mit einem Auszug aus einer Miniatur, welche das eben Gesagte illustrieren mag – die Sensibilität dieses Autors für kleine Zeichen von tiefer Bedeutung und seine Fähigkeit, was er sieht, sinnfällig und prägnant zu fassen.
    «Hinterlassenschaften» sind die gerade mal sechs Seiten überschrieben, abgedruckt im Band «Ein neuer Nachbar», worin er berichtet, wie er regelmässig mit dem Fahrrad von der Wohnung zu seinem Arbeitsraum im Hinterhof fährt, und dort das Rad neben dem Eingang so an die Mauer anlehnt, dass er abends gleich aufsteigen und losfahren kann. Und fährt dann fort – der Text spricht für sich selbst:

    «Jeden Tag, wenn ich es abstelle, stosse ich mit dem Vorderrad gegen die Mauer. Vor ein paar Monaten ist mir aufgefallen, dass der Reifen dort jeweils einen Abdruck hinterlässt … Tausende dunkler senkrecht nebeneinanderliegender Striemchen …
    In letzter Zeit denke ich manchmal an den Tod. Und wenn ich dann vor diesen Striemchen stehe, werde ich andächtig. Mir kommt vor, das einzig Bleibende, was der Mensch hinterlässt, sind solche Botschaften … – ohne es zu beabsichtigen, verursachen wir aber irgendwo tatsächlich eine Kerbe, weil wir dort jahraus jahrein entlanggegangen sind, fabrizieren über Jahre eine Wandmalerei, eine Höhlenzeichnung, die in sich so zwingend ist, so absichtslos wahr, wie nichts anderes in unserem ganzen Leben, ein Dokument, das unendlich viel von unserem Dasein erzählt. Und wenn ein Nachgeborener vor dieser schraffierten Wand steht, wird er möglicherweise furchtbar erschrecken, weil er sieht, wie hier ein ganzes Leben abgeschnurrt ist.»

    Lieber Matthias Zschokke, wir hoffen, dass Sie noch manche Reifenkerbe an die Wand schraffieren können und uns noch viele derartig grandiose Winzigkeiten erzählen.

    Vorerst jedoch Herzlichsten Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Solothurner Literaturpreis 2006 – auch im Namen meiner Jury-KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer, denen ich für die gewohnt angenehme Zusammenarbeit und kompetente Unterstützung beim Abfassen dieser Laudatio herzlich danke.

    Alle drei danken wir den Sponsoren dieses Preises für ihr kulturelles Engagement und die unerlässliche Freiheit, in der sie uns wirken lassen. Ein grosser Dank für die organisatorische Betreuung dieses Anlasses geht an Frau Aebi und die Herren Egli und Schneider – und last but not least möchte ich dem Solothurner Cellisten Stefan Thut – wir hören ihn gleich nochmals – für die stimmige musikalische Begleitung unserer Preisverleihung danken.