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    Julia Zeh

    Hans-Ulrich Probst, 22. Juni 2009

    «Schreiben hat für mich Spielcharakter. Ich habe in allen Romanen meine Figuren in möglichst extreme Situationen getrieben und geguckt, was mit ihnen und mit mir passiert.»
    «Ich möchte den Lesern keine Meinungen, sondern Ideen vermitteln.»
    «Seit es Handys gibt, haben die Menschen endlich ein Ventil gefunden, um ihre metaphysische Verlorenheit und den Grundzweifel an der Existenz zum Ausdruck zu bringen. Hörst du mich, bist du da?»
    «Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur.»

    Herzlich willkommen, liebe Juli Zeh, in Solothurn. Es erfüllt uns mit Stolz, dass es dieser Preis ist und nicht die Literaturtage, der Sie erstmals nach Solothurn führt …
    Willkommen meine Damen und Herren. Es ist mir eine grosse Freude, Ihnen mit der heutigen Preisträgerin eine der aufregendsten und produktivsten jüngeren Stimmen der deutschsprachigen Literatur vorstellen zu dürfen. In ihrem bemerkenswert breit gefächerten, poetisch vielstimmigen Werk gestaltet Juli Zeh leidenschaftlich und virtuos hochaktuelle Fragen aus Moral und Politik, Fragen des menschlichen Zusammenlebens und der Verfasstheit der Gesellschaft. Juli Zeh ist eine Autorin, welche der Literatur etwas zutraut.

    «Für mich ist es nach wie vor das höchste Ziel der Literatur, so reich und vielschichtig zu sein wie die Wirklichkeit selber»,

    hat sie bekannt und weiter betont, sie stütze:

    «… der feste Glaube, dass der Literatur per se eine soziale und im weitesten Sinne politische Rolle zukommt. Es ist ein natürliches Bedürfnis der Menschen zu erfahren, was andere Menschen – repräsentiert durch den Schriftsteller und seine Figuren – denken und fühlen.»

    Auch sich selber traut diese Autorin, die schon acht Bücher geschrieben hat, aber in einer Woche erst 35 Jahre alt wird, allerhand zu. Kennengelernt habe ich Juli Zeh vor siebeneinhalb Jahren an einem düsteren Wintertag in Leipzig. Beim Interview zugegen waren auch ihre zwei Hunde Othello und Olga, ersterer hatte sie im gleichen Jahr 2001 auf eine Reise durchs kriegsversehrte Bosnien-Herzegowina begleitet, letzterer wurde dort adoptiert und aus dem Land geschmuggelt. Wir kommen darauf zurück.

    Bemerkenswert zielstrebig und mutig, ja fast verwegen und zugleich prophetisch scheint mir die Perspektive, welche die heutige Preisträgerin damals formulierte.

    «Als ganz langfristige Perspektive, also bis ich 60, 70, 80 bin, wenn ich so alt werde, möchte ich das schreiben, was ich mir unter einem Gesellschaftsroman vorstelle, wie er vor allem zum Ende des vorletzten Jahrhunderts geschrieben worden ist. Ich hab am Anfang meiner Leserkarriere vor allem Leute wie Balzac und Zola, Tolstoj und Dostojewski gelesen und war begeistert davon, wie die es schaffen, in einem Roman eine ganze Welt, eine ganze Zeitsituation, eine ganze Gesellschaft mit hinein zu erzählen. Das ist das Buch, was ich für unsere Zeit irgendwann schreiben möchte. »

    Auf dieses Buch freuen wir uns heute schon und wünschen der Autorin ein schönes Alter!

    Nun Sie sehen, Juli Zeh, die Dichten zwar mit Sigmund Freud durchaus als «Sonderform des Tagträumens» schätzt, setzt sich hohe Ziele, und was sie bislang erreicht hat, beeindruckt.

