• Die
    Ankündigung
  • Der
    Preis
  • Die
    Preisträger*innen
  • Die
    Preisverleihung
  • Die
    Jury
  • Das
    Pressematerial
  • Der
    Kontakt
  • Laudatio auf

    Franz Hohler

    Hans Ulrich Probst, 12. Mai 2013

    «Geschichten gehören zu unseren Grundbedürfnissen wie Essen und Trinken.»

    Lieber Franz Hohler, meine Damen und Herren,

    Ich freue mich riesig, dass Sie alle da sind, um mit uns einen Preisträger zu feiern, den ich gewiss nicht vorzustellen brauche, weil er, vor kurzem 70 geworden, in den vergangenen Jahrzehnten in unserem Kulturleben derart nachhaltige Spuren hinterlassen hat, dass wohl alle hier Anwesenden eine persönliche Geschichte mit ihm und seinem Schaffen verbindet, und das oft schon seit Kindheitstagen. Franz Hohler ist helvetisches Kulturgut – keine Frage!
    Dieses Monument und sein umfangreiches Oeuvres umfassend zu würdigen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit.

    Allein schon sämtliche Titel seiner Geschichten, Lieder, Kabarettnummern, Radio- und Fernsehbeiträge hier aufzuzählen, würde meine Redezeit ausfüllen. Denn: 21 Bücher für Erwachsene, 11 für Kinder sind derzeit greifbar, dazu kommen über 20 vergriffene Titel, zu schweigen von den Tonträgern, Hörbüchern, von Kabarett, Radio und Fernsehen.

    Franz Hohlers Werk als frecher Kabarettist, als grandioser Performer in Mundart und seinem zum Markenzeichen gewordenen Oltener Hochdeutsch, als Pionier für kluges Kinderfernsehen und träfe Radiosatire ist schon vielfach gewürdigt worden. Heute steht der Autor Franz Hohler im Zentrum.

    Wir zeichnen einen Erzähler aus, der in seinen Texten die utopischen Potenziale des Alltags auslotet und Wirklichkeit und Phantasie virtuos vermischt; wir zeichnen einen Geschichtenfinder und -erfinder aus, der dem Gewöhnlichen originelle Plots und lakonische Pointen abringt und das Komplexe meisterlich im Einfachen verpackt; wir zeichnen einen Dichter aus, der mit anarchischer Sprachlust und subtiler Poesie das Beiläufige, das Unscheinbare gestaltet.

    Franz Hohler selbst, der sich als literarischen Allgemeinpraktiker sieht, betont: Der Autor stand für mich immer am Anfang meiner Arbeit. Tatsächlich ist Hohler zuvorderst ein Spracharbeiter. Er bearbeitet seine Materie so listig-eigenwillig wie treffsicher – in Mundart und Schriftsprache – und stellt, egal, in welchem Medium, immer wieder eines her: Geschichten. Denn Geschichten, das sagt unser Preisträger, gehören zu unseren Grundbedürfnissen wie Essen und Trinken.

    Getragen von dieser Überzeugung hat Franz Hohler ein singuläres erzählerisches Universum geschaffen: Er weiss, wie wenige andere sonst, aus dem scheinbar Gewöhnlichen, Normalen literarische Funken zu schlagen, er entführt uns mit wenigen Worten aus dem Alltagstrott in aufs Kühnste erdachte Gegen- und Traumwelten. Das Leben schlechthin in allen seinen schönen und schmerzlichen, absurden und phantastischen Ausformungen bildet den Stoff für Hohlers Schreiben. Das Leben, von dem er einmal in einem Gedicht schreibt:

    S Läbe
    Mängisch dunkts eim scho / dass s Läbe nüt anders sig / als es Gwitter / und mir / mir seckle derdur / und der eint breicht der Blitz / und der ander nit / und nienen e Hütte / wyt und breit.

    In solch melancholisch-humorvollem Innehalten erkennen wir uns ebenso fraglos selbst wieder wie in der folgenden Balance:

    Das Befinden
    «Wie geht’s?», fragte die Trauer die Hoffnung. / «Ich bin etwas traurig», sagte die Hoffnung. / «Hoffentlich», sagte die Trauer.

    Oder im Stossseufzer, den Franz Hohler inhaltlich prophetisch, formal doppelsinnig und verspielt vor bald vierzig Jahren formuliert hat – viele von uns werden auf der nächsten Zugfahrt zur Stosszeit daran denken:

    In vollen Zügen
    In vollen Zügen kann ich nie etwas geniessen. Ich sitze dann eingepresst zwischen den auch eingepressten Nachbarn und leide weniger darunter, dass ich mich nicht rühren kann, als dass ich mich nicht rühren könnte, wenn ich mich rühren wollte.

    Diese Sensibilität für den Augenblick zeichnet Hohlers Geschichten aus, wobei seine Meisterschaft ebenso im Raffen und Komprimieren besteht, wie darin, auf der Sinnebene überraschende Haken zu schlagen – hier ein Beispiel zu einem ebenfalls vielbenutzten Fortbewegungsmittel:

    Das Ziel
    «Zur Uni, bitte.»
    «Unispital?», fragte der Taxifahrer.
    «Nein», sagte ich aufatmend, «nur Uni.»

    15 Wörter oder 100 Zeichen genügen, um in einem Zufallsdialog Schreck und Erleichterung zu vergegenwärtigen, ein schlankes Memento mori!

    Und noch kürzer heisst es in Hohlers inzwischen auf einer Briefmarke verewigten Kürzestgeschichte:

    Der grosse Zwerg
    Es war einmal ein Zwerg, der war 1,89 m gross.
    Neun Wörter sind es hier nur, ein Satz, hinter dem ganze Geschichtenwelten stecken.

    Neben solchen Exerzitien in lapidarer Lakonie und Freude am Paradox liebt Franz Hohler aber auch das Drauflosfabulieren und -reimen – jüngstes Beispiel ist der 2011 erschienene Band mit launigen Kinderversen «Es war einmal ein Igel»; Kindergedichte, die alle mit der Formulierung «Es war einmal beginnen», der grossartigsten aller Einladungen zum Geschichten-Erzählen – ein Beispiel gefällig:

    Es war einmal ein Dachs, / Der ass am liebsten Lachs / Doch gab es das fast nie. /
    Da sprach er: «Irgendwie / Ist’s ohne Lachs fast schöner. / Jetzt ass er nur noch Döner.»

    Soweit ein Strauss von Originalzitaten gleichsam als Ouvertüre: Am Werk unseres Preisträgers fällt sofort auf: Er hat fast von Anfang an mit gleicher Sorgfalt und Intensität für jung und alt geschrieben.
    Ein Blick auf den Werdegang des ungemein vielseitigen und multimedialen Wortarbeiters Franz Hohler zeigt, dass er tatsächlich von Kindsbeinen an ein Erzähler war. Schon siebenjährig schrieb er für seine (Lehrer-)Eltern kurze Geschichten, als Gymnasiast veröffentlichte er Feuilletons, Glossen, Rezensionen im «Oltener Tagblatt». Nach dem Erfolg eines ersten Soloprogramms 1965 wählt Hohler das Geschichtenerzählen als Beruf – oder mit seinen Worten: Seitdem habe ich versucht, von der Phantasie zu leben. Wenn man mit der Phantasie arbeitet, entwirft man Gegenwelten oder einfach andere Welten.

    Die Lust am Fabulieren und Erfinden von Parallelwelten hat unseren Preisträger freilich nie daran gehindert, diese unsere Welt genau anzuschauen und sich als couragierter Citoyen einzumischen, sich aufzulehnen gegen gesellschaftliche Missstände und Naturzerstörung. Hohler ist einer, der scharfzüngig Klartext reden kann, wenn er merkt, dass er vor lauter scheinheiliger Freundlichkeit zu ersticken droht:
    S si alli so nätt, dass es zum wahnsinnig wärde ist.

    Für seine Fadengradheit hat Franz Hohler vor dreissig Jahren noch Prügel bekommen. Was heute entsetzlich kleinmütig wirkt, war in den Zeiten des Kalten Krieges in der Schweizer Kulturlandschaft kein Einzelfall: Der Zürcher Regierungsrat verweigerte 1982 Franz Hohler einen von der zuständigen Fachjury beantragten Preis für den Erzählband «Die Rückeroberung» (die Literaturkommission trat daraufhin geschlossen zurück) und ein Jahr später traute sich das Schweizer Fernsehen nicht, Hohlers Lied «Dr Dienstverweigerer» – eine Mundartfassung von Boris Vians Klassiker «Le Déserteur» – in der Sendung «Denkpause» auszustrahlen, worauf Hohler die Zusammenarbeit mit dem Schweizer Fernsehen einstellte.

    Hohler ein Nestbeschmutzer, ein Subversiver? Ich war nie ein Revolutionär, heisst es im Gedichtband «Vierzig vorbei» und weiter: Ich war eher ein Spötter und Stauner / ich habe mich immer gewundert / über die Welt / und die Normalität / als welche der Wahnsinn daherkommt.
    Seine Besorgnis und Angst, diese Empörung und Ohnmacht angesichts der Welt, wie sie ist, liegen in seiner grossen Zuneigung zu ihr begründet und immer wieder im Staunen ob ihrer Schönheit, zum Beispiel über gerade dieses Massliebchen am Wegesrand, in seiner Rührung ob Begegnungen:
    Ich habe Freude am Leben / ich freu mich / am Gehen / am Atmen / am Essen und Trinken / am Lieben.

    Diese Freude ist ein Geschenk, gerade weil nichts selbstverständlich ist, das ist z.B. in der Erzählung «Ein Fall» das Thema:
    Jemand, nämlich ich, ging zielbewusst über einen Platz.
    Ein typischer Hohler-Anfang. Beschwingt unterwegs zu einer Verabredung überholt der Protagonist eine bemerkenswert schöne Frau, übersieht eine kleine Trottoirkante und vertritt sich den Fuss – und schon liegt der frohgemut Ausschreitende, vom scharfen Schmerz gefällt, als plötzlicher Greis am Boden; von Wörtern wie Unfall, Notfall, Zufall niedergeschlagen, derweil die Schöne ihm lächelnd die weggerollte Mütze reicht und fürbass schlendert –
    nichts ist so unwahrscheinlich, dass es nicht passieren kann. Dieser Satz könnte über fast allen Hohler-Geschichten stehen.

    Stellvertretend für Franz Hohlers erzählerische Meisterschaft in Geschichten und Romanen möchte ich jetzt das Augenmerk auf einige Geschichten-Anfänge und -Enden richten. Hier merkt man auch beim Buchautor die Erfahrung des Kabarettisten, des mündlichen Performers.

    Die Rückeroberung
    Eines Tages, als ich an meinem Schreibtisch sass und zum Fenster hinausschaute, sah ich, dass sich auf der Fernsehantenne des gegenüberliegenden Hauses ein Adler niedergelassen hatte…
    Sie wissen, wie es weitergeht, wie Zürich allmählich aus der neuzeitlichen Zivilisation herausfällt mit Hirschen, Wölfen, Bären sowie schnellwachsenden Riesenpflanzen konfrontiert wird, bis es zum Schluss fast friedlich heisst:
    Wenn ich zum Fenster dieses Arbeitszimmers hinausschaue, sehe ich zwischen den Spitzen der Schachtelhalme hindurch immer noch die Steinadler auf dem Nachbardach abfliegen und ankommen und ihren arg krähenden Jungen irgendein noch halb zuckendes Fleischstück zerkleinern und in die Schnäbel drücken, während das Hotel International wie ein gewaltiger alter Baumstrunk am Horizont steht, gänzlich von Efeu umklammert … das Haus gegenüber ist leer und ich sitze da und denke darüber nach, ob des jetzt noch einen Sinn hat, die Stadt zu verlassen, oder ob das alles nur der Anfang von etwas ist, das sich von hier aus uneindämmbar ausbreiten wird.»

    Der Rand von Ostermundigen
    Am Rand von Ostermundigen steht ein Telefon. Daneben sitzt ein Mann, der jedes Mal, wenn es läutet, abnimmt und sagt: ‚Das ist der Rand von Ostermundigen.’ Wenn die Leute fragen, ist dort nicht Rieser oder Maibach, dann sagt er: ‚Nein, das ist der Rand von Ostermundigen!’ und hängt wieder auf. Das ist der Anfang der Geschichte, «Der Rand von Ostermundigen».
    Ein kurzer Satz macht sich selbstständig und wird zum Albtraum.
    Wohin das noch führen wird, ist schwer abzusehen. – lesen wir später und am Ende:
    Dieser Satz muss zum Schweigen gebracht werden. Das ist das Ende der Geschichte «Der Rand von Ostermundigen».

    Gerade diese Geschichten mit dem rätselhaft und epidemisch werdenden Titelsatz zeigt die Nähe des jungen Autors auch zur experimentellen Literatur – und man darf gerade in Solothurn daran erinnern, das dem Verleger Otto F. Walter das Verdienst zukommt, Franz Hohler schon 1970 in den von ihm geleiteten Luchterhand-Verlag geholt zu haben. (Noch erstaunlicher ist, dass unser Preisträger diesem von mancherlei Turbulenzen und Besitzerwechsel geschüttelten Verlag bis heute die Treue gehalten, wo er – als Imprint von Random House hartnäckig seine Unabhängigkeit behauptet und auf literarische Qualität setzt.)

    Hier Anfang und Ende einer weiteren, exemplarischen frühen Hohler-Erzählung:
    Bedingungen für die Nahrungsaufnahme»

    Mir ist der Fall eines Kindes bekannt, das, knapp nach dem es ein Jahr alt geworden war, nichts mehr essen wollte.
    Was als neutraler Zeugenbericht beginnt, gerät zur Groteske. Am Ende lesen wir:
    Ein Nachbar, der zu diesem Zeitpunkt seinen Feldstecher auf das Haus gerichtet hat, sieht also folgendes: Der Vater reicht dem Kind den Brei in einem an einer Bambusstange befestigten Löffel von einer Bockleiter ausserhalb des ersten Stocks durchs Fenster. Dazu trägt er einen Hut und einen Regenschirm, den er an einem Drahtgestellt über den Schultern festgemacht hat.
    Die Mutter liegt im Nachthemd auf dem Schrank, und das Dienstmädchen steht vor dem Gatter, das im Türrahmen eingeklemmt ist. Beide schauen zu, wie das Kind isst, und das Dienstmädchen schüttelt zusätzlich bei jedem Löffel, den das Kind schluckt, eine Rasselbüchse. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, und nur dann, dann isst das Kind.

    Soweit ein paar Schlaglichter auf die wirkungsvolle Genauigkeit von Hohlers Dramaturgie und Kompositionstechnik: In scheinbar harmlos beginnende Geschichten bricht das Irrationale, Unheimliche, Bedenkliche, aber auch Verwunschene ein wie eine Naturkatastrophe. Und wir Lesenden werden mit hineingezogen in einen Erzählstrudel, der uns am Ende der Geschichten gleichsam ausspuckt, verwundert, irritiert, belustigt, wütend auch manchmal, weil das Erzählte schon zu einem Ende gekommen ist. Denn Hohler brilliert da, wo er einfach erzählt ohne zu erklären.

    Ich möchte Sie weiter einladen, den auf der Bühne oder im mündlichen Vortrag vielleicht seltener spürbaren Poeten und Sprachkünstler Franz Hohler kennenzulernen, zum Beispiel in seinen Berichten von 52 Wanderungen und 52 Spaziergängen, die er in den Jahren 2003/4 und 2010/11 unternommen hat und an denen wir in Form knapper Erzählungen teilhaben können. Das ist Heimatliteratur vom Feinsten, die mit dem Charme des Gewöhnlichen verführt, uns Vertrautes mit anderen Augen sehen lehrt und stille Epiphanien und Elevationen erlaubt.
    So etwa beginnt das Kapitel «Urwald» mit dem wunderbaren Satz: Sich an einen Wald erinnern, ist wie einen Traum aufschreiben. Der Erzähler und seine Gefährtin haben sich auf einem von Moos überwachsenen, gefallenen Stamm niedergelassen:

    Dort sassen wir, nahe am Spazierweg, über den gelegentlich Leute gingen oder Biker fuhren, assen, was wir mitgebracht hatten, und waren doch verborgen wie Hänsel und Gretel, und wären wir dort sitzen geblieben und nicht mehr aufgestanden, wären auch wir überwuchert worden wie erstorbene Stämme, und es hätte wohl sehr lange gedauert, bis uns irgendjemand entdeckt hätte, vielleicht wären wir zu Waldgeistern geworden, welche mit dem Ruf der Käuze zu den Rändern des Reiches flögen, von dort in die ferne Stadt am See hinüberschauten, und kichernd wieder zurückflatterten, ins Reich der Bäume, Büsche, Farne und Flechten, mit der Gewissheit, das auch uns darin ein Platz zugedacht wäre.

    Oder wenn der Spaziergänger im Winter auf eine Bündner Alp steigt:
    Es gibt nichts Verlasseneres als Alphütten im Winter… Jetzt hängen die Eiszapfen von den Dachrinnen, Fenster und Türen sind verriegelt, und aus der Böschung vor dem Vorplatz starren verdorrte Blacken wie arme Seelen aus dem Schnee.
    In der Höhe aber sonnen sich Berggipfel und breiten ihre weissen Mäntel aus, feine Wölkchen wehen über die Kämme, Gebirgsgedanken.
    Allein schon für diesen letzten Halbsatz feine Wölkchen wehen über die Kämme, Gebirgsgedanken müsste man Franz Hohler einen Preis verleihen – und solche Trouvaillen finden sich allenthalben.

    Selbst in der kaum als sonderlich bukolisch bekannten Zürcher Flughafen-Agglo findet unser Preisträger poetisch bestrickende Bilder, als er, der Kompassnadel folgend, nach Norden wandert:
    Hinter dem Wald steuert mich der Kompass zwischen Geflügelfarmen zum Parkplatz bei der Landepiste, deren rot gepunktete Leitlinien zur Heimkehr einladen. Nach Norden blickend, sehe ich, wie sich die Flugzeuge im grauen, langsam dämmernden Himmel eines nach dem andern in die Anflugschneise einreihen. Ihre Scheinwerfer erinnern mich an die grossen Augen von Kühen, die langsam auf das geöffnete Stalltor zukommen.
    Da haben wir gerade noch einmal so ein Juwel. Ein Bild, wie es nur von Franz Hohler stammen kann.

    Persönlich würde ich mir durchaus wünschen, dass der Erzähler Hohler dem Dichter Hohler in seinen Geschichten noch mehr Auslauf gäbe. Und damit noch mehr Schönheit in unser Leben schmugglen könnte, so wie er es den Maler Henri Rousseau sagen lässt – ja der Zöllner, mit den scheinbar naiven, einen unvermittelt anspringenden Urwaldbildern –,
    in einer Geschichte im letzten Erzählband «Der Stein». Darin hat unser Preisträger, wie mir scheint, einige persönliche Gedanken zu seiner Poetik untergebracht:

    Malen, heisst Geduld haben lesen wir, und ersetzen Malen getrost durch Schreiben; Das ist eigentlich das Schwerste an der Kunst, die Geduld und weiter:
    Das ist das Wunderbare an der Kunst: Im Kopf musst du ihn haben, den Urwald, im Kopf!
    und eben Ich habe das Lager gewechselt, ich schmuggle Schönheit in unser Leben (…)
    Unsere Welt braucht Schmuggler, Zöllner hat sie genug.

    Geduld braucht es, um den richtigen Moment zu packen:
    Vielleicht ist der Autor der, welcher aus der Masse an flüchtigen Eindrücken, denen wir täglich ausgesetzt sind, einen packt und zu ihm sagt: «Ich hab dich erwischt. Du bist eine Geschichte.
    Und hat man den Moment erwischt, muss man daran glauben, wie Hohler einmal sagt, dass jeder Moment des Lebens etwas Besonderes ist, das der Beschreibung würdig ist, wenn wir ihn genau anschauen. Jeder Moment ist ein Ausschnitt aus einer längeren Geschichte und jeder Moment ist für sich genommen, eine kurze Geschichte.

    Beim Finden und Erfinden seiner Geschichten bevorzugt Hohler meist die einfache Idee, den kindlichen Einfall, wohl wissend, dass gerade darin die Schwierigkeit liegt. Denn: Das Einfache ist nicht das Simple, sondern es ist das Komplexe, das sich nichts anmerken lässt. Und zu dieser Komplexität gehört auch die Bedeutung der Träume und der Traumlogik für Hohlers Schreiben, Woher kommen die Träume? rätselt er einmal im Gedicht: immer / bringen sie dir / eine Nachricht / aus den abgelegenen Provinzen / deines Reichs. / Und wenn du noch nichts begreifst / Sie wissen schon alles.

    Es scheint kein Zufall, dass zu Franz Hohlers bekanntesten und erfolgreichsten Büchern überhaupt drei Kinderromane zählen, deren Protagonist Tschipo derart heftig zu träumen pflegt, dass aus seinen Traumwelten beim Aufwachen etwas zurückbleibt: sei es ein Schokoladenvelo oder ein veritabler Pinguin. Es kommt aber auch vor, dass Tschipos Träume ihn weit weg führen, in andere Räume und Zeiten, auf eine Südseeinsel oder in die Steinzeit zum Beispiel.
    Tschipo war das erste Kinderbuch von Hohler; in die kindliche Erfahrungs- und Traumwelt versenkt hat er sich schon vorher mit den legendären Sendungen «Franz und René», etwas vom allerbesten, was je für Kinder am Fernsehen produziert worden ist.
    Hohler nimmt in seinen Texten die Kinder sehr ernst, traut ihnen viel zu und weiss:
    Lesen ist die Erschaffung der Welt aus dem Alphabet. Zuschriften von Kindern sind ihm Quelle der Inspiration. Dabei thematisiert Hohler in den Kinder-Geschichten – welche auch wir Erwachsene mit Genuss lesen, ungeschminkt gesellschaftliche Probleme, er verliert in seinen fiktionalen Welten die reale soziale Ebene nicht aus den Augen und so gelingt ihm auch hier diese prägnante Mischung aus sprachlicher Virtuosität, Phantasie und Gesellschaftskritik. Ein durchaus brachiales und verstörendes Beispiel soll hier nicht fehlen:

    Die Riesen im Parkhaus
    «Drei Riesen gingen einmal in ein Parkhaus.
    «Ich gehe ins Parterre», sagte der erste.
    «Ich in den ersten Stock», sagte der zweite.
    «Ich in den zweiten», sagte der dritte.
    Dann nahm jeder eine schwere Eisenstange, ging in seinen Stock und zertrümmerte alle Autos, die dort abgestellt waren.
    Nachher trafen sie sich am Ausgang, gingen zusammen fort und kamen nie wieder.

    Ganz selbstverständlich operiert Hohler mit Figuren aus Mythologie und Märchenwelt, mit belebter Natur, menschlichen Zügen für Objekte oder Tiere, und mit diebischer Freude geht er von Situationen aus, die quer zur gewohnten Wahrnehmung stehen: Ein Granitblock will ins Kino, ein Huhn an die Funkausstellung. Oder er macht aus der Beobachtung, wie ein Bahnhofskellner einem Kind den vergessenen Teddybär zum Gleis bringt, eine Nachricht.

    Poetisch und politisch eindrücklich ist auch die folgende Miniatur:

    Die Taube
    «Eine Taube flog über das Kriegsgebiet und wurde vom Rotorblatt eines Kampfhelikopters zerfetzt. Eine ihrer schönen weissen Federn schwebte in den Hof eines Hauses, wo sie von einem Kind aufgelesen wurde.
    Kurz darauf mussten die Grosseltern und die Mutter mit dem Kind flüchten.
    «Wir nehmen nur das Nötigste mit», sagte die Mutter, raffte ein paar Kleider zusammen und stopfte sie mit ihren Dokumenten und etwas Geld und Schmuck in einen Koffer, der Grossvater füllte zwei Flaschen mit Wasser, die Grossmutter packte das letzte Brot, einige Äpfel und eine Schokolade ein.
    Das Kind nahm die Feder mit.

    Schönheit schmuggeln – auch im Krieg – dafür steht das Werk von Franz Hohler. Und wenn es einen Schlüssel gibt zur Gesamthaltung, die sein Schaffen prägt, so glaube ich, diesen bereits in einem ganz frühen Text des Autors anzutreffen, einem Text, der vor mehr als 50 Jahren im ‚Oltner Tagblatt‘ erschienen ist.
    «5-Uhr-Zug» ist er überschrieben: Der 17jährige Gymnasisast sitzt im Zug zwischen Aarau und Olten, mit einer Französischübersetzung befasst, bis in Schönenwerd ein älterer Arbeiter einsteigt. Fasziniert beobachtet und beschreibt Hohler dessen von der Arbeit und dem Leben gezeichnete Hand, mit der Akribie und Luzidität, wie wir sie bis heute von ihm kennen. Gewiss: Erzählökonomie, handwerkliche Souplesse und Raffinesse hat der Autor später verfeinert, aber der sprachmächtige Zugriff, der genaue Blick aufs scheinbar Gewöhnliche, all das ist schon da – und schon hier kommt die zutiefst humane Grundhaltung zum Ausdruck, die das Werk von Franz Hohler prägt und neben seiner künstlerischen Meisterschaft in all seinen Büchern berührt und beglückt:

    Was ist es für ein Gefühl, das mich jetzt ergreift, während ich diesen Mann ansehe? Ehrfurcht… bestimmt, tiefe Ehrfurcht, sogar; vor ihm, vor dem Menschen überhaupt. Liebe, Liebe zu diesem Arbeiter, Liebe zum Menschen überhaupt. Mehr noch? Ehrfurcht vor dem Leben, Liebe zum Leben. Das Gesicht dieser Alltagsgestalt, das so reich ist an Schönheiten, diese Hand, die nur ihm allein und keinem andern gehören könnte, dies alles in einem mit Arbeitern besetzten 5-Uhr-Zug, wo man Schönheit weder sucht noch erwartet, ist dies alles nicht Zeugnis einer ungeheuren Vielfalt und Schönheit des Lebens, darin alles, aber auch restlos alles liebenswert ist?

    So ist es unserer Jury grosse Freude und Ehre zugleich, Franz Hohler mit dem Solothurner Literaturpreis 2013 auszuzeichnen:
    In seinem staunenswert vielseitigen Werk erweist sich dieser Autor als begnadeter Erzähler für Gross und Klein. Ungebärdige Phantasie und schelmische Freude an verblüffenden Handlungsverläufen kennzeichnen seine Geschichten ebenso wie die seismografisch genauen Beschreibungen von individuellen Schicksalen, gesellschaftlichen Umwälzungen und der Tapferkeit der Natur. Franz Hohlers Literatur verzaubert seine Leserschaft so beiläufig wie nachhaltig.

    Ganz herzlichen Glückwunsch also, lieber Franz Hohler. Wir freuen uns auf viele weitere Geschichten von Dir für jung und alt in allen Medien.

    Ich gratuliere im Namen der ganzen Jury und danke meinen KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer für die produktive Zusammenarbeit; wie stets fusst diese Laudatio auf den Überlegungen von uns dreien.

    Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit …