Laudatio auf
Karen Duve
Sehr verehrte Damen und Herren,
lieber Kurt Fluri, lieber Walter Pretelli,
liebe Karen Duve,
Im Vorfeld der Solothurner Literaturtage kam der Vorwurf auf, dass die eine oder andere wichtige weibliche Stimme hier nicht präsent sei. Es war von Machtstrukturen die Rede – speziell im Literaturbetrieb; von einer Mehrheit an Frauen, die an den männerdominierten Schaltstellen keine Chance haben (Stichwort: «alte weisse Männer»); Studien und Statistiken dazu gibt es in Hülle und Fülle.
Das Beispiel Solothurn ist vielleicht nicht das beste Beispiel, um diese wichtige Diskussion zu befeuern. Denn Sie, Karen Duve, sind hier – eine Autorin, die uns Lesende in ihrem so facettenreichen, klugen und uns stets überraschenden Werk dazu auffordert, ja dazu zwingt: hinzusehen, nicht zu kneifen vor wichtigen Debatten; zu benennen, was zu benennen ist.
Sie werfen den Blick auf die Verhältnisse um uns, aber Sie werfen Ihren präzisen Blick auch auf die Verstrickungen in jedem und jeder von uns. Diese von Ihnen ausgelöste schonungslose Zurückwerfung auf uns selbst ist allein schon einen hohen Preis wert – und ich freue mich sehr, dass ich Ihnen heute diesen Solothurner Literaturpreis im Namen auch meiner beiden Jury-Kollegen Hanspeter Müller-Drossaart und Lucas Gisi überreichen darf. Vor fünf Jahren haben Sie uns in Ihrem Buch «Warum die Sache schiefgeht» erläutert, dass die Menschheit sich gerade selbst abschaffe. Und dass die vielen Männer, die am Drücker seien, wider besseres Wissen nichts dagegen unternähmen. Es sei kein Buch, mit dem Sie recht behalten wollten, sagten Sie damals. Und Sie fragten sich, wo die Demonstrationen der Jungen gegen die Klimapolitik der Alten blieben? – Jetzt sind sie da.
(zu Publikum) Nicht nur das Verhältnis der Menschen untereinander treibt Karen Duve um, auch das zu den Tieren. In «Anständig essen» prangerte Karen Duve vor knapp zehn Jahren den Verzehr von Tieren an, die heute bekanntermassen nur noch reine Industrieprodukte sind. Ein selbstkritisches Experiment, in dem die Autorin ihren Weg von der Fleisch-Esserin über die Vegetarierin, Veganerin bis hin zur Frutarierin schildert – und ein Huhn adoptiert. Auslöser dafür übrigens: eine «Grillhähnchenpfanne für 2,99 Euro».
(zu Duve) Es ist aber weniger Ihre prophetische Gabe, die die Jury überzeugt hat. Es ist Ihre unvergleichliche Viel-Stimmigkeit, Ihre Viel-Seitigkeit, Ihre Viel-Deutigkeit und Ihr unberechenbarer Mut zum literarischen Experiment.
(zu Publikum) Ein Werk aus Romanen – autobiographisch oder historisch grundiert, Science Fiction, Märchen, Kurzgeschichten, Kinderbüchern, Bilderbüchern, einem Lexikon, Essays, und eben: Sachbüchern. Kein Buch gleicht dem anderen. Und trotzdem passt jedes Buch zu Karen Duve – kommt aus ihr heraus, hallt gewissermassen in ihr Leben zurück und in das ihrer Leserinnen und Leser hinein.
Karen Duve betrachtet die Welt mit kritischem, mit streitbarem und zugleich humorvollem Blick – diese drei Eigenschaften kann man nicht deutlich genug betonen: kritisch, streitbar und humorvoll – und vielleicht darf ich zu diesem «streitbar» ergänzen: Karen Duve fordert zu Widerspruch heraus! Wer angreift, ist angreifbar, entsprechend kontrovers ist die Rezeption mancher ihrer Positionen, Bilder und Gedanken.
(zu Duve) Wenn Sie uns den Spiegel vorhalten, dann schmerzt es – auch und gerade wenn Sie die verheerenden Auswirkungen unseres Tuns in die Zukunft verlegen.
