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    Hanna Johansen

    Hans Ulrich Probst, 30. Juni 2003

    «Ich bestehe aus Fragen
    oder: Doppelten Boden schätze ich sehr»

    Liebe Hanna Johansen,
    Willkommen hier in Solothurn – das wir Dir kaum vorstellen müssen gleichsam als Herz der Schweizer Literaturszene.

    Meine Damen und Herren,
    ich freue mich sehr, Ihnen heute Hanna Johansen als neue Preisträgerin des Solothurner Literaturpreises vorzustellen. Zugleich beschleicht mich einige Scheu vor dieser schwierigen Aufgabe, sehe ich doch im Saal viele Freundinnen und Verehrer von Hanna Johansens Schreibkunst, die hiefür berufener wären. Dazu ist mir der Autorin Aussage «Grosse Wörter sind etwas, was ich ungeheuer verabscheue» genau im Ohr. Und doch – wie käme eine Laudatio ohne etwas grössere Wörter aus? Schliesslich vermag auch der Umfang des Werks der heute Ausgezeichneten den Redner schrecken: Nach einem Vierteljahrhundert des Veröffentlichens liegen rund 25 Titel vor, wobei sich die Texte für Kinder und jene für Erwachsene die Waage halten – sollte ich von allen sprechen, blieben mir rund 40 Sekunden pro Buch. Erwarten Sie also keine ultimative Exegese, sondern Miszellen zu einem so vielfältigen wie unverwechselbaren Werk!

    An den Anfang stelle ich zwei Erinnerungen: Zuerst geht es um den Anfang eines Buches einer mir damals unbekannten Autorin, geht es um ein paar Sätze:

    «Die Sache ist die, dass ich im Zug sitze. Der Zug fährt. Wenn das eine Reise sein soll, so weiss ich nicht, wie ich dazu komme, nicht im geringsten, denn ich habe nichts damit zu tun, ausser dass ich mich plötzlich im Zug gefunden haben, in diesem hier. Ich sage plötzlich und nicht unerwartet, weil es vielleicht nicht unerwartet war. Es war auch nicht überraschend. Und was sollte es sonst sein, wenn nicht eine Reise? Alle Umstände deuten auf eine Reise.»

    Das sind Sätze, die unmittelbar Neugier wecken und zugleich etwas rätselhaft klingen. Sie eröffnen «Die stehende Uhr»,Hanna Johansens gerade vor 25 Jahren publizierten Erstling, eine formal avancierte Erzählung von einer faszinierend-verstörenden, das Surreale oft streifenden Bahnfahrt; sie hat mich damals mit ihrer distanziert-subtilen Sprache ebenso gefesselt, wie sie mich in manchem in Ratlosigkeit gestürzt hat. Eine produktive Ratlosigkeit freilich, eine, die Fragen an sich selbst auslöst. «Ich war überglücklich» lautet der gleichfalls verwirrende letzte Satz dieser an eine musikalische Improvisation gemahnenden Prosastudie. Denn am Ende steckt die Reisende in einem Tunnel fest, Lokomotive ist keine mehr da – der Glücksbehauptung in «dieser komplizierten Kombination von unbeschreiblicher Stille und unverhoffter Bewegungslosigkeit» ist nicht zu trauen!
    Die zweite Erinnerung geht ins Jahr 1983 zurück: Inzwischen selbst Vater geworden, sticht mir im Kinderbuchladen der Titel «Bruder Bär und Schwester Bär» ins Auge. Als Autorin der hinreissend erzählten Geschichte von zwei Bärenkindern, die streitend lernen und lernend streiten, ergänzt um ebenso entzückende Federzeichnungen von Käthi Bhend, als Autorin firmiert Hanna Muschg, unsere Preisträgerin. Unvergesslich wie die Bärengeschwister zusehen, wie die Mutter einen Fisch fängt:

    « ‹Ich will auch einen Fisch fangen›, sagte der kleine Bär und stieg auf einen Stein, der glatt und rund aus dem Wasser herausragte. er musste sich mit allen vier Füssen festhalten, um nicht ins Wasser zu fallen. ‹Ich auch›, sagte Schwester Bär, und schon war sie auf den Stein gesprungen. ›Nein!› konnte Bruder Bär gerade noch schreien. Dann machte es platsch, und er zappelte im Wasser. ‹Hilfe, ich kann schwimmen›, schrie der kleine Bär. Und dabei wäre er fast untergegangen. ›Das kann ich auch, sagte Schwester Bär. ›Kannst du nicht› schrie Bruder Bär und schnappte nach Luft. ‹kann ich doch›, sagte Schwester Bär. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie hinterher. Platsch machte es. Dann war von ihr nichts mehr zu sehen. ‹Siehst du›, sagte der kleine Bär. Kaum war er aus dem Wasser herausgeklettert, da tauchte der Kopf von Schwester Bär wieder auf. Sie schnappte nach Luft und tauchte wieder unter. ‹Siehst du›, sagte der kleine Bär noch einmal. ‹Ich fange eben Fisch‹, sagte Schwester Bär, als sie wieder auftauchte. ‹Haha› sagte Bruder Bär, ‹unter Wasser?› ‹Wo denn sonst?› sagte Schwester Bär.»

    Es erstaunt kaum, dass diesen beiden Erstlingswerken enorme Beachtung beschieden war und dass Hanna Muschg-Johansen, Ehefrau eines nicht ganz unbekannten Schweizer Autors, damit selbst ihren Beruf gefunden hatte. Das ist, wie erwähnt, 20 und 25 Jahre her. Schlagen wir jetzt einen Bogen schlagen zu den jüngsten Publikationen dieser Autorin, einen Bogen, der die enorme Spannweite des Schaffens unserer Preisträgerin illustriert und auch etwas von ihrer Person preisgibt. Hanna Johansen ist in Norddeutschland aufgewachsen und dreissigjährig in die Schweiz gekommen. Im vielleicht besten Beitrag des Sammelbands,den Jürg Altwegg und Roger de Weck unter dem Titel «Kuhschweizer und Sauschwaben» über das prekäre Verhältnis der zwei Nachbarn dieses Frühjahr herausgegeben haben, resümiert Hanna Johansen so scharfsinnig wie schalkhaft ihre Erfahrungen in dem Land, an das sie mittlerweile «angewachsen» ist, auch wenn sie nie «wir Schweizer» zu sagen sich getraute. «Hereinspaziert» ist der Titel ihrer so witzigen wie klugen Beobachtungen, sie kleidet sie zunächst in einen «Leitfaden für die ersten drei Tage», welche Deutsche in unserem Land verbringen. Darin lesen wir u.a.:

    «1 Denken Sie immer daran, dass Sie eine Deutsche oder ein Deutscher sind. Sie werden es brauchen.
    4 Vermeiden Sie die gröbsten Fehler
    a) Sprechen Sie nicht zu schnell und vor allem nicht zu viel. Sprechen Sie andererseits keinesfalls zu kurz, das wirkt schroff, und wenn Sie es noch so freundlich meinen.
    b) Streuen Sie keine einzelnen Mundartwörter in Ihr Hochdeutsch, das klingt dann noch deutscher
    5 Sollte Ihnen in diesem Land wider Erwarten irgendwas nicht gefallen oder merkwürdig vorkommen, behalten Sie es für sich.
    16 Was immer Sie tun oder unterlassen, wird hier Exempel. Fürs Deutsche.»

    Was wunderbar träf und sanft sarkastisch formuliert wird, verbirgt den ernsten Hintergrund nicht, wenn die Autorin zu bedenken gibt:
    «Für mich war die Schweiz (…) ein ausgesprochen Angst machendes Land. Auf vielen Ebenen schlug mir entgegen, was ich als Aggressivität des hiesigen Selbstbewusstseins wahrgenommen habe. Auch die Grenzen des Korrekten und Erlaubten oder Erwünschten waren auf vielen Ebenen wesentlich enger gezogen, als ich es gewohnt war. (…) Ob das heute anders ist, kann ich nicht mehr einschätzen. (…) in der Schweiz empfiehlt sich, immer ein Blatt vor den Mund zu nehmen.»

    Soviel von der aus dem gerade gehörten Grunde leider nur selten zu lesenden politischen Publizistin; eine Überraschung stellt auch der zweite neue Text von ihr dar. Denn mit dem Kinderbuch «Omps. Ein Dinosaurier zuviel» greift Hanna Johansen erstmals explizit auf ein früheres Buch zurück. 1992 hatte sie mit «Dinosaurier gibt es nicht» einen Schritt ins Phantastische gewagt, allerdings in eine stark in vertrautem Alltag verhaftete phantastische Welt, wo aus einem von drei liegen gelassenen Ostereiern ein kleiner Saurier entschlüpft, der das Leben der Erzählerin Zawinul fortan auf den Kopf stellt mit seinen Streitereien, seiner endlosen Fragerei und mit seinem schon Fressucht zu nennenden permanenten Hunger, derart. dass die erschöpfte Erzählerin ihre Erfindung loswerden will. «Dinosaurier gibt es nicht – ich glaube ich habe dich bloss ausgedacht», sagt sie zum auf den zungenbrecherischen, aber paläontologisch korrekten Namen Compsognathus hörenden Saurier. Sie wird das Tier aber erst los, wenn sie auch ihren Namen Zawinul weitergeben kann. Und jetzt, elf Jahre später, begegnen wir Zawinul und dem Saurier erneut, und ihre Wohngemeinschaft wird erweitert durch einen blauen Hasen, der aus dem zweiten der drei Eier auf der Fensterbank schlüpft. Der altklug-höfliche blaue Hase und der rotzfrech-naseweise Compsognathus bilden ein köstliches Paar. Hören Sie hinein in den rasant-witzigen Ton, in dem die Erzählerin in der fulminanten Fortsetzung «Omps – Ein Dinosaurier zuviel» von ihrem quicklebendigen Mitbewohner berichtet:

    «Noch schlimmer ist, dass so ein Dinosaurier neugierig ist, dass er alles gleich ausprobiert, zu wenig schläft und auf keinen Fall allein sein will. Das ginge ja noch, aber er macht einen wahnsinnig, weil er schwierige Fragen stellt und sich mit den Antworten nicht zufrieden gibt. Und am schlimmsten ist, dass er das alles gleichzeitig tut. Ich bin sonst sehr für Fragen, auch für schwierige, aber ein Compsognathus stellt Fragen, die so unmöglich sind, dass man die Antwort nicht mal dann herausfinden kann, wenn man in die Bibliothek geht. Dumme Fragen, habe ich oft, gedacht. Ich gebe das nicht gern zu, weil ich der Meinung bin, dass es keine dummen Fragen gibt, höchstens dumme Antworten. Ein Dinosaurier, der dumme Fragen stellt, ist eine Nervensäge. ‹Was ist eine Nervensäge?›, sagt er dann. Aber einem Dinosaurier kann man nicht erklären, was eine Nervensäge ist. Jedenfalls nicht so, dass er damit zufrieden ist. Er wird in die Besenkammer rennen und mit einer Säge zurückkomme, um zu beweisen, dass man Unsinn geredet hat. Und wer das nicht glaubt, soll es ruhig einmal ausprobieren.»

    Neben der schlagfertigen und geistreichen Komik lässt sich an solchen Stellen auch die Sprachkunst dieser Autorin erkennen, die sorgfältig an ihren Texten feilt, bis sie diesen makellosen Klang und Rhythmus haben, jeder Ton stimmt. Dumme Fragen gibt es nicht, heisst es und das trifft ein Leitmotiv unserer Preisträgerin. Sie zieht es vor, die Spannung kaum beantwortbarer Fragen auszuhalten und nimmt nie zu simplen Anworten Zuflucht! Nach diesem ersten Versuch, die thematische Vielseitigkeit und die stilistische Raffinesse dieser Autorin auszugsweise zu zeigen, schulde ich Ihnen denn doch einen etwas systematischeren Zugang zu Vita und Werk:

    Hanna Johansen ist im Juni 1939 in Bremen zur Welt gekommen und dort – neben einem Friedhof – aufgewachsen. Ihr drittes Buch, «Die Analphabetin», gibt grossartig Zeugnis vom Kinde, das sie war. Jenes kleine Mädchen, das dort vom «Normalfall des Unbegreiflichen» im Sommer 44 berichtet, ist, wie die Autorin meint, «die einzige Figur» in ihrem Werk, die «fast identisch mit mir ist». Konsequent aus der Perspektive der 5-Jährigen gesehen, indes mit den so souverän wie zielsicher eingesetzten sprachlichen Mitteln der Erwachsenen, entwirft «Die Analphabetin» jene von Bunkernächten und Bombenängsten, von Verschweigen und Verstummen – vom «Stolpern der Worte» geprägte Realität der Erwachsenen, wie sie das scharf beobachtende Kind schonungslos registriert; auch ohne Kenntnis des Alphabets der Erwachsenen setzt es sich die Wahrheit nach und nach zusammen. Dabei beharrt es trotz der dominierenden Erfahrung der Fremdheit auf der Kraft der Phantasie zum Gegenentwurf. Beim Spielen mit den Zinnsoldaten des im Felde stehenden Onkels, die den grausamen Einfall der Hunnen zeigen inszenieren, plädiert das Mädchen dafür, sich «eine neue Geschichte für das brennende Haus auszudenken.» Eine, die besser ausgeht. Der andere Onkel, der ihr die Soldaten vorführt, findet diese Version zum Lachen:

    «Du meinst wohl, du könntest was ändern, sagt er hustend. Nein. Das weiss ich selber, dass ich nichts ändern kann. Das braucht man mir nicht zu sagen. Bloss für mich ist das kein Grund auf bessere Geschichten zu verzichten.»

    Von der «Analphabetin», 1982, lässt sich wiederum mühelos ein Bogen zur jüngsten langen Erzählung unserer Preisträgerin schlagen: Titel «Lena», erschienen 2002. Diese Erzählung spielt zwar «in der Stadt, die ich am besten kenne», doch die Autorin erfindet ein Schicksal fern des eigenen oder jenes ihrer Mutter. Das Ganze ist ein langer Monolog der einsamen 80-jährigen Lena in Erwartung ihrer Nicht Phia, die in Wahrheit ihre Tochter ist; ursprünglich eine Auftragsarbeit – zum Thema Alter – hat sich das Werk vom schmalen Entwurf zur weit ausholenden, die Schmerzpunkte ihres Lebens immer wieder umkreisenden Klage – nicht ohne Humor – entwickelt. Lena zieht an einem Erinnerungsfaden und schon gerät ein ganzer Knäuel unentwirrbar verknoteter Anekdoten in Bewegung, wo manches nicht aufgelöst, Widersprüche nicht glattgestrichen werden, denn, weiss Hanna Johansen, dies hiesse «von der Wahrheit abzukommen». Die Figur der Lena findet sich ebenso wie die nie eintreffende Phia bereits in vorausgegangenen Buch von Hanna Johansen: in der opulenten «Universalgeschichte der Monogamie», als deren Verfasserin innerhalb der Fiktion eben diese Sophia Schneider auftritt – und in der Hanna Johansen mit enzyklopädischem Anspruch ebenso kokettiert, wie sie mit Laurence Sterne› ‹Tristram Shandy› als Vorbild spielt. Wenn die «Universalgeschichte» die Möglichkeiten von Beziehungen systematisch erkundet und in einem deduktiven Verfahren auf individuelle Schicksale bezieht, so verfährt «Lena» gerade umgekehrt induktiv, versucht, ausgehend von e i n e m Leben zu ermitteln, was allgemein gilt. Beeindruckt, «wie verschieden die kollektive Erinnerung im einzelnen aussieht», gilt der Autorin Interesse in «Lena» dieser Kluft zwischen kollektiver Erinnerung und individueller Erfahrung. Bloss private Befindlichkeit beschäftigt sie nicht. In ihrer Gestaltung individueller Erfahrung schwingt die geschichtliche Verankerung des Einzelnen immer mit.

    Und wenn Johansens Arbeiten sich offenkundig auf minutiöse Recherche stützen (historische, ethologische, paläontologische, so weiss unsere Autorin ebenso um die einzigartige Chance der Literatur: wenn sie meint «ein grosser Teil der Erfindung ist nichts anderes als Erinnerung, die auf einem anderen Weg gar nicht zugänglich wäre.» Das Fortspinnen der Lena/Phia-Geschichte scheint mir ebenso wenig zufällig wie die Wiederaufnahme des Gärtnerei-Friedhof-Ambientes aus der «Analphabetin» oder die Wiederbelebung des Compsognathus. Hanna Johansen lässt ihre Figuren und Motive ungern los. Lieber trägt sie sie lange mit sich herum, bis der Anlass reif ist, sie erneut in ein Buch zu entlassen und dies ganz ohne Rücksicht auf den Markt. Sowohl die «Universalgeschichte» als auch «Lena» erscheinen mir derart als antizyklische Texte.

    Meine Damen und Herren, bisher haben wir uns Hanna Johansens Werk gleichsam von den Rändern her – vom Frühwerk und von den letzten Arbeiten her – genähert, um dessen enorme Vielstimmigkeit und seinen Reichtum vorzuführen. Doch würde man irgendeine Besucherin einer Lesung von Hanna Johansen fragen, wofür diese Autorin zuallererst stehe, wäre ich der Antwort gewiss: nämlich für die äusserst détailgenaue und nuancenreiche Kartographie menschlicher Unzulänglichkeit in Paarbeziehungen, für das, was man gemeinhin Liebe nennt, sowie – wäre im Blick aufs Kinderbuch-Oeuvre zu ergänzen -, für die originell-kenntnisreiche Darstellung tierischer Zulänglichkeit als spannende Folie oder Spiegel menschlicher Muster …

    «Das Thema Liebe kann man nur als Dauerbrenner bezeichnen» – hat unsere Preisträgerin einmal frank geäussert und drum ist es nicht sinnlos, es sich immer wieder vorzunehmen. Um den biographischen Faden aufzunehmen -, auch Hanna Johansen widerfuhr, was im einzelnen höchst schmerzlich, doch statistisch längst gewöhnlich: Das Ende einer Ehe. Welche eigenen Erfahrungen auch immer ihren Blick geschärft haben mögen, nie fliesst etwas davon ungefiltert oder ungebrochen in ihr Schreiben. Unstrittig ist jedoch, dass in deutscher Sprache zuletzt wenige so schonungs- nicht mitleidlos, so genau hinsehend ohne Schuldzuweisung, so heiter zu lesen wie abgründig zu verdauen, vom ewigen Thema geschrieben haben wie Hanna Johansen.

    Ihre unaufgeregte Präzision, ihr mehr selbstironisch der Gattung geltender Humor, ihre sprachliche Souplesse in Komposition und Wortwahl machen ihre Darstellungen zum Verhältnis der Geschlechter zu einem soziologischen und literarischen Schatz. «Ach, die Wahrheit, denke ich, es gibt so viele» sagt die Hauptfigur in der melancholisch-rätselhaften Titelgeschichte des Erzählbands «Über den Wunsch sich wohlzufühlen» und das könnte als Motto dienen für Hanna Johansens ganzes literarisch so ergiebige Nachdenken über Mann und Frau. Und wenn auch ihr Blick zumeist ein erkennbar weiblicher bleibt, wird das eigene Geschlecht nicht etwa geschont. Denn, weil

    «was fehlt, zum Schreiben reizt», finden wir wenig Gelingen und viel Desillusion und Scheitern in Hanna Johansen Panoramen des hiesigen Liebeslebens. Schwer zu entscheiden, welcher Geschichte, welchem Buch der grösste Lorbeer gebührt. Für die einen mag es die meisterhafte «Kurnovelle» sein, für andere die ältere, stille Liebesgeschichte «Ein Mann vor der Tür», für Dritte eine der Geschichten aus den Erzählbänden «Über den Wunsch, sich wohlzufühlen», «Die Schöne am unteren Bildrand» oder «Halbe Tage, ganze Jahre» – allein die Titel schon eröffnen weite Resonanzräume. Hanna Johansen hat in diesen Jahren ihren Erzählton perfektioniert, spricht mit Understatement, mit einer gelassenen Lakonik, wodurch gerade die Zerbrechlichkeit der Figuren, aber auch ihre im Innern brodelnden Emotionen klarer hervortreten. Was als Abgeklärtheit erscheint ist oft nur verbrämte Verzweiflung:
    «Es ist zwar gebräuchlich, dass man einem Mann, den man nicht mehr erreicht, jahrelang nachtrauert, als müsse die Erlösung doch von ihm kommen. Aber darum ist es trotzdem eine Unsitte. Die Forschung kann es beweisen», heisst es in der grandiosen Geschichte ‹Puschkin singen› in «Die Schöne am unteren Bildrand». Und im Folgetext fragt eine alte Frau die jüngere: «Was wissen Sie über die Liebe? (…) Viel, sagte ich nach einigem Nachdenken. Aber nützen tut es kaum». Oder in «Der Mangobaum», einer Ehe-Grammatik auf engstem Raum, sagt der Mann:

    «Vielleicht hast du etwas falsch gemacht (…). Das hatte ich auch schon gedacht. Aber ich mochte trotzdem nicht, dass er es sagte.» Dieses trotzdem gefällt mir ausgezeichnet. Es signalisiert eine anarchisch anmutende Auflehnung, sich der allzu glatten Logik zu beugen. Und diese Renitenz oder Resistenz, die Fähigkeit, Ambivalenzen, Widersprüche zuzulassen, nicht nur gradlinig zu denken, kennzeichnet manche von Hanna Johansens – meist glücklosen – Heldinnen. Sie entwickeln daraus mitunter eine Kraft, der die Herren der Schöpfung dann wenig entgegenzusetzen haben.

    Diesen Eigensinn, der so viele von Johansen Frauenfiguren auszeichnet, charakterisiert die Autorin selbst und nachhaltig auch im vielleicht eigenwilligsten ihrer literarischen Projekte, dem schmalen Band «Über den Himmel. Märchen und Klagen». Fasziniert von der Jahrhunderte langen «Neugier der Menschen» für jenes Blau und Schwarz über uns, hat sich Hanna Johansen einerseits in die wissenschaftlichen Befunde hineingekniet, andererseits Märchen und Mythen neu gelesen und neu formuliert, was eine Wundertüte verblüffender spielerischer und nachdenklicher Texte ergibt. Dabei steht ihr gerade in den Erkundungen zum Kosmos die Dialektik der Aufklärung klar vor Augen, wenn es heisst:
    «»Die Leere des Himmels erschreckte die Menschen (…) da sie den Wechselfällen des Lebens so über die Massen ausgeliefert waren, glaubten sie auf die Unverrückbarkeit und gediegene Ordnung eines Kosmos nicht verzichten zu können».

    Und weiter:

    «Nur zu bald sollte sich zeigen, dass der Aberglaube in keiner Zeit so stark zugenommen hatte wie in jener,,als die Menschen begannen, alles mit eigenen Augen sehen zu wollen, ob es sich nun um den Himmel oder um fremde Kontinente handelte. In keiner Zeit wurden mehr Menschen geknechtet, gefoltert, verbrannt als in jener, da man Licht in das Dunkel menschlicher Unkenntnis gebracht zu haben glaubte.»

    Nun, ich hoffe, ich habe Ihnen ein wenig vom Reichtum der Themen und Tonfälle, von der Vielfalt formaler Zugriffe und stilistischer Register im Schaffen der heutigen Preisträgerin zu vermitteln vermocht.

    Wofür zeichnen wir Hanna Johansen heute aus?

    Liebe Hanna Johansen, es wird Dich kaum überraschen, wenn ich zum Schluss zu den Tiergeschichten zurückkehre. Da ist zunächst jene, von der ich weiss, dass Du sie besonders magst: «Ein Maulwurf kommt immer allein». Zu ihr und zur ersten Dinosaurier-Geschichte hast Du selbst Bilder – schwungvoll-verspielte Linolschnitte beigesteuert, was mir auch ein Hinweis auf die Nähe der Geschichten zu Dir selbst scheint.

    «Einmal dem Maulwurf bei der Arbeit zusehen, das möchte ich», sagt das kleine Mädchen bereits in «Die Analphabetin». Ich weiss nicht, ob Dir das inzwischen geglückt ist, jedenfalls verrät die wunderbare Geschichte geradezu intime Kenntnis vom Leben unter der Erde. Sie erzählt von einem Maulwurf, der eine Maulwürfin ist und drei Kleine bekommt, ihre «herzallerliebsten Seidenwürmchen» wie sie die drei beständig nach Futter schreienden frage- und rauflustigen Bälger nennt. Die Geschichte operiert mit den verschiedenen Erfahrungshorizonten von Kinder und Erwachsenen ebenso geschickt wie mit liebevoller Ironie und Selbstironie als Spielangebote, was sich von der für Kinder völlig ungeeigneten, der Autorin verhassten, Ironie von oben herab völlig unterscheidet.

    Ritualisierung und Rhythmisierung prägen die Sprachgestalt dieses Textes und ich möchte uns zum Schluss eine Kostprobe der Maulwurfserziehung nicht vorenthalten:
    «‹Ein Feind ist einer, der dich fressen will. Klar?› ‹Klar› ‹Oder einer, der dir deine Höhle wegnehmen will.‹ ›Klar›,sagten die drei Maulwürfe. Und der dritte Maulwurf sagte: ‹Was denn nun? Fressen oder Höhle wegnehmen?› ‹Je nachdem› sagte Mutter Maulwurf. ‹Aber das kommt auf eins raus. Man muss sie alle wegjagen. Vor allem die andern Maulwürfe. Klar?› ‹Klar›, sagten die drei Maulwürfe. ‹Aber wie?› ‹Beissen und Kratzen›, sagte Mutter Maulwurf. ‹Und das genügt?› ‹Man muss nur wollen. Klar?› ‹Klar› sagten die drei Maulwürfe.
    ‹Aber wenn es ein Wiesel ist, eine Kreuzotter oder ein Iltis, dann ist es besser, wegzurennen.› ‹Natürlich›, sagten die drei Maulwürfe. Nur der dritte Maulwurf wollte noch mehr wissen: ‹Wie merke ich denn, ob jemand mich fressen will?› ‹Kein Problem›, sagte Mutter Maulwurf. ‹Alles, was grösser und stärker ist als du, will dich fressen.› ‹Klar› sagte der kleine Maulwurf. Dabei war er gar nicht so sicher. Wie soll denn ein kleiner Maulwurf jemanden wegjagen? Er dachte nach. ‹Ich hab aber Angst›, sagte er nach einer Weile. ‹Das ist gut›, sagte Mutter Maulwurf. ‹Wenn du einen Feind verjagen willst, musst du erst noch ein ganzes Stück grösser werden. Bis dahin ist es besser, wenn du dich versteckst und still bist.› ‹Klar›, sagte der kleine Maulwurf. Nun wussten die drei Maulwürfe, was ein Feind ist. Was aber ist ein Freund? Das sollte man doch auch wissen. ‹Ganz einfach‹, sagte Mutter Maulwurf. ›Ein Freund ist einer, den du fressen kannst. Klar?‹ ‹Klar›, sagten die drei kleinen Maulwürfe. Das war nicht schwer zu begreifen. Sie bekamen schon Hunger, wenn sie an ihre vielen Freunde dachten: an die Regenwürmer, die Engerlinge, die Tausendfüssler und all die anderen Leckerbissen. Das Wasser lief ihnen im Mund zusammen. ‹Wann kommt das Essen?›, schrien die drei herzallerliebsten Seidenwürmchen.»

    Verblüffend neben dem Charme der Erzählung ist, wie viel an Wissen über Mensch und Tier Hanna Johansen beinahe beiläufig vermittelt. Natürlich stellen die Tiere für Kinder zunächst ein Identifikationsangebot dar, aber in Hanna Johansens Geschichten bleibt es nie dabei. Diese machen die Kinder immer auch aufmerksam auf das ganz andere, auf die Differenz und führen sie so zu den Menschen und ihrer Verschiedenartigkeit zurück.
    Ebenfalls exemplarisch führt dies der Katerroman «Felis, Felis» vor, der mir persönlich zum liebsten Buch unserer Preisträgerin geworden ist.

    Dieses zauberhafte Buch berichtet vom Zusammenleben der seltsamen Species Homo sapiens mit der Hauskatze konsequent aus der Perspektive des Tiers. Auch hieraus zum Schluss ein sprachspielerisches Zitat, welches den hintergründigen Sprachwitz der Preisträgerin unübertrefflich vorführt: Eingesperrt, weil er Adoleszenzkämpfen geschuldete Verletzung auskurieren soll, macht sich der gelangweilte Felis über den Wohnzimmerteppich her und wird dann von der Herrin des Hauses gestellt:

    «Der Teppich ist frech geworden», sagte er, «He, Schlitzohr», sagte die Frau ich glaube, du hast heute Unsinn im Sinn.» «Selbstverständlich», sagte Felis. Denn ohne Unsinn im Sinn wäre ganz und gar kein Sinn im Unsinn, und der ganze Unsinn hätte keinen Sinn. Nichts gegen Unsinn, aber ganz ohne Sinn ist er Unsinn.»
    Diesem Katercredo, meine Damen und Herren, habe ich nichts beizufügen!

    Liebe Hanna Johansen, Herzlichsten Glückwunsch zur Auszeichnung mit dem Solothurner Literaturpreis 2003 – ich sage das auch im Namen meiner Jury-KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer, denen ich für die gewohnt unkomplizierte Zusammenarbeit und kompetente Unterstützung ebenso danke, wie wir alle drei den Sponsoren des Preises für die Freiheit danken, in der sie uns wirken lassen.

    Ein grosser Dank gilt schliesslich Frau Aebi und Herrn Egli für die organisatorische Betreuung dieses Anlasses! Herzlichen Dank – at last not at least – dem Pianisten John Wolf Brennan für die stimmige musikalische Gestaltung dieser Preisverleihung.

    Ganz herzliche Gratulation Hanna Johansen – wir freuen uns auf weitere Bücher von Dir!