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    Gertrud Leutenegger

    Eva Seck, 21. Mai 2023

    Sich der Schwerelosigkeit hingeben

    Wer sich in die Literatur Gertrud Leuteneggers begibt, tritt zugleich in eine Welt, in der Gegenstände, Zustände und Zeiten durchlässig werden, wo man wach zu träumen scheint, wo Blicke und Gefühle mit sanfter, aber sicherer Hand in immer andere Richtungen gelenkt werden; kleine Verschiebungen sind es bloss, Bilder und Szenen verändern sich kaleidoskopisch, ihre Zusammenhänge erschliessen sich jedoch mühelos – um gleich darauf eine neue Bedeutung anzunehmen. Ein Stil, so atmosphärisch wie beschwörend, verfasst in einem präzisen und besonnenen Ton. Er ist einzigartig in der deutschsprachigen Literatur, und ja, man muss sich einlassen auf das Luzide, auf das Fremde und Ferne.

    Über das Fremde in Leuteneggers Werk schrieb Ruth Schweikert vor über fünfundzwanzig Jahren in einem Essay mit dem Titel «Verlorene Pläne einer Weltordnung»: «Eine Ich-Erzählerin geht, wohin sie auch geht, in die Fremde. In ein Dorf der französischen Schweiz, mit dem Wunsch, in die dort «bestehenden Verhältnisse vollkommen sich einzugliedern», nach Japan, an den äussersten Rand des Horizonts, wo die Welt buchstäblich zu existieren aufhört, an die Grenze zum Tod […].» Es ist ein Fortgehen, ein Sich-Fortbewegen bis in die Randgebiete, um sich und die eigene Herkunft erst zu begreifen. Das Risiko, nicht wieder zurückzufinden, das Risiko der Entfremdung schwingt fortwährend mit. Es ist eingepreist in ihre Kunst und dies alles zeichnet Gertrud Leuteneggers Werk aus.

    «Eben bin ich aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil das Gewicht eines Kopfs auf meine Schulter fiel.» Mit diesem Satz beginnt das Buch «Acheron» von 1994. Eine Frau reist durch Japan, von der Hauptstadt aus meerwärts, dem Pazifik zu, wo sie eine Fähre besteigt, um auf eine kleine Vulkaninsel zu gelangen. Sie ist auf der Suche nach Tenko. Tenko ist eine fliegende Händlerin, eine Streunerin, eine Getriebene und Suchende, eine ganz und gar zauberhafte Gestalt, deren schlafender Kopf in der Metro der ebenfalls schlafenden Erzählerin auf die Schultern sinkt. Tenko verkauft Muscheln an Reisende, sie ist unterwegs, den unsichtbaren Linien entlang, in ihren festen schwarzen Schuhen. Unmittelbar nach der ersten Begegnung knüpft sich zwischen der Erzählerin und Tenko ein Band der gegenseitigen Faszination und Anziehung: «Tenko aber hatte ihre Spuren bereits mit den meinigen vermischt», so beginnt ihre gemeinsame Geschichte. Die beiden streichen eine Zeit lang zärtlich verbunden durch Tokyo. Die Erzählerin wird die Spur Tenkos verlieren, sie wiederfinden und ihr folgen bis auf Tenkos Heimatinsel. Zwischen ihre Erlebnisse in Japan schieben sich die Erinnerungen an ihren ehemaligen und viel älteren Geliebten, den sie nur «Signor» nennt. Eine unerbittliche Liebe, die ins Unglück führt, vor dem Hintergrund eines Bergdorfes, am Rande einer Schlucht: «Der Signor war ein Abgrund, der jede frühere Leidenschaft verschlang, alle diese glühend zerstäubten Sterne und Planeten, und am Ende seiner Existenz von ihnen erhitzt, leuchtete er noch einmal hell auf. Doch ahnten wir das kalte expandierende Universum dahinter? Ich fühlte den Schatten der Liebe wachsen, als wäre diese bereits entflohen, und ich vergrub mich in diesen Schatten, krallte mich in seinen Flügeln fest, kämpfte bis zum Morgengrauen, ich lasse dich nicht!» Die Erzählerin entscheidet sich am Ende für die Gegenwart und gegen eine schmerzliche Erinnerung. Entscheidet sich für Tenko, was auf Deutsch soviel wie Wendung bedeutet, Umkehrung, Bekehrung oder Konversion, und damit entscheidet sie sich für ihre Befreiung. Auf der Fähre hinüber zur Vulkaninsel, wo Tenko ihre Kindheitssommer verbrachte, beobachtet die Erzählerin den ganz in weiss gekleideten Kapitän. Irgendwann verschwindet er von der Bildfläche und sie vermutet, er müsse ins Weiss einer Kabine eingegangen sein: «[…]nicht mehr unterscheidbar von den hellen Wänden; selbst wenn seine Hände, auch diese weiss behandschuht, einmal durch die Luft fahren sollten, wäre es nur wie das Auffliegen einer weissen Taube im Raum». «Acheron» ist nichts für Orientierungssuchende, in diesem Text sollen wir uns vielmehr verlieren, uns treiben lassen, wir sollen seine Farbe annehmen und mit ihm zerfliessen: Das Glück der Auflösung spüren.

    Ruth Schweikert schrieb in einer Literatur-Serie in der «Wochenzeitung», die im Zusammenhang der Solothurner Literaturtage von 1997 erschien, über Gertrud Leutenegger. Ruths genaue Gedanken, die sie sich damals über das literarische Schaffen ihrer Kollegin machte, werden in diese Laudatio hineinfliessen. Das Flüssige hier aufzugreifen scheint mir folgerichtig. Ruth Schweikert bemerkt in ihrem Essay: «Eine gern verwendete Metapher, den Zustand des Lesens zu beschreiben, drängt sich für diese Autorin – Gertrud Leutenegger – geradezu auf: eintauchen in einen Strom, der fast richtungslos noch in «Vorabend», stärker auf eine Geschichte eingegrenzt später, offenbar vor den Augen der hellwachen Ich-Erzählerin vorbeifliesst und dabei Sedimente abendländischer Kultur, deren alte und neue Mythen, begleitet von den Bildern einer katholischen Kindheit der Innerschweiz der fünfziger Jahre, Erinnerungen an den stets fernen Geliebten (mag er auch neben ihr sitzen) an die Ufer des erzählenden Bewusstseins schwemmt. Dieser Strom ist natürlich nicht nur ein willkommenes Bild für die tieferliegenden Textstrukturen; Wasser, Flüsse, Seen, Überfahrten, das Meer, die Angstvorstellung und/oder Beschwörung einer neuen Sintflut tauchen in allen mir bekannten Texten auch an deren Oberfläche auf.»

    Die Geschichte von Loredana, einer jungen Sexarbeiterin, die mit einer Freundin an einer grossen Ausfahrtsstrasse Roms wohnt, der Via Prenestina, und deren Unterkunft von zwei Männern mitten in der Nacht in Brand gesetzt wird, erscheint im November 1985 in einer Schweizer Tageszeitung. In «Roma, Pompa, Loredana» streift die Erzählerin durch das frühlingserwachte Rom, alle Poren sind geöffnet, und Sinnlichkeit strömt durch diese Zeilen und Sätze: Der Duft der Orangenblüten, die scharfen Kontraste der Palmen auf den Dachterrassen vor dem rötlich gefärbten Abendhimmel, die kühlen Schatten in den langen schmalen Strassenzügen. Aus diesen Strassen lässt die Erzählerin Loredana treten. Sie imaginiert sich in das Leben der jungen Frau: «Vielleicht hat Loredana einmal, rasch im Vorbeifahren, das Kolosseum mit einem Blick gestreift, eine Art Wut unterdrückend, wie kann man eine Ruine restaurieren, während draussen, in den Baracken, alles mangelt? Über den Innenraum des Kolosseums werden keine Seile und Segel mehr gespannt, von den Matrosen der kaiserlichen Flotte bedient, um die Zuschauer vor der Sonnenhitze zu schützen und in den anhaltenden Geruch von Blut und Dung einzuschliessen, aber Loredana hört die aufgehetzten Schreie auch so, sie hört sie jeden Tag, in der Via del Torrione, ladre! drogate! lesbiche! prostitute!» So fliessen in Leuteneggers Prosa die Zeiten wie Lichtbilder ineinander, überlagern sich wie ein Palimpsest, wiederholen sich hetzende Worte so lange, bis jemand sie aufschreibt und bannt; sie herausstellt in ihrer ganzen Verachtung. Worte, aus denen Taten wurden: «Inzwischen zirkulieren Bilder von Loredana in den Zeitungen. Loredana auf dem Spitalbett, aufgebahrt wie eine Mumie, vollkommen einbandagiert, kein Stückchen unversehrte Haut ist sichtbar, nur der Mund steht ab, und die Augen, die Augen weit geöffnet.» Die Erzählerin verschliesst ihre Augen nicht, schaut nicht weg aus Furcht oder Scham. Auch wenn Loredana den Brandanschlag auf sie und ihre Freundin vorerst schwer verletzt überlebt, wird sie sich nicht mehr davon erholen. Und die Erzählerin weiss um die Verbundenheit mit diesen Opfern und ahnt um die eigene Mittäterschaft als Teil eben dieser Gesellschaft: «Aus der bereits dürren Campagna, hinter der Via Prenestina, der Via del Torrione, steigt heiss, unbegreiflich und blau der Sommer empor, und ich laufe weiter durch die Stadt, Staub von Rom im Haar, Loredanas Asche.»

    Ja, die Kontraste. Nicht nur als visuelles Phänomen tauchen diese in Gertrud Leuteneggers Texten auf, sondern auch als Gestaltungselement, als Lehre der Gleichzeitigkeit, als schmerzhafte Bewusstseinsübung und manchmal auch als Trost. Aber auch die Bewegung, das Bewegliche, das Konvulsivische und im Gegensatz dazu das Fluide und Zarte sind wichtige Motive ihrer Arbeit. In einem Text über Japan mit dem Titel «Nippon, Grün und Schwarz» schreibt sie: «Ein Gleiten, Verlagern ist alles.» In einer anderen Szene, aus «Zürich, ein Julitag» über das schöne und manchmal allzu glatte Zürich, formuliert sie eine Frage, die für mich ebenfalls einen Leitsatz ihrer Poetik skizziert: «Kommen nicht nur durch Störung unserer Gewohnheiten jene vielfältigen Kontaminationen und Kontaktmetamorphosen zustande, die eine Stadt erst vibrieren lassen?» Denn Leuteneggers Prosa findet ihren Ausgangspunkt nicht in der Konstruktion oder im Konzept, sondern im Kontakt mit dem Leben. Beim Gehen durch das verwirrende Strassennetz einer unbekannten Stadt, beim Graben mit blossen Händen in der Erde oder in der Erinnerung an Auffahrunfälle auf der Strasse, die zum Gotthardpass führt. Die Erzählerin hat sich berühren lassen und scheut nicht die Kontamination. Ihre Prosa vibriert, summt, bebt auch mal und hat bald die Wirkung eines Sturms, wo vieles nachher nicht mehr da ist, wo es einmal hingehörte.

    Ruths Essay aus der WoZ trägt wie bereits erwähnt den Titel «Verlorene Pläne der Weltordnung». Das Ordnungsprinzip in Leuteneggers Literatur sei «ein Versuch, die «Weltordnung» zu erkennen, ohne die Elemente dieser Welt beim Schreiben hierarchisch zu ordnen; diese Überschrift könnte man über alle Texte Gertrud Leuteneggers setzen. Nichts Menschliches, nichts Unmenschliches, nicht zerstörte oder intakte Natur, nicht die zweiundzwanzigtausend Paar Kinderschuhe von Auschwitz, die Insassen einer psychiatrischen Klinik, nicht Berlin oder der Tod, nicht die Geste des missglückten Zigarettenanzündens oder das Alltagsleben einer italienischen Gastarbeiterfamilie ist dieser Autorin unwichtig, allein wichtig oder fremd, und alles ist ihr fremd und absurd genug, um es mit jener Distanz zu beschreiben, die den genauen (und poetisch überhöhten) Blick erst ermöglicht. Die in (eine unverkennbare) Sprache gesetzten Denk-Bilder Gertrud Leuteneggers erzwingen eine Konzentration der Lesenden, die höchst selten in einem Punkt sich sammelt, sondern ein Flimmern erzeugt.»

    In einem anderen Text, mit dem Titel «Generalbass», beschreibt die Erzählerin ihr Kindheitszimmer: «Mein Kindheitszimmer bestand überhaupt nur aus Fenstern, durch den grossen Schlafraum meiner Eltern hatte man eine Wand gezogen; nun schlief ich da wie in einer Glasveranda, fast mehr schon in der Natur als im Innern des Hauses. Es fehlten auch Stuhl und Tisch; die weite Aussicht auf die beiden Seen, die Berge rundum am Horizont war alles beherrschend, eine Art luftiges Treibhaus, eine Loggia, eine Arkade.» Als schliesslich ein Föhnsturm durch das Tal fegt, beschreibt die Erzählerin, wie «in lauen Nächten die angestauten Luftmassen jenseits des Gotthards endlich zum Überwehen des Passes gezwungen wurden und diesseits mit tobender Gewalt in die Täler einfielen». Als das Kind Angst bekommt, sein Zimmer berste und es werde jäh hinaus ins Universum geweht, begreife ich, wie es sich mit Leuteneggers Prosa verhält: Als Leserin bin ich der Macht und der Zartheit ihrer Sprache ausgesetzt, dem aufwühlenden Gewitter und seinen Assoziationen, den Bildern und Gedanken. Ihre Lektüre ist eine Art immersive Erfahrung, ganz so, wie sich das Kind in der Glasveranda fühlte: Ausgesetzt, und zwischen dem Sturm und sich bloss der gläserne Schutz, wo es aufgehoben und ausgeliefert zugleich ist. Oft lässt die Erzählerin mir einen Schimmer Trost, eine Spur Zuversicht, einen «Rettungsanker im sturmerfüllten Sog der Unendlichkeit», wie sie einmal schreibt. Das Kind entdeckt nämlich durch das Schlüsselloch den bernsteinfarbenen Schimmer der Nachttischlampe der Mutter, ein «letzter mattleuchtender Faden, der mich an der Erde festhielt.» Nie lässt Leuteneggers Wortsturm uns Leserinnen ins Universum katapultieren, das ich mir heimlich so untröstlich vorstelle wie bei Georg Büchner in Woyzecks Anti-Märchen: der Mond ein Stück «faul Holz», die Sonne eine «verwelkte Sonnenblum» und die Sterne bloss kleine aufgesteckte Mücken, die goldig glänzen. Gertrud Leutenegger aber schenkt uns das Bernsteinlicht der Lampe.

    Ihr zuletzt erschienener Roman «Späte Gäste» spielt in einem Tessiner Bergdorf. Das Buch erschien im Sommer 2020, einem Jahr, dass uns globale Zusammenhänge neu begreifen liess, auch unsere eigene Verletzlichkeit, die Fragilität des Gesundheitssystems und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Gewissheiten verschoben sich: Ein Verlagern ist alles und in diese neue und eigenartige Zeitrechnung hinein, die vielen von uns als surreal und seltsam schwebend in Erinnerung geblieben ist, erschien «Späte Gäste». Es berichtet von der fünften Jahreszeit, der Fasnacht, und vom Erinnern. Die erzählte Zeit erstreckt sich über eine einzige Nacht, in der wir mit der Erzählerin fürchten, träumen, wachen und bangen. Sie übernachtet in der verlassenen Wirtshaus-Villa, um am anderen Tag die Totenwache ihres einstigen Geliebten Orion zu beginnen. Wir warten mit ihr auch auf die Ankunft der gemeinsamen Tochter. Der Wirt ist über den Winter in seine Heimat Sizilien gereist, sie kennt das Haus jedoch gut, es war in ihrem früheren Leben Zufluchtsort und Stätte des freudigen Beisammenseins. Jetzt sind die Räume kalt, dunkel und unheimlich. Aber überall schimmert das Licht von einst durch und erleuchtet die Fresken und Wandbilder. Die Erzählerin träumt, die Erzählerin erinnert, die Erzählerin trauert, und ihre Visionen erhellen wie ein Gewitter den Nachthimmel. An der Decke entdeckt sie gar im gemalten Tellmythos den Ätna! Die Erzählerin schwankt zwischen Wachen und Schlaf, zwischen Traum und Realität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Völlig unvermittelt und wie aus einer fernen Welt tauchen in einer Geschichte der Freundin Serafina die titelgebenden späten Gäste an einer Fasnachtsgesellschaft auf: Es sind Geflüchtete von weit her, die mit ihren Booten gestrandet sind an den südlichen Küsten unseres Kontinents. Unter den Masken der «Hässlichen» blitzt eine Unerschrockenheit und Verzweiflung auf, die die Erzählerin fasziniert. Es ist ein Buch der Ankunft und des Abschieds. Einer mit Namen Orion ist gegangen und andere kommen und bringen ihre unerschütterliche Hoffnung mit. Mit der ganzen prekären Trauer und der ganzen Zartheit berichtet Leutenegger hier erneut von der Gleichzeitigkeit von Schönheit und Schrecken, Hoffnung und Angst, von Leben und Sterben. «Angesichts des Todes wird manches so leicht. Und dieser Schwerelosigkeit darf ich mich hingeben, ich weiss es, sie ist es, die rettet und erhält.» Gertrud Leutenegger verbindet sich mit verschiedenen Schicksalen in einer staunend-machender Empathie und scheut nicht das Unheilvolle, das Grausame und die Verletzlichkeit unserer Existenz. «Späte Gäste» ist aber auch eine Geschichte der Emanzipation; die Erzählerin und mit ihr wir Leserinnen müssen von etwas loslassen, damit etwas Neues beginnen kann und sei dies nur ein neuer Tag, der sich mit der Dämmerung ankündigt. Sie erzählt davon eindringlich und leuchtend, magisch und klar.

    Es gibt so viele erleuchtete Sätze in Gertrud Leuteneggers Werk, ich könnte Seiten füllen. Viele davon sind versammelt im Band «Partita. Notate», der 2022 im Nimbus Verlag erschienen ist: «Die Glut der Ahnung. Denn noch erkenne ich nicht. Aber mein Gefühl weiss.»

    Über Gertrud Leuteneggers Sprache schreibt Ruth Schweikert, sie sei von «einer bezwingenden rhythmischen Schönheit»: «Das Erkenntnisinstrument ist natürlich die Sprache, die noch auf einer weiteren Ebene, nicht nur auf der semantischen, zum beglückenden, zum irritierenden Lese-Erlebnis einer umfassenden Gleich-Gültigkeit führt; dem zufällig beobachteten Detail, den Reflexionen über die Schweizer Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, der Farbe eines bestimmten Kleidungsstücks wird dieselbe sprachliche Sorgfalt zuteil. […] Die «Schönheit» der Sprache als übergeordnetes Prinzip?», fragt Ruth weiter: «Überzeugend ohne jede Ambivalenz wird diese Sprachkraft, wo ein solches Bild gefunden wird (das Liebespaar hält Nachtwache vor dem auf einen Eisenbahnwaggon aufgebahrten Wal)»: «Unsere Eltern, die von ihm verschluckt worden waren in den zwei Kriegen, die nur die Verdunkelung erlebt hatten, sie waren im Innern des Walbauchs gesessen, die meisten nachtblind, ungerührt, sie hatten alles als Verhängnis betrachtet und dumpf gewartet, bis sie wieder ausgespien wurden. Ohne einen Blick zurück.»

    Gertrud Leutenegger ist auch eine Anruferin der Dichter: Sie bezeugt ihre Hingabe zur Literatur, indem sie über diese nachdenkt, sie beschreibt und von allen Seiten betrachtet; sie zu ihrem Leben macht. Sie ruft ihre Vorgänger an, Novalis, Goethe, Kleist, Dante oder Walser. Über Kleist schreibt sie: «Dieses Changierende, dieses Übergehen einer Wirklichkeit in die andere ist vielleicht das Beunruhigendste an Kleist, der in einem Brief an den Freund Rühle über den Tod sagte: «Es ist, als ob wir aus einem Zimmer in das andere gehen.»» Ein ständiges Gleiten, ein Verlagern ist alles. Mit der Fähigkeit, die Welt der Lebenden und die der Toten zu durchschreiten, ist ihre Literatur ausgestattet.

    Man möchte Gertrud Leutenegger zur Verfügung haben (ein Wunschtraum, denn natürlich ist sie auch eine Meisterin des Unverfügbaren), und dennoch ersehne ich sie mir als Begleiterin an die Orte, mit denen ich verbunden bin und die ich besser verstehen möchte. Sie würde von unseren Reisen erzählen, Szenerien aufrufen, Figuren erschaffen, ihre klugen Beobachtungen und Gedanken dazu aufschreiben und mich so auf alles aufmerksam machen, was ich übersehen habe. Einmal stehen in einer ihrer Erzählungen tatsächlich die Länder Japan und Senegal in einer Aufzählung nebeneinander und ich muss lachen, weil ich solche Zufälle liebe und natürlich als Zeichen deute.

    Ruth erklärte mir kürzlich: «Gertrud Leutenegger macht universelle Erfahrungen mit einer weiblichen Erzählstimme zugänglich. Während dem sich ein junger 68er oder danach geborener Schriftsteller im sogenannten Westen vor allem mit westlichen, männlichen Werten identifiziert, bettet sie den weiblichen Blick, wie beispielsweise in «Acheron», in eine grosse europäische, aber auch gerade in eine nicht-europäische Erzählung ein. Dies ist die grosse Stärke von Leuteneggers Schreiben.»

    Je älter ich werde, desto eher erkenne ich die, die vor uns waren. Sie sind eine Möglichkeit der Verortung, die Möglichkeit des poetischen oder geistigen Verbunden-Seins, und sei dies durch die gemeinsame Luft, die wir atmen. Als ich geboren wurde, hatte Gertrud Leutenegger bereits ein umfassendes Werk: Da waren bereits acht Bücher; Romane, Gedichtbände und Erzählungen von ihr erschienen. Wie so oft zu den wichtigen Dingen fand ich über eine Freundin zu ihr: Die Schriftstellerin Noëmi Lerch drückte mir vor vielen Jahren Gertrud Leuteneggers Buch «Matutin» in die Hand. Ich las es, und noch heute weiss ich, wie ganz und gar fremd sich diese Welt für mich anfühlte; dieser morbide ehemalige Vogelfangturm, die Wärterin, kaum fassbar, wie ein Geist, die mystischen und spirituellen Bezüge… Ich verstand wenig. Mein jüngeres Ich gab aber nicht auf. Es weigerte sich, das Buch wegzulegen, auch wenn es das Gefühl hatte, dieses nicht wirklich zu durchdringen. Es mutete sich etwas zu. Das auszuhalten und darauf zu hoffen, den Zauber eines Textes zu einem anderen Zeitpunkt zu entschlüsseln, rührt mich, und ich hege eine heimliche Bewunderung für diese wohl manchmal etwas unbeholfene und bildungsferne Literaturstudentin, die ich damals war. Und bin dankbar für das Glück, mich heute noch einmal mit Leuteneggers Werk zu beschäftigen. Zwei Schreibgenerationen liegen zwischen uns. Ruth Schweikert steht in der Mitte und streckt uns verbindend ihre Hände entgegen. Wir, die heute schreiben, berufen uns auf die, die vor uns kamen. Sich als Teil einer sich fortschreibenden – und nicht zuletzt weiblichen – Literaturgeschichte zu begreifen, lehrt einen Demut und gibt Kraft. All die schreibenden Frauen, deren Bücher und Gedanken Teil von mir und meinem Denken wurden, weisen auch in die Zukunft, denn nichts, was heute ist und morgen sein wird, wäre ohne sie möglich gewesen. Sie sind Wegbereiterinnen und Wegbegleiterinnen, mögen die Lebensrealitäten und die Bedingungen, unter denen unsere Literatur entsteht, verschieden sein. Das Werk von Gertrud Leutenegger hilft uns die Schönheit, die Brutalität und die Unverfügbarkeit unserer Existenz immer wieder aufs Neue zu erfahren.