(zu Publikum) Deshalb ein Wort zu Karen Duves vorletztem Roman mit dem Titel «Macht»: Wir schreiben das Jahr 2031. Gesellschaftlich durchgesetzt haben sich zwar Feminismus, Veganismus und ewige Jugend, dennoch steht der Planet wegen des Klimawandels und der Umweltverschmutzung kurz vor dem Kollaps.
Dies alles erfahren wir aus der Ich-Perspektive eines Psychopathen, der Frauen einsperrt, foltert und vergewaltigt, weil er wieder zu seinem Recht als Mann kommen zu müssen glaubt. «Manchmal muss man eine Frau zerstören, wenn man nicht von ihr zerstört werden will», heisst es da. Denn: «Es gibt keine Gleichheit zwischen Männern und Frauen, es gibt nur Sieger und Besiegte.» Karen Duve hält uns in dieser Verrückten-Welt gefangen, die bei aller Verrücktheit unangenehm vertraute Bezüge zu unserer Gegenwart zeigt. Und: sie provoziert.
Manche Rezensentinnen und Rezensenten reagierten entsprechend verschreckt – ich erspare Ihnen allen und vor allem Ihnen, liebe Karen Duve, die betreffenden Zitate aus der Presse. Dass eine Autorin so viel Distanz zu ihrem Erzähler einnehmen kann und uns Lesende derart ungeschützt den Bosheiten ihrer Figuren aussetzt, verunsichert offensichtlich auch gestandene Kritikerinnen und Kritiker.
(zu Duve) – Und das wiederum spricht doch sehr für Ihre Literatur und deren Dringlichkeit.
(zu Publikum) Und weil wir hier einen Literaturpreis vergeben, möchte ich insbesondere diese literarische Seite von Karen Duve heute würdigen.
Vor einigen Wochen schrieb ich meinen beiden Jury-Kollegen Lucas Gisi und Hanspeter Müller-Drossaart in einer Mail: «Ich möchte in meiner Laudatio gern Duves Geschick für den Perspektivenwechsel ins Zentrum stellen». Hanspeter bat mich daraufhin, das zu erläutern: «Meinst du ihre Begabung, zwischen Humor, Satire und moralisch-ethischer Angriffigkeit zu wechseln? Oder meinst du ihre Verspieltheit (siehe die Verdrehungen und «unsauberen» Neufassungen von den Märchen in «Grrrimm»)? Oder meinst du ihre Ausflüge ins Roadmovie «Taxi»? – Auffallend jedenfalls, wie Duve in jeder Welt, die sie kreierend beleuchtet, aufs Ganze geht. Fast wie eine Schauspielerin, die sich im grossen Welttheater erprobt», schrieb er weiter. Und genau das alles war es, was ich meinte. Und noch viel mehr. Da ist diese Fähigkeit, sich kompromisslos in die eine Sprache zu begeben. Wie eine zweite Haut legt Karen Duve ihre Sprache über die Welten und Figuren, die sie erschafft.
Natürlich kann beispielsweise die Empathie für Figuren kein Alleinstellungsmerkmal einer Autorin/eines Autors sein, sie gehört ja gewissermassen zum Kern jedes literarischen Schaffens. Und es gibt einige spannende Autorinnen und Autoren, die einen kritischen Blick auf die Verhältnisse, wie sie sind, werfen und reflektieren, was wir selber dazu beitragen.
(zu Duve) Aber wie Sie über Ihre Sprache neue ästhetische Wege einschlagen und existentielle Fragen angehen, mit Ihrem Ton, den Worten und Bildern, die Sie jeweils passend zum Thema finden, ist unverwechselbar, einzigartig und wegweisend. Am Ende glaubt man Ihnen jedes Wort, auch das erfundene.
(zu Publikum) Der Perspektivenwechsel geht aber noch viel weiter. «Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.» Dieser Satz des französischen Künstlers Francis Picabia steht gewissermassen Pate für Karen Duves verspielte literarische Experimente, für ihren rigorosen Mut, für ihren scharfen Blick auf die Verhältnisse, die sie immer wieder anprangert und aufzubrechen versucht. Dabei lässt sie sich – so scheint es mir wenigstens – nicht beirren von den Erwartungen des Feuilletons oder der Leser – und vermutlich sogar weder von ihrer Lektorin Esther Kormann noch von ihrem Verleger Wolfgang Hörner.
(zu Duve) Ein breites Werk ist es, das Sie in den letzten drei Jahrzehnten geschaffen haben – deshalb werde ich heute nur drei Rosinen daraus picken. (- Ich frage mich gerade, ob ich Ihnen mit dem Begriff «Rosine» gerecht werde? Das klingt wie «Fräuleinwunder» etwas süsslich – müsste ich nicht vielmehr von «Nadelstichen» sprechen?)
(zu Publikum) Trotzdem, Rosine Nummer 1: Der «Regenroman», der vor 20 Jahren erschienen ist und als Beginn von Karen Duves «Karriere» gilt – die Wochenzeitschrift der SPIEGEL reihte Duve damals in das selbst erfundene Phänomen des «Fräuleinwunders» ein. – Dass ausgerechnet Karen Duve als «Fräulein» bezeichnet wurde, nach ausgerechnet diesem Buch, zeigt schon, wie lächerlich dieser Versuch war, Literatur von jungen Frauen zu kategorisieren …
Ihr «Regenroman» ist ausserdem alles andere als harmlos. Das Buch beginnt als heitere Burleske: Martina und Leon ziehen aus Hamburg in ein verfallenes oder vielmehr zerfallendes Haus in der Nähe eines ostdeutsches Moores. Leon ist ein mässig erfolgreicher und sich selbst permanent überschätzender Schriftsteller. Ein Versager, der sich für einen Gewinner hält. Er sucht das idyllische Lebens-Glück auf dem Lande, und um sich das zu ermöglichen, schreibt er im Auftrag eines dubiosen Hamburger Unterweltskönig und Boxers dessen Biographie. Martina ist eine «langbeinige Schönheit mit Rennpferd-Eleganz», wie es im Buch heisst, doch der Schein der Perfektion trügt, und nicht nur hier. Soviel vorab: Es wird nicht gelingen. Das abgründige Drama endet in der totalen Katastrophe.
Es regnet und regnet und regnet. Die Frage ist, ob Leon und Martina im Regen ertrinken oder im Moor, das sie umgibt, ersticken. Sie versinken also buchstäblich im Morast. Auch im Morast ihrer Beziehung, in der die beiden keine Luft mehr kriegen. Ersticken tut aber vor allem Leon, und zwar an sich selbst und an seiner Sexualität. Die gigantisch adipöse Nachbarin Isadora verführt ihn wie eine sinnlich-monströse Sumpfnymphe, und er absolviert diese Begegnungen in latenter Verzweiflung und aggressiver Not, ein Ergiessen ins Endgültige. Hinzu kommt eine Schneckenplage, die die Gegend und die Neuankömmlinge quasi überkriecht.
Das feindlich gesinnte Wetter, die Schneckenplage, das alles verschluckende Moor. – Wenn es der Mensch nicht schaffen sollte, sich gegenseitig zu vernichten, gibt es ja noch die Natur. «O nein, die Natur war nicht lieblich. Sie war böse, undiszipliniert und dreckig, und sie war Leon und seinen Anstrengungen und Hoffnungen grundsätzlich feindlich gesinnt. Sie wollte ihn zermürben und demütigen», heisst es da. Einzig der zugelaufene Hund mit dem fast schon prophetisch klingenden Namen «Noah» scheint sich um das alles nicht zu scheren.
In ihrem Erstling legt Karen Duve eine Spur, der wir in ihren späteren Büchern weiter folgen werden. Und diese Fährte führt uns Lesende direkt in unsere eigenen Abgründe: in die Verhältnisse der Menschen zueinander, zur Natur und zu Tieren.
Wenn Karen Duve nicht so unterhaltsam, lustvoll, grotesk, ironisch, humorvoll, bildstark und sprachmächtig schreiben würde – die Begegnung mit unserer Spezies Mensch liesse sich nicht aushalten.
Rosine Nummer 2: «Taxi», Grossstadt-Roman und Kammerstück zugleich. Alex, eine junge attraktive Frau, flüchtet sich aus Protest gegen ihr Elternhaus ins Taxi-Gewerbe. Dort begegnet ihr eine Clique von Männern, die Nietzsche und andere Philosophen lesen. Auch das ziemliche Chauvis übrigens. Einer dieser Kollegen sagt an einer Stelle (und ich vermute mal, dass Karen Duve gerade diese Figur nicht ohne Grund stottern lässt): «Für eine Frau ist es ja sowieso schwer, den Charakter eines Mannes zu begreifen, dazu müsste sie sich ja auf das Geistige einlassen, also auf Männliches, auf eine genuin männliche Sichtweise der Dinge, und damit würde sie sich ja selbst den Boden unter den Füssen wegziehen. Der Feminismus, wie er sich gemeinhin darstellt, ist ja ein Maskulinismus, eine frauen-feindliche Ideologie, die die Emanzipation vom Weiblichen propagiert. Dass die Emanzen das nicht selber spüren, nicht fühlen, zeigt nur, wie weit sie sich von ihrer Weiblichkeit entfremdet haben.»
Zum grossen Glück lässt sich Alex von dieser Kleinmacherei (und Dummheit) nicht durcheinanderbringen, denn sie ist alles andere als zimperlich oder weinerlich. Auf die Spiele der Männer lässt sie sich nicht ein, sie spielt nach ihren eigenen Regeln, inklusive all ihrer eigenen Schwächen und Ambivalenzen. Und die sind auch nicht ohne.
Wir begleiten den Reigen von Männern und Frauen, die ins Taxi steigen und es auch wieder verlassen – genauso wie die Männer in Alex’ Leben sich mehr oder weniger ohne voneinander zu wissen die Klinke in die Hand geben. «Taxi» ist ein lustiger Roman, und es ist ein trauriger Roman über die Beziehungen in einer Zeit der sexuellen Freiheit – oder eben gerade der Illusion davon. Auch hier geht es um Sexualität, diesmal als Machtmittel der Frau, Alex spielt mit dem Begehren der Männer.
Es ist weithin bekannt, dass Karen Duve selbst auch einige Jahre Taxi gefahren ist (13, um genau zu sein) – es geht sogar die Sage, dass der bekannte Literaturkritiker Hellmuth Karasek bei ihr im Taxi mitgefahren sei. Deshalb betone ich hier ausdrücklich: «Taxi» ist keine Reportage, so realistisch und trocken das Buch auch erzählt sein mag, man sollte sich von der schnoddrigen, bösen, unterhaltsamen Sprache und den treffsicheren Pointen nicht in die Irre führen lassen.
Es ist vielmehr ein «anthropologisches» Buch über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, zwischen Menschen überhaupt. Denn auch die Taxi-Kunden sind eine eigene Kategorie für sich, eine aufs Wesentliche konzentrierte Typisierung des Menschen unserer Zeit – diese Milieustudie ist immer noch aktuell, obwohl das Buch bereits vor zehn Jahren erschienen ist und in den 1980ern spielt.
(Und an dieser Stelle vielleicht die Warnung: Unterschätzen Sie nie Taxifahrer oder -fahrerinnen, meine Damen und Herren!)
Und Rosine Nummer 3: «Fräulein Nettes kurzer Sommer». Ihr aktuelles Buch und weit mehr als ein historischer Roman. Nur auf den ersten Blick versetzt uns dieser Roman 200 Jahre in die Zeit zurück, in die frühen Jahre der Annette von Droste-Hülshoff – als die deutsche Dichterin noch nicht berühmt war und mit zwei Männern gleichzeitig angebandelt hat.
Annette, kurz «Nette» genannt, ist in jenen Jahren Anfang 20, aus Sicht ihrer Umgebung eine kleine, kurzsichtige, leicht kränkliche Nervensäge, die alles besser weiss und das auch sagt, vorlaut und altklug also – anstatt sich beispielsweise auf die hausfraulichen Tätigkeiten der Handarbeit zu beschränken.
Annettes «scharfer und schneller Verstand», ihr eigenständiges und emanzipiertes Denken wird immer wieder unterdrückt, und zwar ziemlich rüde auch – nicht nur hier zeigt sich die Zeitlosigkeit des Stoffes. Nette besitzt alle Eigenschaften, die einsam machen. Bis zu dem Moment, wo sie Heinrich Straube kennenlernt, eine ziemlich schlechte Partei: denn Straube ist ein hässlicher Student aus bürgerlichem Hause, und Protestant noch dazu. (Hier im katholischen Solothurn versteht man das.) Einer, der Gedichte schreibt wie sie selbst auch. Nur nicht so gut. Hinters Ohr schreiben soll sie sich folgendes: «Eine Frau, die schreibt, setzt ihre Weiblichkeit aufs Spiel. Sie verkauft ihre Seele für Eitelkeit und falsches Kritikerlob, vernachlässigt ihre Pflichten und gewinnt dabei doch nichts.» Sagt August von Arnswaldt zu ihr, dessen Bekanntschaft ihr zum Verhängnis wird.
Karen Duve schildert diesen kleinen Ausbruchsversuch aus dem bürgerlichen Leben der adeligen Langeweile so ungeheuer kenntnis- und detailreich (Sie finden fast 20 Seiten Literatur-Angaben im Anhang) und dabei aber unaufdringlich, so ungeheuer lebendig und atmosphärisch dicht (und komisch übrigens auch!), dass man als Leserin oder Leser bisweilen meint, dabei zu sein.
Nicht nur das Leben der Studenten in Göttingen beispielsweise, auch die Fahrt in der Hülshoff’schen Reisekutsche ist so anschaulich und lustvoll beschrieben, dass man gemeinsam mit den Insassen in der Kutsche unwillkürlich selbst die Zähne zusammenbeisst, um sich nicht die Zunge abzubeissen. Dass man gemeinsam mit den hungrigen, ausgemergelten Bauern die Kutsche aus dem Schlamm zieht, wo sie steckengeblieben ist, so schlecht steht es um die Strassen. Und dass man gemeinsam mit diesen Bauern von den wohlhabenden, adeligen Reisenden eine Münze der Dankbarkeit entgegennimmt. – Grosses Kino!, um es mal salopp auszudrücken.
Ich wollte etwas über Karen Duves grosse Begabung zum Spiel mit Perspektiven sagen. Dieses Spiel ist nicht nur Spiel. Es beinhaltet auch ganz Existentielles, und zwar die Perspektivlosigkeit.
Sei es Annette von Droste Hülshoff, die sich gegen die gesellschaftlichen Erwartungen und Strukturen ihrer Zeit nicht durchsetzen kann; oder das erschütterte Selbstbild von Leon im «Regenroman», das sich im Moor verliert; oder die Taxi-Fahrerin Alex, die sich aus lauter Angst vor Veränderung für nichts «Richtiges» entscheiden kann und erst auf einen Schimpansen warten muss, bis sich wirklich was bewegt in ihrem Leben.
Uns Leserinnen und Leser lässt Karen Duve aber nicht hängen. Und deshalb möchte ich nach dieser unvollständigen Rosinenpickerei mit einem Zitat aus «Taxi» schliessen. Da sagt die Taxi-Fahrerin Alex: «Jedes Buch stiess mir die Tür zu einer begehrenswerten Welt voller neuer Ideen und seltsamer Gedanken auf.» Besser liesse sich meine Duve-Lektüre-Erfahrung wohl nicht beschreiben!
Das Zitat geht allerdings noch weiter, und das will ich nicht unterschlagen: «Und jedes Buch vertrat die Meinung, dass ich und meinesgleichen minderwertig und abstossend waren. Je mehr ich las, um so elender fühlte ich mich. Es war ja nicht so, dass ich vorher unter einem übersteigerten Selbstwertgefühl gelitten hätte.»
(zu Duve) Das trifft auf meine Duve-Lektüre definitiv nicht zu, nie habe ich mich beim Lesen Ihrer Bücher minderwertig gefühlt, liebe Frau Duve. Sie nehmen mich als Leserin mit in Ihre Themen und Welten, lassen mich nicht draussen vor der Tür im Regen stehen, sondern ziehen mich hinein, ins Gebäude Ihrer Literatur.
Aber dieses Zitat trifft zugleich einen Kern Ihres Schaffens, denn wenn Sie uns Lesende nicht gerade an die Hand nehmen, werfen Sie den Blick über das Eigene des Lesers/der Leserin hinaus, hinein in die gesellschaftlich gewachsenen Strukturen, die zu durchbrechen Sie mich mit Ihren Büchern anstacheln. (Und da sind wir wieder bei den Nadelstichen statt der Rosinen.) Unterhaltungsliteratur unterhält. Kluge Literatur unterhält und verstört, indem sie die Verhältnisse zeigt, wie sie sind, und uns zwingt, den eigenen Standpunkt, das eigene Tun oder Nicht-Tun und die Folgen davon zu überdenken. Und intelligente Literatur unterhält, verstört und macht uns klüger.
Liebe Karen Duve, ich danke Ihnen für Ihre intelligenten Bücher, und gratuliere Ihnen sehr sehr herzlich im Namen meiner beiden Jury-Kollegen Lucas Gisi und Hanspeter Müller-Drossaart und aller anwesenden Gäste hier im Saal zum Solothurner Literaturpreis 2019!