    Doch vorweg ein paar biographische Eckdaten:
    Juli Zeh wurde am 30. Juni 1974 in Bonn geboren. Nach dem Abitur studierte sie in Passau und Leipzig Jura; noch vor dem ersten Staatsexamen begann sie parallel dazu ein Studium am mittlerweile berühmten Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, das sie gleichfalls abschloss. Nach weiteren Studien und einer Referendarzeit am Leipziger Landgericht legte sie Ende 2003 das zweite juristische Staatsexamen ab. Heute lebt sie als Schriftstellerin und freie Juristin mit Schwerpunkt Europäisches Völkerrecht im branden-burgischen Havelland unweit Berlins.

    Mit ihrer Doppelbegabung für Recht und Literatur ist Juli Zeh zu einer gefragten Stimme im öffentlichen Diskurs geworden, eine Rolle, die der überzeugten Citoyenne organisch zugewachsen ist; Politik als Form der Welterfassung und – Erklärung gehörte stets zu ihrem Leben.

    Seit sie siebenjährig ist, schreibt sie – freilich lange nur heimlich. Sie hat über Jahre hinweg unzählige Hefte gefüllt mit Geschichten, Skizzen, Szenen, Reflexionen. Aus über 2000 fragmentarischen Seiten entstand so als Abschlussarbeit in Leipzig ihr Debütroman «Adler und Engel». Das war 2001. Ein Start nach Mass im Urteil von Kritik und Publikum, ein Kultbuch zumal für junge Lesende, inzwischen in 29 Sprachen übersetzt. Um was geht es:

    Eine junge Frau, Jessie erschiesst sich während eines Telefongesprächs mit ihrem Liebhaber Max. Dieser, ein Karrierejurist in europäischen Diensten und chronischer Kokser, gerät dadurch völlig aus dem Tritt. Ihre gemeinsame Geschichte berichtet er im Rückblick Clara, einer ähnlich kaputten, knallharten Psychologiestudentin und ehrgeizigen Radiomoderatorin. Es ist eine Geschichte, die tief ins Elend der Kriege im ehemaligen Jugoslawien und seiner Profiteure führt, zu den trüben Verbindungen von Drogenhandel und Waffenhandel (drugs for guns) in Bosnien, auch im Schatten der internationalen Organisationen.
    Grelle Töne, Imponiergehabe und die vordergründige Kokain-Coolness täuschen nicht über die Sinnkrisen und grosse Verletzlichkeit der jungen Protagonisten hinweg.
    Die mythisch-kindliche Engelfigur Jessie ist von ihrem skrupellosen Dealervater ins Geschäft eingespannt worden, traumatisiert und schutzbedürftig tötet sie sich aus Angst.

    Angesiedelt ist das wie ein anhaltender Alptraum inszenierte Geschehen in der flirrenden Sommerhitze Wiens, einer Stadt, von der es heisst, sie packe einen «an den Schultern und dreht einen um, dass man immer nach hinten guckt, in die Vergangenheit« – eine offenkundige Anspielung auf Walter Benjamins Engel der Geschichte. Max wird vom warmen Wind in eine Zukunft geweht, in die er gar nicht will; hinter sich lässt er Verwüstung. Denn seinen Erfolg hat er auf Verrat aufgebaut, er hat sich mehrfach instrumentalisieren lassen. Illusionslos und kenntnisreich leuchtet Juli Zeh die trüben Machenschaften im Umfeld humanitärer Hilfe aus, etwa, wenn vergewaltigten bosnischen Frauen die Ausreise nur als Drogenschmugglerinnen ermöglicht wird.

    Zuallererst frappiert an Julie Zehs fulminantem Erstling freilich die frisch und unverbraucht wirkende Sprache, welche mit starken Bildern und überraschenden Handlungsvolten einen rasanten Sog erzeugt, der vergessen lässt, dass im Grunde keine Figur als Sympathieträgerin funktioniert und dass sich hinter dem politischen Alltag Abgründe öffnen. Ein Endspiel –
    «jetzt fühle ich mich am Schluss», resümiert Max einmal, «oder sogar schon ein Stück weiter, sitze hier wie ein Theaterbesucher, der nach Ende der Vorstellung noch ein bisschen in seinem Sessel geblieben ist und verwundert feststellt, dass das Spiel weitergeht, dass nach dem Ende keiner mehr Anstalten zum Aufhören macht.»

    «Schreiben hat für mich Spielcharakter. Ich habe in allen Romanen meine Figuren in möglichst extreme Situationen getrieben und geguckt, was mit ihnen und mit mir passiert.»

    Sagt die Autorin und ihr zweiter grosse Roman, 2004 erschienen, illustriert dieses Diktum und trägt den Schlüsselbegriff bereits im Titel: «Spieltrieb». Auf satten 550 nie langweiligen Seiten handelt dieses Buch von den Verwerfungen im Wertesystem einer jungen Generation.

    Ort und Zeit sind klar umrissen – ein Bonner Privatgymnasium zwischen 2002 bis 2004 – Schulmassaker in Erfurt, Irakkrieg, Anschläge in Madrid fallen in diese Periode.

    In 80 Tableaux, mal temporeich erzählend, mal präzis analysierend trifft Juli Zeh in der Schulwelt als Weltlaboratorium den Nerv der Zeit, spiegelt sie gesellschaftliche Aktualität und moralische Aporien. In früheren Gymnasiumsromanen waren die Schüler dem Terror der Unterrichtenden ausgeliefert, jetzt haben sich die Machtverhältnisse verkehrt. Die 14jährige hochbegabte Ada, von ihrer alten Schule geflogen, weil sie einen Kollegen mit einem Schlagring verprügelt hat, findet am Ernst Bloch Gymnasium einen ihrem Scharfsinn und Zynismus gewachsenen Kumpel: Den um drei Jahre älteren Alev el Quamar. Alev, «Halb-Ägypter, Viertel-Franzose, aufgewachsen in Deutschland, Österreich, Irak, den Vereinigten Staaten und Bosnien Herzegowina» , vertritt programmatisch die Spieltheorie, wonach nur im Spiel dem Menschen echte Freiheit möglich sei. Ada und er sehen sich als «Urenkel der Nihilisten Die Nihilisten glaubten immerhin, dass es etwas gebe, an das sie NICHT glauben können». Das Spiel tritt anstelle der Moral. Objekt im teuflischen Spiel wird der Deutsch- und Turnlehrer Smutek, ein Immigrant aus Polen; Ada verführt ihn in der Turnhalle, der impotente Alex filmt das Ganze, worauf die beiden Smutek in der Hand haben und zu weiteren Akten erpressen.

    Wenn Smutek über Ada einmal sagt: «Sie war stumm wie ein Fisch, kalt wie ein Fisch» fällt einem sofort Ödön von Horvaths «Jugend ohne Gott» ein, jener unvergessliche Schulroman aus dem Jahr 1937, worin ein Junge im von den Nationalsozialisten geführten Wehrlager mit kalten Augen einen Mitschüler umbringt, einfach bloss, um seinem Tod zuzusehen. Horvath nennt die von den Nazis eingeleitete Verrohung der Jugend das «Zeitalter der Fische».

    Juli Zehs weitverzweigtes Panorama heutiger Machtspiele endet damit, dass der permanent erniedrigte Smutek den Drahtzieher Alev beinahe totprügelt. Die darauf fällige Gerichtsverhandlung bildet den Rahmen zur Romanhandlung: Ada und Smutek werden in erster Instanz freigesprochen, nur Alev wird bestraft. Auch das Rechtssystem kommt der neuen Amoral der kalten Fische nicht bei, wie die Richterin schon im Prolog mutmasst:

    «Was, wenn die Urenkel der Nihilisten längst ausgezogen wären aus dem staubigen Devotionalienladen, den wir unsere Weltanschauung nennen? (…) Was ,wenn ihnen Bibel, Grundgesetz und Strafrecht nie mehr gegolten hätten als Anleitung und Regelbuch zu einem Gesellschaftsspiel? (…) Wenn wir ihre Gründe nicht mehr verstünden, weil es sie nicht gibt.»

    In ihrem 3. Roman «Schilf» verfolgt unsere Preisträgerin die Sujets Spiel und Macht weiter, und zwar in einem raffiniert mit dem Genre spielenden Kriminalroman, der idyllisch einsetzt:

    «Im Anflug aus Südwesten, aus einer Höhe von fünfhundert Metern betrachtet, gleicht Freiburg einem ausgefransten hellen Fleck in den Falten des Schwarzwalds. Es liegt da, als wäre es eines Tages vom Himmel gefallen und den angrenzenden Bergen bis vor die Füsse gespritzt. Belchen, Schauinsland und Feldberg sitzen im Kreis und überschauen eine Stadt, die nach Zeitrechnung der Berge vor etwa sechs Minuten entstanden ist und trotzdem so tut, als hätte sie schon immer da unten am Fluss mit dem komischen Namen gelegen. ‚Dreisam›. Wie Einsamkeit zu dritt.»

    Einsam zu dritt, so lebt der Physiker Sebastian mit Frau Maike und Sohn Liam in Freiburg. Aber die scheinbare Idylle bricht auf, als der Zehnjährige auf der Fahrt ins Pfadfinderlager verschwindet, offenbar entführt; der erpresste Vater lässt sich hinreissen zur Ermordung eines in einen Spitalskandal verwickelten Arzt, der erst noch möglicherweise sein Nebenbuhler ist. Den Schlüssel zum rätselhaften Geschehen – der Sohn taucht wohlbehalten im Lager auf – liefert Sebastians bester Freund Oscar. Auch er ist Physiker, am CERN in Genf, also in der Speerspitze der Forschung beschäftigt, während Sebastian der auf einem quanten-theoretischen Phänomen gründenden Botschaft von der gleichzeitigen Existenz paralleler Universen verfallen ist und diese populärwissenschaftlich verbreitet. Ihr Leitsatz:«Alles, was möglich ist, geschieht.»

    Plot und Durchführung des raffinierten Falls hier auszubreiten, würde zu weit führen. Zum Genre gehört zwingend ein Kommissar, und dieser, Schilf mit Namen, lebt selbst gleichsam in mehreren Universen: Nach massiven beruflichen und privaten Schiffbrüchen steht er jetzt wegen eines Vogelei-grossen Hirntumors vor seinem letzten Fall. Schilf ist das Gegenteil des forschen TV-Ermittlers, ein an Dürrenmatt und Glauser gemahnender Melancholiker:

    «Es gibt so wenig, was ein Mensch im Leben erreichen kann. Den Geruch einer Frau wiedererkennen. Einem Kind über den Kopf streicheln. Einen Widersacher im Duell besiegen. Sich Gedanken über die Welt machen und dabei nicht vergessen, dass man sämtliche Ideen mitnehmen wird, wenn man eines Tages die Welt durch die Hintertür verlässt.»

    Mit hartnäckiger Geduld löst er den Fall des scheinbar perfekt ausgeführten Mordes – das Opfer wird auf rasanter Radfahrt von einem über die Strasse gespannten Drahtseil buchstäblich geköpft -, führt dann jedoch Täter und Anstifter nicht der Justiz zu, sondern vor deren «inneren Richter», den er als einzigen Masstab anerkennt.

    Neben Fragen des Rechts, der Macht und der gesellschaftlichen Spielregeln geht es in Juli Zehs Büchern stets auch um das Verhältnis zum Körper. In ihrer brandaktuellen, vorerst letzten Arbeit, «Corpus delicti» stehen Körper und Gesundheitspolitik im Zentrum. Als Theaterstück entstanden, dieses Jahr auch in Luzern gespielt, liegt der Stoff seit diesem Frühling auch in Buchform vor – mit dem Untertitel «Ein Prozess».

    Gleichgültigkeit bis zur Selbstzerstörung dominierte in «Adler und Engel», auch in «Spieltrieb» wird mit dem eigenen Körper achtlos gespielt. In «Corpus delicti» nun wird der eigene Körper zum Reservat individueller Freiheit in einer künftigen Gesundheitsdiktatur. Der Text ist Science-fiction in Form eines diabolischen Kammerspiels, kann aber auch als Novelle, die an Kleists «Michael Kohlhaas» erinnert, gelesen werden: Mitte des 21. Jahrhunderts ist Gesundheit zur massgebenden gesellschaftlichen Norm erhoben, Krankheit als Mangelzustand praktisch überwunden. Dies freilich zum Preis rigoroser staatlicher Kontrollen, welche das Totalverbot toxischer Substanzen ebenso umfassen wie die Kontrolle aller Ausscheidungen, der Abwässer jedes Haushalts usw. Herzstück solcher Politik ist die METHODE, die sich mit ihrer biologischen Vernunft und Unfehlbarkeit brüstet, Gesundheit als Normalität normativ durchsetzt.

    Die 34jährige Biologin Mia Holl ist diesem System zunächst treu ergeben, bis ihr Bruder Moritz, ein Naturromantiker, der nicht anders kann, als die Gesundheitsvorschriften zu missachten, wegen Mordverdachts verhaftet wird. Als er sich, um einer schuldlosen Verurteilung zu entgehen, in der Zelle erhängt, gerät Mias Welt aus den Fugen.

    Ihr Gegenspieler ist der Propagandist und «Vater» der Methode, Heinrich Kramer, ein Wiedergänger des gleichnamigen benediktinischen Inquisitors und Verfassers des «Hexenhammers» im 16. Jahrhunderts. Mia wird zunächst wegen Renitenz, sprich der Vernachlässigung von Gesundheitspflichten, angeklagt, später, als Moritz Holls Unschuld, und damit die Fehlbarkeit der totalitären METHODE ruchbar wird, zur Systemfeindin erklärt. Wie Michael Kohlhaas, der vom Staat Gerechtigkeit fordert, beharrt Mia einzig auf des Bruders Unschuld und ihrem Recht zu trauern – unauffällig präsent auch das Antigone-Motiv: Mia ist zuerst private, erst danach politische Rebellin. Sie geht schliesslich am Dilemma der Zugehörigkeit zugrunde: Gehört sie zum Bruder oder zur METHODE? In einem totalitären System gibt es keinen Mittelweg. Mit handfester Folter – Anklänge an Abu Graib sind gewollt – wird ihr ein eigentlicher Hexenprozess gemacht, der in der Verurteilung zum Einfrieren auf unbestimmte Zeit kulminiert.

    «Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur», bilanziert Mia ernüchtert.
    Rhetorisch gewieft, juristisch beschlagen und erhellend führt Juli Zeh in «Corpus deliciti» grundlegende Diskurse über Krankheit und Gesundheit, individuelle Freiheit und Gemeinwohl, Geist und Körper. Ganz am Ende steht eine Volte von Dürrenmattscher Raffinesse: Mia wird begnadigt und medizinischer Überwachung ausgeliefert, denn die METHODE verträgt keine Märtyrer. Eine tote Mia wäre gefährlicher als eine gebrochene lebendige.

    «Erst jetzt ist sie – erst jetzt ist das Spiel – erst jetzt ist wirkliche alles zu Ende»,
    lauten lapidar und teuflisch die letzten Sätze. Diese Referenz auf Dürrenmatt ist schon in «Schilf» formuliert: «Das Schlimmste», sagt Schilf zu Sebastian, «das Schlimmste geschieht immer danach. Es geschieht, wenn die Menschen glauben, dass sich das Schlimmste bereits ereignet hat.»

    Wofür zeichnen wir heute Juli Zeh mit dem Solothurner Literaturpreis 2009 aus:

    Neben den bisher vorgestellten 4 grossen Prosaarbeiten gibt es eine gleiche Zahl weiterer Publikationen, die ich hier nur summarisch erwähnen kann: Der Band «Alles auf dem Rasen», vereinigt 30 Essays und publizistische Arbeiten zu Politik, Gesellschaft, Recht, Schreiben und Reisen, worin man als Grundsatz der Schriftstellerin Zeh etwa liest:

    «Ich möchte den Lesern keine Meinungen, sondern Ideen vermitteln»

    oder von der Partei- und Experten-Verdrossenheit des zoon politicon Zeh erfährt:

    «Um politisch zu sein, braucht man keine Partei, und vor allem brauch man kein staatlich anerkanntes Expertentum. Vielmehr braucht man zweierlei: gesunden Menschenverstand und ein Herz im Leib.»

    Die bekennende Hundefreundin hat ferner zusammen mit David Finck ein «Kleines Konversationslexikon für Haushunde» herausgegeben, in dem ihr Hund «Othello» unter Stichworten von Apport bis Zierpflanze seinen Artgenossen die Welt aus Hundesicht und insbesondere die seltsame Spezies des Menschen erläutert.

    Und in ihrem ersten Kinderbuch «Das Land der Menschen» über grönländische Eskimos, vor Jahresfrist erschienen, lesen wir eine Maxime, welche unsere Preisträgerin bei all ihren Unternehmungen befolgt:
    «Man muss sich die Dinge erst anschauen, damit man weiss, wie man sie findet. Danach kannst du ja immer wieder dorthin zurückkehren, wo es dir am besten gefällt.»

    Ferner hat Juli Zeh zusammen mit anderen eine Anthologie veröffentlicht, welche deutsch geschriebene Geschichten junger Bosnierinnen und Bosnier umfasst, die von ihrer geschundenen Heimat erzählen, aber auch von ihrer Liebe und dem Leben in einem Land, von dem man seit Kriegsende wenig hört. Titel «Ein Hund läuft durch die Republik».
    Diese seltsame Republik Bosnien-Herzegowina gibt mir das Stichwort, Ihnen zum Schluss von Juli Zehs zweitem Buch zu berichten, einem meiner liebsten. Es trägt den Titel «Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt nach Bosnien». Die Autorin hat sich ins ihr unbekannte Bosnien begeben, hat alle aus den Kriegsnachrichten als Name geläufig gewordenen Orte aufgesucht, sich der Wirklichkeit jenseits dürrer Meldungen und Todesstatistiken ausgesetzt, mit offenen Augen und Ohren, angetrieben vom zwingenden
    «Bedürfnis, etwas zur Auffüllung der Lücke zwischen westlichen, von Kriegsberichterstattung geprägten Vorstellungen und den eigentlichen Verhältnissen im Land beizutragen.»

    Sie macht sich als Fragende und Suchende auf, wobei der bewusst ironische Frageton:
    «Wo wachsen die Melonen? Wie grün ist der Neretva-Fluss? Warum war hier Krieg? Wer hasst wen wie sehr?» nicht darüber hinwegtäuscht, dass sie eine Reise ins Herz der Finsternis im 21. Jahrhundert unternimmt. Mit träfen Kursivzwischentiteln – einer Reverenz an den von ihr geschätzten Arno Schmidt – gliedert die Reisende ihre Erzählfragmente. Was sie erfährt, widerspricht gängigen Vorurteilen und Medienklischees. Die subtile Differenzierung, und die äusserst bildhafte Vergegenwärtigung dessen, was sie erlebt, machen dieses Buch zu einer der eindringlichsten Darstellungen der bosnischen Tragödie, die auch eine europäische ist. Zugleich zwingt diese nur von ihrem Hund begleitete Fahrt die Autorin zur intensiven Auseinandersetzung mit sich und ihren Motivationen. Angesichts der Verwundungen und Verwüstungen ringsum wird sie selbst zur Versehrten. Auch aus der enormen Einsamkeit, die sie befällt und die sie als «Protest gegen das Alleinsein» mitunter offen auf die Strasse pinkeln lässt. Denn zu Hause versteht niemand, warum sie diese Reise unternimmt, unterwegs ist sie die Fremde, die Deutsche mit Hund. Aus ihrer unerschrockenen, nie angstfreien Neugier ergeben sich wunderbar eindringliche Blicke auf dieses versehrte Land und eine zarte Mischung aus Zynismus und Fürsorglichkeit:

    «Aus dem Apfel, den ich gerade verzehre, seilt sich im letzten Moment eine Raupe ab: Das war knapp für uns beide. Seltsam, dass ich anhalte, um die Raupe ins Gebüsch zu setzen.»

