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    Jenny Erpenbeck

    Hans Ulrich Probst, 23. Juni 2008

    «Besser ist es allemal, fremd zu sein in der Fremde.»
    «Wer mit einem Kopf Ball spielen wollten, den würde nur die Nase stören.»
    «Die Wahrheit, habe der Vater gesagt, sei aus anderem Stoff als ein Schweinebraten.»

    Herzlich willkommen in Solothurn, Jenny Erpenbeck, von der Spree und den Seen Brandenburgs hierher gekommen, leider nicht in reiner Freude, sondern auch in Trauer:
    vor drei Wochen ist Ihre Mutter überraschend verstorben, und so haben Sie in der gleichen Zeit die Ehre einer Preisverleihung und den Schmerz des Abschieds zu durchleben, hier zu lesen und in wenigen Tagen an der Trauerfeier für Doris Kilias zu sprechen, ihrer als Übersetzerin aus dem Arabischen vielen unbekannterweise bekannte Mutter. Ich spreche Ihnen unser herzliches Beileid aus.

    Willkommen meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, Ihnen die diesjährige Trägerin des Solothurner Literaturpreises und ihr Werk jetzt vorzustellen.

    Wir würdigen mit dem Preis die dichterische und sprachkritische Kunst, mit der diese Autorin aus ungewöhnlichen Perspektiven individuelle Lebenswelten einfängt und in gesellschaftlich-politische Zusammenhänge stellt. Ihr Erstling «Geschichte vom alten Kind» setzte 1999 den furiosen Auftakt; die Prosabände «Tand» (2001) und «Wörterbuch» (2004) bestätigten Originalität und Sprachkraft dieser Autorin. Mit dem dieses Frühjahr erschienenen Roman «Heimsuchung», einer vielschichtig-feinsinnigen Komposition in unverwechselbarer Sprache, hat Jenny Erpenbeck ihre literarische Meisterschaft eindrücklich bestätigt.

    Wo soll ich anfangen? Mit den Anfängen, zum Beispiel, sie beherrscht unsere Preisträgerin grandios.
    Ein paar Beispiele:

    “Mein Vater sagt, an den Haaren habe seine Mutter damals ihre Widersacherin aus dem Haus geschleift. Habe sie an den schwarzen Haaren gepackt, im Flur ein- oder zweimal herumgeschleudert und dann aus dem Haus geworfen. Kein Chance hätte, sein Vater, mein Grossvater, damals gehabt.” So beginnt die Erzählung «Sibirien».

    «Wozu sind denn meine Augen da, wenn sie sehen, aber nichts sehen? Wozu meine Ohren, wenn sie hören, aber nichts hören? Wozu all das Fremde in meinem Kopf?» Dies die ersten Sätze von «Wörterbuch».

    «Bis zum Felsmassiv, das inzwischen nur noch als sanfter Hügel oberhalb des Hauses zu sehen ist, schob sich vor ungefähr vierundzwanzigtausend Jahren das Eis vor. Durch den ungeheuren Druck, den das Eis ausübte, waren die erfrorenen Stämme der Eichen, Erlen und Kiefern zerknickt und niedergemalmt worden, Teile des Felsmassivs waren gesprengt, zersplittert, zerrieben worden, Löwe, Gepard und Säbelzahnkatze in südlichere Gegenden vertrieben.” Mit diesem Blick in die Vorzeit beginnt «Heimsuchung».

    Sie hören es: Da ist jedes Wort genau gesetzt, weckt jeder Satz durch Klang und Sprachgebrauch Neugierde, da sind Rhythmus, Musikalität und ein ganz eigener Ton zu hören, da ist eine Verfasserin am Werk, welche uns fesselt und fordert. Und dies seit ihrem ersten Buch, der «Geschichte vom alten Kind», mit der sie vor neun Jahren die literarische Bühne gestürmt hat. Hören Sie auch hier einige Sätze aus dem Anfang. Es ist eine beinahe Beckettsche Szene, in der ein Mädchen, eine Jugendliche nachts in einer Stadt mit einem leeren Eimer in der Hand aufgegriffen wird.

    «Vierzehn Jahre alt sei es, antwortete das Mädchen, aber seinen Namen wusste es nichts zu sagen, und auch nicht, wo es zu Haus war …
    Es war ganz und gar Waise, und alles, was es hatte und kannte, war der leere Eimer, den es in der Hand hielt, noch immer in der Hand hielt, während es von der Polizei befragt wurde.
    Nachforschungen ergaben nichts. Zwar war das Mädchen in seiner ganzen Grösse und Dicke vorhanden, was jedoch Herkunft und Geschichte anging, war es derart von Nichts umgeben, dass seiner Existenz von Anfang an etwas Unglaubliches anhaftete. Das Mädchen war übrig. Also nahm man ihm seinen Eimer weg, fasste es bei der fleischigen Hand und gab es im Kinderheim ab …»

    Die Geschichte hebt an im klaren und knappen Ton böser Märchen oder Kalendergeschichten, wie wir ihn von den Gebrüdern Grimm kennen. Deren Märchen, sagt unsere Preisträgerin, hätte sie als Kind pausenlos gelesen. Dieser Ton prägt den Text, eine originelle Neufassung des Motivs vom fremden Findling, der aus dem Nichts kommt und niemanden an sein Geheimnis heranlässt. In hundert Absätzen auf gerade hundert Seiten entfaltet Erpenbeck die Geschichte vom «alten Kind» das, wie sein Eimer auch leer sein will, das ohne Beziehung zu seinem zu gross geratenen, ungeschlachten Körper bleibt, als wäre dieser «eine einzige riesige blinde Anhäufung, ein Materiallager».

    Ins Heim gesteckt, entzieht es sich jeglicher Ambition:
    Wo «andere danach streben, aus einem umzäunten Gebiet, aus Gefängnis, Arbeitsanstalt, Irrenhaus oder Kaserne auszubrechen, ist das Mädchen genau im Gegenteil in ein solches umzäuntes Gebiet, in ein Kinderheim eben, eingebrochen», in der Hoffnung, «dass es ihm verstattet sei, einen der unteren Plätze in der schulinternen Hierarchie einzunehmen.»

    Denn «der unterste Platz ist immer der sicherste».

    Es fügt sich unterwürfig ins Heimleben, «ganz und gar ausgeräumt wie ein Fisch vor dem Braten», zugleich infiziert von Zweifeln an seinem Reden, seiner Sprache. Deshalb zieht es das Schweigen vor. Von den anderen Kindern wird es zunächst gequält, dann, da es nicht petzt, benutzt, und schliesslich, als es erkrankt, ignoriert.

    Die «Geschichte vom alten Kind» ist ein Buch über Täuschung und Verweigerung gegenüber der Erwachsenenwelt, über Internatsleben und Adoleszenz, ein «umgekehrter” Entwicklungsroman, der endet mit der Enthüllung einer Maskerade, dem Scheitern eines Schelmenstreichs, dem Versuch nämlich, «die Zeit anzuhalten, als sei es ihm gegeben gewesen, in der Zeit herumzuspazieren wie in einem Garten.»
    Das «alte Kind» wird auf Diät gesetzt, magert ab und wird als dreissigjährige Frau enttarnt, die nun nur noch im Bett liegt und weint, wohl ob der Ausweglosigkeit, erwachsen werden zu müssen.

    Eine so faszinierende, wie verstörende Erzählung, die auf dem Hintergrund der DDR-Biografie der Autorin auch als politische Parabel gelesen werden kann. Unaufdringlich, doch glasklar erscheint die Metapher vom Leben hinter der Mauer. Die DDR also gleichsam als das Heim, das von der Welt abschottet. Das Kind fühlt sich darin geborgen, bringt sich wie von selbst zum Verschwinden: ohne Körper, ohne Zukunft, ohne Ich. So steht es für eine extreme Form gesellschaftlicher Selbstentfremdung: der Ablehnung jeglichen Lebensentwurfs angesichts der realen Umstände. Beschrieben wird diese Geschichte ganz unaufgeregt eindringlich, mal im Stil von Legenden, mal in kaltem, beinahe bürokratisch anmutendem Ton.

    Sie sehen: Dieses erste Buch von Jenny Erpenbeck ist bereits reich an möglichen Lesarten und sehr kunstfertig; völlig zurecht hat «Die Geschichte vom alten Kind» enorme Resonanz gefunden. Beizufügen wäre noch, dass die Fabel auf einer wahren Begebenheit gründet, welche Jenny Erpenbecks Grossmutter, die Schriftstellerin Hedda Zinner, selbst erlebt und der Enkelin erzählt hat: Demnach korrespondierte sie einst länger mit einem angeblich vierzehnjährigen Mädchen, das sich dann als über dreissigjährige Frau entpuppte, die keine Frau sein wollte und sich unter falschem Namen in ein Kinderheim hatte einweisen lassen. Das hat die Preisträgerin als Kind stark beeindruckt und viele Jahre später zu ihrem ersten literarischen Wurf bewegt. Um diese «Geschichte eines Spaziergangs in der Zeit» zu erzählen und sich besser in diese Figur einzufühlen, beging Jenny Erpenbeck selbst eine ähnliche, wallraffartige Täuschung: Mit siebenundzwanzig Jahren drückte sie einen Monat lang die harten Schulbänke eines Berliner Gymnasiums, eine «anstrengende» Erfahrung, wie sie hinterher bekannte.

    Hier scheint ein Blick auf die biographischen Eckdaten der Preisträgerin angezeigt:
    Jenny Erpenbeck, das haben wir schon angedeutet, entstammt einer literarisch «vorbelasteten» Familie: ihre Mutter war, wie erwähnt, eine bedeutende Arabistin, die namentlich die Schriften von Nagib Mahfus ins Deutsche gebracht hat. Ihr Vater, John Erpenbeck, ist Physiker, Philosoph und Romancier. Dessen Eltern waren Fritz Erpenbeck, Journalist und Schriftsteller, und Hedda Zinner, gebürtige Wienerin, eine angesehene Autorin der DDR, welche die NS-Zeit in Moskau überlebt hatte und 1945 nach Ostberlin zurückkehrte.

    Jenny Erpenbeck wird 1967 geboren. Ihren Vornamen verdankt sie zu gleichen Teilen Jenny Marx und Bertolt Brechts «Seeräuberjenny». Sie absolvierte nach dem Abitur zuerst eine Buchbinderlehre, studierte dann Theaterwissenschaft und Musiktheaterregie – u.a. bei Ruth Berghaus -, arbeitete ein paar Jahre am Theater Graz. Seit dem Erfolg ihres Erstlings führt sie neben der Schreibexistenz noch ungefähr einmal jährlich Regie; sie lebt mit ihrem bald 6jährigen Sohn in Berlin. Es gibt zwei Theaterstücke von Jenny Erpenbeck, welche den sorgsamen Umgang mit der Sprache, aber auch die Verbindung von Schönheit und Grausamkeit, Kälte und Musikalität kennzeichnen. «Katzen haben sieben Leben” heisst das eine – ein Stück für zwei Frauen, die in stets neuen Konstellationen aufeinandertreffen, und «Leibesübungen für eine Sünderin» das andere.

    Das zweite Prosabuch von Jenny Erpenbeck, «Tand», ist ein Band mit Geschichten. Hier erprobt die Autorin ganz verschiedene Erzählhaltungen aus, manche spätere Figuren, Konstellationen und Themen scheinen darin auf – in der Titelgeschichte «Tand” z.B. der Gärtner und die Grossmutter, denen wir in «Heimsuchung» erneut begegnen.
    Auch das Interesse an naturgeschichtlichen Fragen, es wird in «Heimsuchung» wieder auftauchen, ist im Band «Tand» schon zu finden. Etwa in der unerwarteten Frage einer Tochter an ihren Vater, wie das Meer entstanden sei:

    «Hier ist vor Jahrmillionen die Erde auseinandergebrochen, es sind Schollen entstanden und diese Schollen sind auseinandergedriftet. Das sogenannte Meer, hatte mein Vater gerufen, ist nichts anderes als Wasser, das sich da breit macht, wo die Risse tief genug sind.
    Es war das erste Mal, dass ich diesem sogenannten Meer gegenüberstand, und die Gewalt, mit der es sich breitgemacht hatte, beunruhigte mich. Ich hätte gern gewusst, wie die Fische das Gewicht dieser ungeheuren Menge Wassers, die über ihnen stand, aushalten konnten.»

    Eines der eindrücklichsten Stücke in «Tand» ist «Sibirien», wir haben die Eingangssätze schon gehört. Die Erzählerin schildert darin, raffiniert verfremdet aus der Perspektive ihres Vaters, wie die aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrte Grossmutter ihren Mann zurückerobert und dessen Geliebte rausschmeisst – ihn aber gerade dadurch verliert. Er flüchtet sich in Schweigen, wie so viele Figuren bei Jenny Erpenbeck: Schweigen, beschweigen, verschweigen gehören leitmotivisch zu ihrem Schreiben. In «Sibirien» berichtet der Vater der Erzählerin vom Schweigen seines Vaters, das ihm in einem Traum begegnet ist:

    «Sein Vater hätte damals nie mit ihm geredet, aber seit einiger Zeit käme er, als wenn nichts wäre, zum Traum hereinspaziert. Erst letzte Nacht, sagt er, habe sein Vater ihn bei der Hand genommen und sei mit ihm in einem Boot auf einen See hinausgefahren. Und dort habe der Vater versucht, mit ihm zu sprechen. Er, der Sohn, habe jedoch nichts hören können, weil ein starker Wind dem Vater alle Worte vom Mund riss und über das Wasser hinweg in alle Himmelsrichtungen spuckte. Irgendwann habe der Vater geschwiegen, da sei das Wehen zur Ruhe gekommen, und das Wasser habe nur noch leise ans Boot geschlagen, und schliesslich sei ganz und gar Stille eingetreten, eine Stille, weiss wie ein Blatt Papier und auf diesem Blatt Papier könne er noch jetzt den Satz lesen, den sein Vater in die geträumte Stille hinein sagte: Die Wahrheit, habe der Vater gesagt, sei aus anderem Stoff als ein Schweinebraten.»

    Um Wahrheit und Schweigen geht es wesentlich auch in Jenny Erpenbecks dritter Prosaveröffentlichung, die fast unscheinbar und neutral mit «Wörterbuch» überschrieben ist, und wiederum aus der Kinderperspektive eine beklemmende Geschichte erzählt.

    Es ist die Geschichte eines Identitätsverlustes, der sich aus dem schleichenden Vertrauensschwund in die Sprache entfaltet – daher der Titel: Die Wörter – Begriffe, Namen und ihre Bedeutungen – bilden den Ausgangspunkt für eine schwierige Spurensuche.

    «Ihr Vater habe ihr die Wahrheit erzählt, sagt sie zu Anna. Sie wisse jetzt alles. So, sagt Anna. Und sagt sie, sie liebe die Wahrheit.»

    Bloss: Kann man die Wahrheit lieben, wenn sie grauenhaft ist und man in ihr der eigenen Lebenslüge begegnet? Die namenlose Ich-Erzählerin erkundet an einem Punkt tiefer Verunsicherung, wie sie zu der geworden ist, die sie ist, wobei sich Kinderperspektive und Ahnungen der Erwachsenen im inneren Monolog verschränken:
    Sie ist in einem südamerikanischen Land scheinbar wohlbehütet aufgewachsen – die Mutter züchtet Bonsai, der geschniegelte Vater arbeitet in einem Palast, dessen Fenster zugemauert sind. Lange will die Erzählerin nicht wissen, was draussen, auf den Strassen abgeht, dass Menschen verschwinden, ermordet werden. Leichen, die aus Flugzeugen vom Himmel ins Meer geworfen werden, deutet sie zu Engeln um, die brutale Verhaftung einer Frau aus einem Autobus heraus sieht sie als eine Art Tanz. Obwohl von der Amme, die sie nährt, sukzessive mit Brocken der Realität konfrontiert, will sie das Geheimnis über ihr Leben nicht wirklich erfahren. Dass ihr Vater ein übler Folterknecht in Diensten der blutig wütenden Diktatur ist, nimmt sie erst zur Kenntnis, als dieser ihr in kaum erträglicher Sachlichkeit die Gräuelpraktiken seiner Arbeit enthüllt, weil die Tage des Regimes gezählt sind.

    Volljährig geworden erfährt sie, dass ihr vermeintlicher Vater auch verantwortlich war für die Ermordung der leiblichen Eltern. Von diesem Punkt tiefer Verunsicherung wird die Selbsterkundung der Ich-Erzählerin wesentlich zur Frage nach der Sprache, die sie spricht. «Ich sehe einen Baum und sage Baum. Ich rieche Kuchen, den meine Mutter am Sonntag bäckt, und sage Kuchen. Ich höre einen Vogel im Garten zwitschern, und meine Mutter sagt: Ja, ein Vogel. Das waren vielleicht die einzigen Wörter, die heil waren, als ich sie lernte.»

    Sie entdeckt die Löcher hinter den Wörtern, die Tabus, merkt, dass sie die formelhafte Sprache ihrer Eltern übernommen hat, ihren Blick auf die Welt. Wörter und fantastische Flunkereien helfen ihr lange, der von den falschen Eltern verschwiegenen Wahrheit auszuweichen. Doch es ist die Sprache selbst, die der Ich-Figur – und damit uns Lesenden -die Erkenntnis ermöglicht. “Ich glaube, dass Dinge nicht wirklich verschwinden, wenn man sie verschweigt”, erklärt die Autorin. Sie nennt – anders etwa als Erich Hackl, einer unserer früheren Preisträger, der den Fall eine ähnlichen Verbrechens in Argentinien gestaltet hat – Jenny Erpenbeck nennt bewusst keine Namen: “Ich wollte eine Diktatur für dieses Buch erfinden, weil es um die Struktur ging, um die Rituale, um die Sprache, die dafür erfunden wurde”. Gekonnt hält die Autorin die Balance zwischen Parabel und historischer Verortung. Sie fragt, wie Machtstrukturen in die Sprache einfliessen und ob der einzelne sich eingeschliffener Muster entledigen kann.

    Die bittere Pointe in «Wörterbuch» – ist keine Erfindung, sondern der Kern von Erpenbecks Interesse an einem von ihr recherchierten Fall in Argentinien, der sie zu diesem Buch inspirierte: Nach dem Schock der Erkenntnis vor die Wahl gestellt, zur Familie ihrer ermordeten leiblichen Eltern zurückzukehren oder bei den inzwischen verhafteten, falschen Eltern zu bleiben, entscheidet sich die Ich-Erzählerin für die ‘falschen Eltern’. Eine aufwühlende, lange nachwirkende Geschichte, bei deren Lektüre die Fähigkeit der Autorin zu verdichten und auszusparen die Einbildungskraft der Lesenden doppelt beflügelt.

    Dafür zeichnen wir Jenny Erpenbeck aus:
    Jenny Erpenbeck gelingt es in ihrem kompakten Oeuvre mit virtuos beherrschten poetischen Mitteln existentielle und essentielle Themen der jüngsten Geschichte und des Verhältnisses von einzelnem und Gemeinschaft nachhaltig zu gestalten, elegant und ernsthaft zugleich.

    Hartnäckig und klug variiert sie in ihrem Werk kapitale Fragen der condition humaine, die Beziehung von Historie und Geschick des Individuums zumal im europäischen 20. Jahrhundert, die Dialektik von Schweigen und Reden, von Fremde und Heimat, von Mensch und Natur, von Oberflächen- und Tiefenstruktur von «objektiver Wahrheit» und «subjektiver Wahrhaftigkeit». Wort für Wort tastet sich diese Autorin zur Anamnese von Gegenwart und der in ihr fortwirkenden Vergangenheit heran.

    Jenny Erpenbeck findet in einer an Grimms Märchen geschulten, so klaren wie knappen Sprache originelle und verblüffende Bilder für die Verwerfungen der deutschen Geschichten und bettet das Schicksal jedes Einzelnen zugleich ein in den grossen Zusammenhang von politischer und Naturgeschichte.

    Ihre leisen Texte schlagen leuchtende Funken von stiller Schönheit und archaischer Kraft; durch ihre stringente Leitmotivik gemahnen sie immer auch an musikalische Kompositionen.

    Meisterhaft hat Jenny Erpenbeck alle diese Qualitäten in ihrem letzten, dieses Frühjahr erschienen Roman «Heimsuchung» vereinigt. Er führt uns zu einem Grundstück an einem See in der Mark Brandenburg zwei Stunden von Berlin weg. In zwölf Lebensgeschichten – verbunden durch den Ort, das Haus am See – wird ein deutsches Jahrhundert gespiegelt und reflektiert: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazidiktatur, 2. Weltkrieg, Besatzung, DDR, Wende und Nachwende bilden den Hintergrund. Die Weltgeschichte ist in kleine Geschichten verlagert, aber jederzeit präsent: Emigration, Exil und Vertreibung, Holocaust, Kriegsschrecken, russische Besatzung, Westflucht, Wende und Nachwendeungerechtigkeiten.

    «Heimsuchung» – der Roman spielt brillant mit dem Doppelsinn des Titels – auf der Suche nach Heim und Heimat beziehungsweise heimgesucht von Schicksalsschlägen sind alle Protagonisten. Das Buch zerlegt die Geschichte in feinste Schichten und setzt sie neu zusammen zu einer Abfolge von Kapiteln, die jeweils aus der Perspektive einer Figur erzählt sind. In den Zwischenkapiteln taucht fast refrainartig ein Gärtner auf, die heimliche Hauptfigur des Buches. Auch er ein Schweiger, er spricht «am liebsten mit dem Grünzeug», wie es heisst. Stumm bestellt er den Garten, pflanzt Bäume, bessert das Haus am See aus -er scheint hier daheim, jenseits der Zeit, die sonst alle auftauchenden Figuren verschlingt. Glück und Frieden sind auch an diesem lauschig-lieblichen Gestade nur flüchtige Gäste. Als Klammer um den Reigen der zwölf Schicksale vom Bauer, der das Grundstück veräussert, bis zur Enkelin der Bewohner zu DDR-Zeiten – welche im üblichen Restitutionsverfahren das Haus an die Erben der vorigen Besitzer verlieren, die es verkaufen und damit dem Abbruch weihen -, als Klammer fungiert die Naturgeschichte. Der Prolog schildert wie der See vor vierundzwanzigtausend Jahren entstand und dabei schon von seinem Ende weiss.

    «Wie jeder See, war auch dieser nur etwas Zeitweiliges, wie jede Hohlform war auch diese Rinne nur dazu da, irgendwann wieder ganz und gar zugeschüttet zu werden. Auch in der Sahara gab es einmal Wasser. Erst in der Neuzeit trat dort das ein, was man in der Wissenschaft als Desertifikation bezeichnet, zu deutsch Verwüstung.»

    Eine der bewegendsten Szenen im Buch ist die, in der sich ein jüdisches Mädchen, kurz vor der Deportation aus seinem Versteck im Warschauer Ghetto nochmals an die unbeschwerten Tage am See bei seinem Onkel erinnert:
    «Der einzige Ort, der seit damals sich ähnlich geblieben sein wird, und über den das Mädchen sogar von hier aus, von ihrer dunklen Kammer aus, noch immer sagen könnte, wie er zu Stunde aussieht, ist das Grundstück von Onkel Ludwig. Vielleicht erinnert sie sich deshalb genauer als an alles andre an die paar Wochenenden und die zwei Sommer, die sie dort verbracht hat. Auf Onkel Ludwigs Grundstück kann sie noch immer von Baum zu Baum gehen und sich hinter den Büschen verstecken, auf den See blicken kann sie und wissen, dass der See noch immer dort ist. Und so lange sie noch irgend etwas auf dieser Welt kennt, ist sie noch nicht in der Fremde (…) Von den hundertzwanzig Menschen im Waggon ersticken während der zweistündigen Fahrt ungefähr dreissig. Weil sie ein elternloses Kind ist, gilt sie, wie auch einige Alte, die nicht mehr gehen können, und ein paar, die während der Fahrt den Verstand verloren haben, als Hindernis für den reibungslosen Ablauf und wird deshalb gleich nach der Ankunft beiseite getrieben, an einem Kleiderhaufen vorbei, der so hoch ist wie ein Berg. Zwei Minuten lang wölbt sich über ihr ein leicht bewölkter Himmel, so wie am See immer kurz vor dem Regen, zwei Minuten lang atmet sie den Geruch nach Kiefern ein, den sie so gut kennt, nur die Kiefern selbst kann sie wegen des hohen Zauns nicht sehen. Ist sie tatsächlich nach Hause gekommen? Zwei Minuten lang spürt sie den Sand unter den Schuhen, auch ein paar kleine Feuersteine und Kiesel aus Quarz oder Granit, bevor sie die Schuhe für immer auszieht und sich auf das Brett stellt, um sich erschiessen zu lassen.»

    Eine halbe Seite nur, auf der Jenny Erpenbeck bedrückend konkret das dunkelste Kapitel des Jahrhundert in Worte fasst. Es gäbe viele andere ähnlich eindrückliche Seiten.

    Jenny Erpenbeck ist – wie wir da hören eine so behutsame wie eindringliche Erzählerin – die unspektakuläre Ruhe ihrer nie prunkenden, aber stets sinnlichen Sprache erzeugt eine Stimmung erfüllter Melancholie von grossem Nachhall.

    Die Fülle an Fakten und Farben, die in diesen Geschichtenteppich verwoben sind, ist nicht angemessen zusammenzufassen! Als poetischer Schlusspunkt stehe hier die Erinnerung eins nach Südafrika ausgewanderten ehemaligen Bewohner des Seehauses:

    «Heim. Wenn es regnet, riecht man die Blätter des Waldes und den Sand. Alles klein und mild, die ganze Landschaft dort am See, so überschaubar. Die Blätter und der Sand so nah, als könne man sie sich, wenn man nur wolle, überziehen. Und der See leckt immer nur schwach am Ufer, leckt an der Hand, die man in ihn hineinsteckt, wie ein junger Hund, und das Wasser ist weich und flach.»

    Ein wunderbarer Text, verehrte Anwesende, nach dessen Lektüre – und vieler anderer natürlich – es der Jury nicht schwer fiel, die diesjährige Preisträgerin zu benennen. Herzlichsten Glückwunsch also, liebe Jenny Erpenbeck, zur Auszeichnung mit dem Solothurner Literaturpreis 2008. Wir freuen uns auf viele weitere Texte von dieser Schönheit und Intensität!

    Ich gratuliere natürlich im Namen der ganzen Jury und möchte meinen KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer für das angenehme Teamwork herzlich danken: auch diese Laudatio fusst auf den Überlegungen von uns dreien. Unsererseits danken wir den Sponsoren des Preises für die Freiheit, in der sie uns wirken lassen, auch dies eine problemlos unkomplizierte Zusammenarbeit.

    Schliesslich danke ich Béatrice Aebi und Frank Schneider für die perfekte Organisation des heutigen Anlasses und den Schwestern Nicole und Marianne Riwar für ihr stimmiges vierhändiges Spiel.

    Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit.