Laudatio auf
Kathrin Röggla
Herzlich willkommen in Solothurn, dieser für Literaturbegegnungen so fruchtbaren Stadt. Ich freue mich um so mehr, Sie erneut in Solothurn begrüssen zu dürfen, als die Kommunikation mit dem Publikum vor ein paar Wochen anlässlich der Solothurner Literaturtage nicht in allen Teilen geglückt ist, wie Sie selbst erklärt haben.
Willkommen meine Damen und Herren. Es ist mir ein grosses Vergnügen, Ihnen heute die jüngste Trägerin des Solothurner Literaturpreises zu präsentieren – sie ist zwar an Jahren jung, gerade mal 34 – doch eine gewiefte Autorin mit einem bereits erstaunlich umfangreichen Werk – eine der eigenständigsten und anregendsten jungen Stimmen der deutschsprachigen Literatur.
Eingedenk jenes Abends Anfang Mai in diesem Saal möchte ich Sie freilich auch gleich warnen: diese Autorin stellt an sich und an uns Ansprüche. Breit ausgewalztes Erzählen und Erklären mag sie nicht. Ihr geht es um die Architektur von Texten, und vor allem um den kritischen Umgang mit Sprache als Ideologiekritik. Dazu nutzt sie die Techniken der klassischen Moderne ebenso wie die österreichische Tradition experimenteller Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Doch keine Angst, die Texte unsere Preisträgerin sind überaus lesbar und ausgesprochen hörbar – nicht zufällig sind viele davon für Theater und Hörspiel umgearbeitet oder genuin für diese Gattungen verfasst worden.
Ich habe Kathrin Röggla und Ihre Arbeit vor fünf Jahren kennen gelernt, als ihr drittes Buch «Irres Wetter» erschien: Das ist eine atemberaubende Sammlung von Stadtskizzen aus dem neuen Berlin der neunziger Jahre. Die Autorin setzt damit die Tradition von Grosstadtprosa fort, im Zeitalter wo Handy-Hype und Hauptstadteuphorie, wo Pseudohektik und vielstimmiges Informationsrauschen der Medien sowie New Economy den Rhythmus vorgeben:
«geld machen wie heu, wollen im prinzip jeden augenblick alle, die volksdroge rendite geht um kaum aus dem kaugummiautomaten raus ist man, schon will man zinsen sehen, kapitalausschüttungen noch und noch: abgreifen, aussaugen, abschöpfen, lange genug hat man vor dem geldrätsel gehockt und sich gefragt, wie man es lösen kann … gespalten wird der kopf ohnehin, jetzt wäre es gut zu wissen, in welche richtung das ganze geht.»
Bloss, wer weiss heute, wohin die Reise geht? Auch Kathrin Röggla masst sich nicht an, es zu wissen, aber sie ringt darum. In ‘Irres Wetter’. kartografiert sie in zwanzig zwischen 3 und 23.Seiten langen Fragmenten seismografisch, akribisch wie akkurat, komisch wie kritisch Befindlichkeiten und Bewusstseinslagen verschiedenster Milieus in der neu zusammengewürfelten Metropole Berlin. Mental mapping hat sie selbst ihr Verfahren genannt. Es kulminiert in der Wiedergabe und ironischen Zuspitzung des Sprach- und Sprechverhaltens der Figuren. Szenenslang, modische Redensarten und alltägliche Sprachrituale verschleiern hier wortreich die wahren Empfindungen und Motive der Redenden sogar wenn übers Wetter geredet wird:
«mit heiler haut wollen wir alle davonkommen, doch immer dünner wird es in dieser luft:
abspecken, gesundschrumpfen, entschlacken, das sind die worte, die einem heute laufend einfallen, im grunde denkt man nichts anderes mehr. und doch sagt man: die tage werden wieder länger. ‹freiluft›, sagt man, ‹das wäre es›, und ‹ist ja draussen auch ein irres wetter›»
Irre – das war die Modevokabel der Deutschen seit dem heute weit weg scheinenden neunten November 1989. Zum Grossstadtroman des frühen 20. Jahrhunderts gehörte der Flaneur. In der Metropole von heute ist friedlich-neugieriges Flanieren nicht mehr angesagt, nur mehr ruhelose Bewegung.
«nicht aufhören, sich zu bewegen, sonst wird man beton. und so laufe ich und laufe und während ich laufe, fällt es mir endlich auf: ich laufe und laufe nicht rückwärts, doch fühlt es sich gerade so an»
Kathrin Röggla verbindet Stadt- und Textarchitektur, sie vermisst in diesem klug inszenierten und rasant geschnittenen literarischen Dokumentarfilm unterschiedlichste Räume, private und öffentliche – Kneipen, Arztpraxen, Wohnungen, das Land Brandenburg – und immer wieder auch die Zwischenräume zwischen den Menschen, die sich in zufälligen Begegnungen mehr verfehlen als treffen. So reflektiert eine junge Frau einmal geradeheraus – freilich nur im stillen Selbstgespräch:
«das ist aber kein sex, hatte sie eben ausrufen wollen, was du da machst, das sind höchstens nebengeräusche, nebenentwicklungen unter der haut. richtiger sex sieht anders aus. richtigem sex muss man auch beiwohnen, hatte sie hinzufügen wollen, so wie er unter ihr lag und ein ernstes, beflissenes gesicht machte. doch so gut kannte man sich auch wieder nicht … und weiter wenn man fickt, vermeint man was zu erleben, da steht ganz gross gebucht drauf, der direktflug ins andere gesicht, doch man stellt ja schliesslich kein naherholungsgebiet für andere dar.»
Satirisch brillant und soziologisch träf trifft Röggla den Tonfall, das ist genau abgelauscht und in einen unverwechselbar eigenen Rhythmus transformiert:
«sind wir ja alle global geworden, nachbarn auf beiden seiten quasi… nachbarschaft aufbauen, so heisst die bewegung. ausserdem gibt es keine klassen mehr, es gibt ja nur noch konsumgruppen, deren teilnehmern man unterstellt, permanent ihre geschmacksrichtung zu verfehlen. und was man heutzutage für ein kind hält, hat meist die besten jahre schon hinter sich, da ist nichts mehr rauszufiltern, was irgendwie authentisch wäre …»
Authentisch, diesen Begriff gilt es sich zu merken.
In ihren in unterschiedlichsten Sozio- und Idiolekten dicht und mit Sinn für Situationskomik komponierten Erkundungstexten interessiert sich die Autorin hartnäckig auch für jene, die in der neu-alten Hauptstadt zunehmend an den Rand gedrängt werden, ja selbst an der Peripherie kaum mehr über die Runden kommen. So witzig und sprachspielerisch Kathrin Röggla schräge und schlingernde Verhältnisse in den Blick nimmt, so bitter und unerbittlich sind ihre Befunde, welche die Lesenden erstmal zu verdauen haben. Beinahe als schöner Irrläufer oder eleganter Findling findet sich plötzlich inmitten reichlich absurder oder tragikomisch-grausamer Szenen auch eine Seite schiere Poesie – auch das kann die Preisträgerin. Hören Sie einen Ausschnitt:
«nachts, wenn die vögel ganz laut schreien, so gegen fünf uhr, (wenn der himmel langsam wird), wird der himmel langsam weiss, wenn die vögel laut schreien in den bäumen in den baugruben, wenn die flutlichter die einzigen sind, die noch übrigbleiben am himmel, und doch schon eine neue helligkeit ensteht, kippt auch die müdigkeit um in eine hellwache aufmerksamkeit für einen moment …»
Ganz bewusst, meine Damen und Herren, habe ich bisher aus einem einzigen Buch eine Reihe höchst unterschiedlicher Textproben gewählt, um Ihnen Originalität und Qualität des vielseitigen schriftstellerischen Schaffens unserer Preisträgerin zum Auftakt vor Augen zu führen.
Klug führt Kathrin Röggla Regie in dieser bild- und sprachmächtigen Berlin-Enquête, und ist vielleicht als Person mitporträtiert in jener Frau, von der es heisst, sie «möge menschen, die für was einstünden, eine position bezögen, die seien ihr sympathisch, die zögen sie an, und während man allgemein sich schon sicher gewesen sei: anything goes! habe sie zu denen gehört, die auf ihrer ästhetik bestünden.»
Postmoderne Beliebigkeit und Popliteratur, wie sie in jenen Berliner 90ern kurzzeitig Konjunktur hatten, sie liegen Kathrin Röggla so fern wie nur irgend eine literarische Strömung.
Ihr Blick auf Berlin ist im übrigen einer von innen und von aussen. Denn sie lebt zwar seit einem guten Dutzend Jahren dort, zunächst in Steglitz, dann in Kreuzberg, seit bald 9 Jahren nun in Neukölln – neuerdings im Wechsel mit Zürich wo sie am Neumarkt-Theater gleich mehrere Stücke herausgebracht hat. Geboren und aufgewachsen ist sie jedoch in Salzburg, dort hat sie die Schulen besucht, das Studium begonnen und erste Theatererfahrungen gesammelt, ehe der Sprung nach Berlin erfolgt ist.
Debütiert hat Kathrin Röggla mit dem Prosa-Band «Niemand lacht gern rückwärts». Das Buch erschien 1995 im Residenz Verlag, damals eine literarische Topadresse, und demonstriert bereits ihr Insistieren auf einer eigenen Aesthetik: Das sind freche, mit der Sprache experimentierende Szenen aus jungen Leben, in denen ein «lebenslauf» gesucht wird, und wo die Schreibende schon im allerersten Satz weiss:
«alles lässt sich zweimal erzählen, in gelb und in grau».
Es sind Szenen, in denen selbstbewusst Ansprüche an sich, ans Leben ans Du gestellt werden:
«ach franz, das leben heisst doch nicht etwa einfach in der luft stecken und fertig damit».
Bereits hier profiliert sich die Autorin auch mit Exkursen ins Hyperrealistische, ins beinahe Surreale:
«immer schon wollte ich mir ein holzhaus bauen im grünen und nagen daran, täglich das wildschwein anhalten und von ihm abbeissen und nur ein schmetterlingswurf entfernt ist die quelle, an der man saugen kann, bis der tag sich bricht. jeder gute film ist doch mit einem naturbild beendet, jedes kind kennt doch den schluss in heidelbeeren.»
Diese Passage steht in der langen Schluss-Erzählung des Bandes mit dem Titel «Freak-Franz» Spürbar ist hier der Formwille einer Autorin, die mit Verve und Tempo und einem ausserordentlichen Gefühl für Rhythmus der Welt ihren eigenen eigenwilligen Sprachstrom entgegenstellt. Übrigens konsequent in Kleinschreibung gesetzt. Das betont den Kunstcharakter dieser Texte, den Materialcharakter 1997 folgt mit „Abrauschen“ der erste Roman, auch er setzt in Berlin ein, der grösste Teil der 45 kurzen Kapitel spielt indes in Salzburg, wo eine Erzählerin in ein merkwürdiges Beziehungsdreieck verwickelt, ein ererbtes Haus zu verkaufen sucht, sich mit Kindheits- und Schulerinnerungen konfrontiert sieht und dann zurück nach Berlin aufbricht, beinahe flüchtet.
«du weisst ja nicht, wie es ist in so einer mädchen schule, einer salzburger kreditanstalt des katholischen geistes, da hängt man sich noch an jedem strohhalm auf, und zwar mittels vespa, mittels karton im gesicht. das ganze dann abgesegnet von so einem huhn an direktorin: klimaanlage statt augen, dampfabzug statt hirn»
Zu spüren ist da noch viel Abstossungsenergie aus der Enge der Provinz – aus Salzburg, welches die Autorin bis heute mehr klerikal als bürgerlich bestimmt sieht. In einer weiteren Kindheitsvignette enthüllt sich – vielleicht gar hinter dem Rücken der Autorin – eine Art Sinnbild für ihr poetisches Verfahren:
«seit meinem neunten lebensjahr war meine kindheit wie auf diesem bett sitzen und einen fernseher von der seite betrachten, während er läuft, nur einen kleinen streifen vorgewölbten glases sehen, wie sich darauf etwas bewegt, wie eine zahnreihe, keine bilder, man sieht gerade noch die bewegung und eine gedrängte ansammlung von farbflecken, aber keine direkte wahrnehmung des geschehens.»
Die indirekte Wahrnehmung und Darstellung von Geschehen und ebenso von Nicht-Geschehen, der verzerrte und doch enthüllende Blick von der Seite kennzeichnet das Schreiben dieser Autorin.
Nach «Abrauschen» folgte das zu Beginn besprochene Buch «Irres Wetter». Es markiert den Durchbruch der Autorin. 2001 begab sich Kathrin Röggla zu Studienzwecken nach New York und erlebte, einen Kilometer vom World Trade Center entfernt, den 11.September. Von verschiedenen deutschen Blättern angefragt, schrieb sie in den ersten Tagen und Wochen nach den Terrorattacken zahlreiche Beiträge, die sie noch im gleichen Jahr zum Bändchen «really ground zero» bündelte, ein Schnellschuss scheinbar – doch welch frappierend treffsicherer! Aus dem Abstand der paar Jahre seit dieser Veröffentlichung wird die herausragende Qualität dieser Texte noch deutlicher als im Moment ihres Erscheinens.
«jetzt habe ich also ein leben. ein wirkliches.»
Mit diesem, einem typischen Röggla-Eröffnungs-Satz beginnt der erste Text, verfasst fast unmittelbar nach dem neutral «Geschehen» genannten Einsturz der Twin Towers. Und schon sind wir mittendrin in der prekären Wahrnehmung von Wirklichkeit. Wie sich zurechtfinden in dem „Haufen Authentizität“, in den man plötzlich geworfen wird?
«genau das war ja der punkt … was ich damit mache, mit diesem haufen an authentizität, mit diesem scheinbaren aufgehen in einem ereignis, in diesem zu grossen bild…
auf einmal war nicht mehr sicher: wo fängt die persönliche hysterie an, wo die kollektive und wo ist eine reale gefahr. das kommt man nicht mehr auseinanderhalten, das war auch nicht entscheidbar sein für eine lange zeit.»
Mit solch skeptisch-selbstkritischer Grundhaltung zieht Kathrin Röggla als Beobachterin durch Manhattan, nimmt an Kundgebungen teil, registriert Desinformation und Zensur in den Medien und überzeugt, etwa durch die Schilderung der so unvermeidlichen wie komisch-peinlichen Schweigeminute, wie sie die Bush-Administration im Fernsehen zelebriert:
«dagegen ist kein kraut gewachsen, gegen die tv-schweigeminute. um 8.48. vor einer woche also. man zeigt nicht nur schweigende leute, man zeigt hauptsächlich herrn bush beim schweigen. d.h. wie er zum schweigen hingeht, sich dort hinstellt. man zeigt, wie ein leichtes schweigegerangel entsteht um ihn. ja vorne gibt es ein kleines durcheinander, als ob es einen moment nicht klar wäre, wer in der ersten reihe der schweigeminute stehen darf. der präsident aber bleibt straight auf seinem weg dorthin. er hält das jetzt durch, er wird jetzt gleich sein schweigen durchziehen, und sein gesicht muss das jetzt schon andauernd herzeigen. und dann ist sie schon da die schweigeminute, die dann doch eher eine schweiegesekunde war, denn sein mund klappt schon wieder auf»
Rasch tritt neben die sensible Beobachtung, welche angesichts einer irrealen «Wirklichkeit» das Ringen um eigene Selbstvergewisserung einschliesst, die politische Reflexion darüber, wie man in jenen Tagen
«der ideologie bei der arbeit zusehen kann», «ja, dass man den begriff ‹ideologie› wieder schneller in den mund nimmt… weil er sich sichtbar macht, wie selten zuvor … aber seltsam wirr. feindbilder werden hektisch aufgebaut und wieder abgebaut. begriffe schliddern. kontexte schlingern, verschwinden, tauchen anders auf.»
Klänge es nicht makaber, wäre von einem Glücksfall zu sprechen, dass ausgerechnet diese Autorin mit ihrem Erkenntnisinteresse an politische Rhetoriken, an Alltagssprachen, am Wirklichkeitsbegriff der Medien zu dieser Zeit an diesem Ort war.
Ihre nachdenklichen ‘mental maps’, ihre Bewusstseinsgeografie aus dem aufgewühlten New York und ihr Festhalten der Reaktionen der Herrschenden bilanziert sie als den «versuch, aus diesem haufen an ideologemen, aufgebrochenem vokabular, kontextverschiebungen, rhetorischen operationen, schrägen übesetzungen einen überblick zu bekommen?.also vom haufen der authentizität zum haufen der begriffsverschiebungen? – das ist das spannungsfeld der schreibenden. was kann man anders, als darin herumzudümpeln. – aber überblick gibt’s doch nicht. – ach was.»
So lautet der letzte Satz des Buchs – und natürlich ist er viel zu bescheiden, denn was Kathrin Röggla in „really ground zero“ leistet, ist weit mehr als Herumdümpeln – sie macht die eigene Irritation ungeschminkt klar, sie zeigt die fatalen Folgen blinder und plumper Machtpolitik und enthüllt plausibel die Überforderung der Medien, die statt Fakten in eine Mélange von Fake und Mimikry verwickelt werden. Im Theaterstück „Fake reports“ hat die Autorin diese Erfahrungen mit inszenierter ‘Realität’ dann in schlagende Szenen und Bilder zugespitzt.
Diese Hinwendung zum Theater, auch zum Hörspiel, kennzeichnet das insgesamt stark mit dem Dialogischen arbeitende Schreiben unserer Preisträgerin zumal in den letzten Jahren. Ihr vor einem Jahr erschienenes, vorerst letztes Buch «Wir schlafen nicht» kam praktisch gleichzeitig auch als Hörspiel im Radio und als Stück auf die Bühne. Worum geht es in dieser «Gespenstergeschichte» wie Kathrin Röggla sie ironisch selbst genannt hat? 6 Personen aus verschiedenen Hierarchie-Stufen der Branche der Unternehmensberater mit ihren exotisch anmutenden Funktionsbezeichnungen vom partner über den senior-associate zur on-line-redakteurin und key-account-managerinvom it-supporter bis zur praktikantin, 6 Personen, führt der Zufall auf einer Fach-Messe der Kommunikationsbranche zusammen. Dort finden die 6 Personen ihre Autorin. Und zwar rückt diese ihnen als Interviewerin mit ungewohnten Fragen zu ihrer Arbeit, ihrem Leben auf den Pelz. Die Fragen selbst spart der Text aus: Was wir lesen oder hören, sind die Antworten, dazu übersetzt in indirekte Rede, also im Konjunktiv wiedergegeben.
Dieses Verfahren macht zum einen das Absurde, ja Wahnwitzige mancher Aussagen deutlicher, zum andern erlaubt es eine Zuspitzung des Gesagten durch Verdichtung, Rhythmisierung und Variation. Damit stellt Kathrin Röggla ihren Stoff in einen literarischen Raum; es handelt sich nicht um schriftliche fixierte Mündlichkeit, sondern um eine Kunstsprache, ein Hybrid aus dialogischen Versatzstücken, Leerstellen, Wiederholungen. Die dokumentarische Basis für die 6 eher als Typen denn als Figuren gefassten Stimmen bilden zwei- bis vierstündige Interviews, welche Kathrin Röggla mit 24 solcher ‘topüberzeuger’ aus der Consultingbranche geführt hat. Aus diesem immensen Material hat sie ein beklemmendes Abnormitäten-Kabinett geformt vom ganz normalen Wahnsinn im Wirtschaftsleben dieser Tage. Hinter den zunächst aufschneiderischen, doch zunehmend verzagteren Selbstdarstellungen werden zuletzt Einsamkeit und Verzweiflung spür- und hörbar.
Als Ort der Handlung ist der Unort einer irgendwo neben einem Flughafen hochgezogenen Messehalle überaus stimmig: mit ihrem permanenten Geräuschpegel, ihrem konstanten Stimmen- und Durchsagenrauschen verdeutlicht sie Abstraktheit und Anonymität dieser Berater-Tätigkeit, die ja stets auf Restrukturierungen zum Zwecke der Profitmaximierung zielt, ohne Rücksicht auf Betroffene. Diese Branche steht auch exemplarisch für neoliberale Gedanken.
Nirgends lässt sich schöner demonstrieren, wie Kommunikation grandios scheitert, als gerade im «Kommunikationsbusiness». Hier wird nurmehr uneigentlich gesprochen und kaum ein Wort unabhängig von komplizierten strategischen Interessen geäussert – alles scheint Rollen’spiel’ und ist doch für die Betroffen auch ‹blutiger Ernst›.
«müsse er zugeben: ein wenig geistesgestört seien die arbeitszeiten schon. man mache ja locker 14 stunden, wenn nicht gar 16 oder mehr.
die devise ‹schlafen kann ich, wenn ich tot bin›, würde er jetzt nicht so direkt adaptieren, das habe man ja eher früher gesagt, ‹so mitte der neunziger, war das die devise schlechthin› … nee, schlafen sei nicht schick, ‹das kommt nicht so gut›, wer schlafe, sei auch schlecht beraten, so als berater (lacht). ‹also wenn man um 18 uhr geht, kommt üblicherweise der spruch, ob man sich einen halben tag freigenommen habe?› motto: wer hält am längsten durch. er habe sich ja zeitweise runterdimensioniert auf drei stunden schlaf.»
Arbeitswut und Arbeitssucht kennzeichnen diese Arbeitszombies in einem Ambiente, wo «verschiedene unwirklichkeitsgrade friedlich koexistieren», wie die unbezahlte Praktikantin wahrnimmt – sie ist die einzige, die zum Schluss aussteigt. Die anderen schaffen das nicht.
In subtiler Komposition und mit rhythmischer Geschmeidigkeit hat Röggla aus dem Steinbruch des Gesprächsmaterials im langen Prozess des Schreibens und Wiederschreibens einen äusserst dichten Montagetext geformt – der an der Oberfläche oft mit Witz brilliert und in der Tiefe durch gescheite Analyse überzeugt. Zugleich beweist dieses Buch, wie selbstverständlich das Szenische zur Textarbeit dieser Autorin gehört. Was ihr in «Wir schlafen nicht» gelingt und genuin auch in den nachfolgenden Theaterarbeiten wie dem in Zürich gezeigten Stück «Junk Space» über Angst – exemplifiziert an der Flugangst von Managern – oder im eben bei den Wiener Festwochen uraufgeführten Auftragswerk «Draussen tobt die Dunkelziffer» über die zunehmende Verschuldung und Überschuldung von Konsumenten und Staat – was ihr sukzessive gelingt, ist die sprachliche Ausformung dessen, was man «Jargon der modernen Eigentlichkeit» nennen könnte. Wobei sich dieser Jargon in ihren Büchern und Stücken virtuos ausgedrückt und zugleich listig kommentiert findet. Ein Jargon, der auf dem Hintergrund der totalen Ökonomisierung aller Lebensbereiche unreflektiert mit Begriffen wie «Naturgesetze des Marktes», «Humankapital» hantiert, der Unvereinbares vereinnahmt, Komplexes scheinbar auf den buchhalterischen Begriff bringt, die Sprache dem Individuum enteignet, entfremdet.
Als «Naturalismus plus Sprachkritik» hat die Autorin selbst vor kurzem ihr Interesse daran benannt: zu zeigen, wie die Herrschaftstechnologien unserer Sprache aktuell funktionieren.
«Ich will das Projekt Aufklärung weiterdenken» hat sie einmal bekannt – fast selbst erschrocken vor dem Pathos dieses Satzes, aber völlig zutreffend.
Als «zentrale Chiffre unserer Zeit» sieht Kathrin Röggla dabei den Begriff der Authenizität, dem wir als Frage der medialen Glaubwürdigkeit in «really ground zero», als inszenierte Haltung der Berliner Population in «Irres Wetter» und ebenso im Rollenverhalten der Unternehmensberater in «Wir schlafen nicht» bereits begegnet sind. Glaubwürdigkeit zu erzeugen ungeachtet der Faktenlage, aufgrund klarer Interessen- und Interpretationsverhältnisse, dieses Muster denunziert die Autorin in Politik und Wirtschaft. Und wenn Kathrin Rögglas literarische Arbeit Vorbilder hat, dann neben Hubert Fichte vor allem den Büchner-Preisträger, Filmer und Fernsehmacher Alexander Kluge mit seinem Insistieren auf dem Begriff konkreter Erfahrung.
«Erfahrung», wie Röggla interpretiert,«als eine art Widerstandsbegriff gegen die tödlichen abstraktionen, denen wir im historischen prozess unterworfen sind.»
Sinnliche Erfahrung als Gegengift zur immer abstrakteren Arbeitswelt, das ist, was Kathrin Röggla schreibend vermittelt – ohne sich in eine retrograde Schreibtischeinsamkeit zurückzuziehen, sondern indem sie sich austauscht, den Dialog sucht.
«mir war die authentische mündlichkeit immer wichtig einerseits, weil in ihr die betonung des sozialen steckt, des zwischenmenschlichen …
ich höre wie sehr ich an der authentizität hänge, an dem moment der artikulation, am prozess: ich war immer eine freundin des stotterns.»
Insofern hätte ich hier keine Ansprache halten, sondern mit Kathrin Röggla ein Gespräch führen sollen – einen Diskurs beispielsweise zu Michel Foucault und seinem zentralen Begriff der Gouvernementalität, den Kathrin Röggla mit ihren jüngsten Arbeiten auf der Bühne veranschaulicht, in literarischen Sprachbildern, Sprachfiguren und -Räumen kongenial adaptiert und verständlich macht. Dazu ist hier freilich nicht der Ort. Dass sie ihr Schreiben fraglos als politisch versteht, hat sie jüngst in ihrer Dankesrede beim Kreisky-Preis unterstrichen:
«das literarisch-ästhetische ohne seine spannung zum politischen zu denken, scheint mir jedenfalls unmöglich, das hat zunächst ganz banal etwas mit der gerichtetheit der texte zu tun, sie sind kommunikationen, also ist ihnen auch ein soziales verhältnis eingeschrieben. es kann nicht darum gehen. diese spannung zwischen ästhetik und politik zu entschärfen, sondern im gegensatz scharf und sichtbar zu machen.»
Nun ich hoffe, meine Damen und Herren, es ist ein bisschen deutlich geworden, welche Faszination von Rögglas Texten ausgeht, welches intellektuelle und sinnliche Vergnügen ihre Lektüre bereitet – dank ihres phänomenalen Sprachbewusstseins und dank ihres originären, eigenwilligen, oder – sagen wir in Reverenz an Alexander Kluge besser – dank ihres höchst eigensinnigen Denkens!
Wofür zeichnen wir Kathrin Röggla heute aus:
- Für die enorme Vielseitigkeit eines in wenigen Jahren gewachsenen, bereits sehr umfangreichen Oeuvres, das – in Kenntnis der Tradition der Moderne und zumal der österreichischen Experimentalliteratur des 20. Jahrhunderts ebenso wie basierend auf enormem theoretischem Wissen doch jederzeit eigenständig sich den drängenden gesellschaftlichen Fragen der Zeit stellt.
- Für die selbstbewusste, ästhetisch ambitionierte Art, mit der sich Kathrin Röggla, belesen, klug, verbindlich an die literarische Ausgestaltung dieser Fragen wagt: Mit einem auf Anhieb eigenen Tonfall, mit einer so artistisch so reifen wie reichen Kunstsprache entwickelt sie Sprachkritik als Ideologiekritik auf höchstem Niveau. Virtuos straft sie damit Unkenrufe von der unpolitischen Beliebigkeit der «jungen Literatur» Lügen!
- Wir zeichnen Kathrin Röggla aus für den souveränen Gestaltungswillen, mit dem sie, was sie durch genaues Hinsehen, durch Recherche und Reflexion an Einsichten erworben hat, in komplexe und innovative literarische Formen zu giessen versteht, in überraschende Sinn-Bilder für rasch wechselnde Kontexte und Verhältnisse.
- Für die Opulenz.und Stringenz der Tonlagen, mit denen sie ihre Themen facettenreich auszubreiten weiss – subtil und mit einer humanen Komik, die nie denunziert, sondern sich für die Fallhöhe und die Fallenden empathisch interessiert.
- Schliesslich für ihre Neugier und Experimentierlust, ihre Wachheit, mit der sie auf dem Hintergrund offen angeeigneter Tradition mit wunderbarem Eigensinn am Projekt der Aufklärung weiterarbeitet, ausgestattet mit ausserordentlichem Sprachvermögen und eindrücklichster Sensibilität. Angesichts des jugendlichen Alters der Ausgezeichneter verbinden sich mit unserer Preisvergabe auch schönste Erwartungen für ihr künftiges Werk!
Herzlichsten Glückwunsch also, liebe Kathrin Röggla zum Solothurner Literaturpreis 2005!
Ich sage das auch im Namen meiner Jury-KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer: auch diese Laudatio fusst auf den Ueberlegungen von uns dreien. Jury-Wahl und Begründung erfolgen in höchst angenehmem Teamwork, wofür ich beiden herzlich danken möchte. Ein weiterer Dank von uns dreien gilt den Sponsoren für die Freiheit, in der sie uns wirken lassen, auch dies eine problemlos unkomplizierte Zusammenarbeit.
Ferner danke ich Frau Aebi und Herrn Egli für die grosse Arbeit der Organisation des heutigen Anlasses und last but not least – Franz Tröger für die höchst originelle musikalische Begleitung.