    Fern aller Sentimentalität, doch mit feiner Empathie begegnet sie den Narben der Zerstörung und scheut sich auch, nachdem sie eben einen streunenden jungen Hund adoptiert hat, nicht vor sogenannt «dummen Gedanken»:
    «Ich sitze im Zug und komme auf dumme Gedanken, zum Beispiel auf die Frage, ob es einen Gott gibt. Wenn ja, muss er einem Welpen ähnlich sein, der mit schiefgelegtem Kopf, vor und zurückspringend, manchmal kläffend, das Weltgeschehen beobachtet. Fasziniert und furchtsam, erschrocken und zugleich unstillbar neugierig.»

    Fasziniert und furchtsam, erschrocken und zugleich unstillbar neugierig – das ist fraglos auch eine Art Selbstporträt unserer Preisträgerin! Ihr überlegener Scharfsinn, ihre schlicht fabelhafte Formulierungsgabe und ihr rar gewordenes, uneigennütziges Engagement – sit venia verbo – sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese energischen und bildmächtigen Texte auch einer fragilen Grundverfassung abgerungen sind! Angesprochen auf die poetische Melancholie ihres unkonventionellen Ermittlers Schilf hat mir Juli Zeh gesagt:

    «Der Schilf ist mir, was diese melancholische, fast schon resignative Art der Welt gegenüber betrifft, viel näher, als es den Anschein haben mag. Mein Tatendrang oder mein Handlungsimpuls entspringt auch etwas, das ich mit dem kleinen Wort TROTZDEM benennen würde; ich tue Dinge eigentlich nicht in dem Glauben, etwas Wichtiges damit erreichen zu können oder ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, zumindest kein tiefreichendes, sondern das Gefühl ist immer eher: Ich mache es trotzdem oder obwohl ich weiss, dass es wenig Sinn hat. Also diese Grundmelancholie ist mir durchaus zu eigen und Schilf hat ganz ähnliche Motivationen (…) und tut aber all das trotzdem, weil er spürt, dass er muss, weil es einen gewissen Zwang gibt, auf die Welt zu reagieren.»

    Liebe Juli Zeh, wir hoffen dass dieser »gewisse Zwang …, auf die Welt zu reagieren» noch lange anhält – ohne Sie zu quälen natürlich – und uns viele derart produktive, im besten Sinne herausfordernde, zugleich poetisch-sinnliche wie realistisch-gegenwartsgesättigte Texte beschert. Wir brauchen sie!

    Der Solothurner Literaturpreis 2009 soll dazu eine kleine Ermutigung sein!

    Ich gratuliere Ihnen dazu im Namen der gesamten Jury und möchte meinen KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer für die stets intensive Zusammenarbeit herzlich danken: natürlich basieren meine Ausführungen auf Überlegungen von allen dreien.

    Als Jury danken wir unsererseits den Sponsoren des Preises für die Freiheit, in der sie uns wirken lassen, und dafür, dass sie diese schöne Einrichtung auch in schwierigeren Zeiten fortzuführen gewillt scheinen. Für die gute Organisation des heutigen Anlasses gebührt schliesslich Béatrice Aebi und Lilian Prina von der Vogt&Schild AG sowie Frank Schneider ein grosser Dank. Und herzlicher Dank und Anerkennung für ihr gepflegtes Spiel, von dem wir noch weitere Kostproben hören, gilt der Solothurner Pianistin Evelyne Grandi …

    Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wir kommen jetzt zur Preisverleihung.