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  • Laudatio auf Erich Hackl

    Hans Ulrich Probst, 15. Juli 2002

    «Jeder Erzählung liegt die Fähigkeit zugrunde,Erfahrung auszutauschen»
    oder: «Verzweiflung ist nicht aktenkundig»

    Lieber Erich Hackl,
    herzlich willkommen in Solothurn.

    Dass Du – ich brauche die uns geläufige Anrede – jetzt nicht von Deinem Wohnort Wien, sondern aus Spanien, einer Art Wahlheimat und Inspirationsquelle so mancher Deiner Texte, hierher gereist bist, scheint mir ein glücklicher Zufall. Herzlich willkommen also in dieser der grossen Literatur geneigten Kleinstadt.

    Meine Damen und Herren,
    Ich freue mich sehr, Ihnen unseren diesjährigen Preisträger vorstellen zu dürfen, einen Autor, der mit grosser Beharrlichkeit gegen das Vergessen, gegen die grassierende Amnesie anschreibt. In seinem sorgfältig gewachsenen Werk von fünf grossen Erzählungen und einer Vielzahl kleinerer Texte, Essays und Übersetzungen überschreitet er immer wieder die Grenzen zwischen dokumentarischer Recherche und literarischer Erfindung. Auf unnachahmlich kunstvolle und subtil zurückhaltende Art erzählt er im Kern wahre Geschichten nach.

    In einer Charakterisierung des uruguayischen Autors Eduardo Galeano hat sich Erich Hackl, wie ich meine, einmal insgeheim selber porträtiert. Ich vermöchte es nicht besser:

    «… er vertraut den Fakten mehr als den Fiktionen; er erfindet nicht, er findet … das Wirkliche ist ihm phantastischer als die Phantasie …»

    (stimmt wohl mehr für Galeano als für Hackl) Erich Hackl hat dafür einen eigenen Ton gefunden, einen bei aller Lakonie suggestiv fesselnden Stil. Diesen unverwechselbare Stil des Autors erkennt man jeweils schon in den allerersten Sätzen seiner Bücher: «Abschied von Sidonie» beginnt so:
    «Am achtzehnten August 1933 entdeckte der Pförtner des Krankenhauses von Steyr ein schlafendes Kind. Neben dem Säugling, der in Lumpen gewickelt war, lag ein Stück Papier, auf dem mit ungelenker Schrift geschrieben stand. ‹Ich heisse Sidonie Adlersburg und bin geboren auf der Strasse nach Altheim. Bitte um Eltern.›»

    Was als schlichtes lokales fait divers daherkommt, Authentizität beansprucht, ist in Wahrheit rhythmisch durchgestaltet und bis zum trockenen «Bitte um Eltern» derart mit Gefühl aufgeladen, dass sofort Neugier geweckt wird. Neugier, welche in die Erzählung hineinzieht. Diese Durchmischung von Emotion und kühlem Chronikstil prägt auch die Anfänge von «Auroras Anlass» und «Sara und Simon»:

    «Eines Tages sah sich Aurora Rodriguez veranlasst, ihre Tochter zu töten»,
    lautet der erste Satz in Hackls Erstling, dem romanhaften Bericht von einem tragischen Emanzipationsversuch einer klugen Frau im rückständigen Spanien der ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts.

    Und «Sara und Simon», Hackls dritte grosse Erzählung auf dokumentarischer Basis, setzt so ein:
    «Zur Zeit der Militärdiktatur geriet ein Bürger der Stadt Montevideo, Eduardo Cauterucci Perez, in helle Aufregung.»

    Unser Preisträger ist, wie er einmal sagte «hungrig nach Erfahrung» und für ihn «ist die Wirklichkeit oft radikaler, überraschender, unverhoffter, als das, was ich mir ausmalen kann». Vor allem aber möchte er immer «etwas Bindendes, Eingreifendes schreiben».

    In einer Zeit wo politische Themen rasch den Vorwurf unzeitgemässen Moralisierens ernten, gelingt es Erich Hackl glaubwürdig über politische Ethik zu schreiben, fern aller postmodernen Beliebigkeit, sich als Chronist zu profilieren, der dem Grauen der Geschichte ein Gesicht gibt, indem er sich dezidiert auf die Seite der Opfer stellt, ihnen eine Stimme gibt. Wie Erich Hackl dies tut, wie er dafür eine eigene Sprache und je verschiedene, überzeugende Formen gefunden hat, welche uns Lesende faszinieren, verstören, bewegen, dies möchte ich nach dieser ersten Annäherung nun erläutern.

    Zunächst am Beispiel des Romans «Sara und Simon» aus dem Jahr 1995, den die Realität gleichsam weitergeschrieben und just dieses Frühjahr zu einer Art Abschluss gebracht hat. Warum gerät – wie gehört – Edoardo Cauterucci Perez «in helle Aufregung». Er findet vor seinem Haus einen wenige Wochen alten Säugling mit einem Begleitzettel seiner verzweifelten Mutter. Damit ist nicht nur das Leitmotiv zu Saras Geschichte gegeben, sondern eine Verbindung zu Hackls vorangegangener Erzählung «Abschied von Sidonie» geknüpft. Sara ist, als die Geschichte einsetzt, eine junge Uruguayerin, die 1973 vor der Machtergreifung ins Nachbarland Argentinien flieht. Dort bringt sie im Juni 1976 unter fremdem Namen ihren Sohn Simon zur Welt. Sara und der Vater Mauricio können gerade 20 Tage Elternschaft geniessen, dann kommt auch in Argentinien das Militär an die Macht und ein Kommando argentinischer und uruguayischer Militärs dringt in ihr Haus ein. Sara wird in ein geheimes Folterlager verschleppt – mitten in Buenos Aires hinter einer Autowerkstatt gelegen. Simon verschwindet. Mauricio entkommt, geht nach Spanien ins Exil. Sara wird mit anderen Oppositionellen heimlich nach Uruguay überstellt und dort offiziell verhaftet und vor Gericht gestellt. In den achtziger Jahren kommt sie frei und nach dem Ende der Militärdiktatur machen sich Sara und Mauricio, der 1991 verstirbt, auf die Suche nach Simon. Erich Hackls Buch spiegelt Ohnmacht und Ungewissheit dieser Spurensuche in einer détailgenauen, spannend erzählenden Recherche. Ob das Baby umgebracht oder kinderlosen Günstlingen der Diktatur zur Adoption überlassen wurde, bleibt bis zum Ende des Buches offen. Als Sara ein Adoptivkind als Simon zu erkennen meint, scheitert die Ueberprüfung – der Junge heisst Gerardo – scheitert am Widerstand der Eltern, einen Bluttest mit ihm durchzuführen. So bleibt die Geschichte, die zu einer Zeit spielt, «wo die Wissenden schwiegen, und die Aengstlichen vergassen, und die Hoffenden verzagten», unabgeschlossen. Sara, resümiert der Erzähler am Ende, «weiss, dass ihre Geschichte nicht zuende erzählt ist, es fehlen ein paar Seiten, oder viele, aber sie will nicht wissen, was noch kommen wird. Ein Leben immerhin, ist mehr als eine Geschichte.»

    Im Frühjahr 2002 nun hat diese ungeheure Begebenheit doch ihr vorläufiges Ende gefunden. Sara hat nie aufgegeben. Im Jahr 2000 ist Gerardo zum Bluttest bereit, und es stellt sich heraus, dass er n i c h t Simon ist. Freunde von Sara setzen die Suche fort. Es gelingt ihnen, anhand der Namensliste der Polizisten, die in der fraglichen, kalten Juli-Nacht 1976 im Einsatz waren, – einen nun 25-jährigen Mann zu eruieren. Er, der von einem dieser Polizisten adoptiert worden war, fällt aus allen Wolken, als er erfährt, dass er nicht das Kind seiner Eltern ist. Er akzeptiert den Bluttest sofort und seit März dieses Jahres steht zu 99,9% fest, dass er Sara und Mauricios Sohn ist. Seinen Namen und seine Identität werden klugerweise geheimgehalten. «In dieser Geschichte gibt es zwei Opfer: Sara und mich» sagt Simon, der Sara inzwischen auch getroffen hat. Seine Geschichte ist ihm aber zu wichtig, als dass er sie in Talkshows kaputtreden will. Diejenigen, die Simon entführt, Sara gefoltert und beiden 25 Jahre des Lebens geraubt haben, sie zeigen nach wie vor keine Reue, und nach einer Amnestie droht jeder Mord, drohen alle Verbrechen der Diktatur im unterschiedlosen Vergessen unterzugehen. Immerhin Hackls Buch hat sichtbar gemacht, wie Literatur ein Stück Imaginationskraft des Wirklichen darstellt. Unprätentiös und wie beiläufig deckt Hackl die Mechanismen der Diktatur auf, und in dem er das Leid einer Einzelnen mit letzter Genauigkeit schildert, erweist er den Tausenden Verschwundener, Gefolterter und Ermordeter die Ehre. Die literarische Raffinesse des nie auftrumpfenden Verfassers liegt dabei in den Détails verborgen, wenn er seine Erzählposition immer wieder wechselt, mal auktorial schreibt, dann sich ganz nah neben Sara stellt, um zwischendurch in distanzierend-dokumentarischer indirekter Rede wiederzugeben, was Sara und andere Zeitzeugen ihm vermitteln. Unvergesslich auch, wie er die abscheulichen Folter-Szenen verfremdet darstellt als böses Märchen von einer die auszog, das Gruseln zu lernen, und gerade so ein Hinweglesen über das fast Unerträgliche verhindert.

    Wer ist dieser so sorgfältige wie unbeirrbare Erzähler?

    Persönlich begegnet bin ich ihm erstmals vor dreizehn Jahren, als seine zweite Erzählung «Abschied von Sidonie» erschien, die ein Meisterwerk zu nennen ich nicht einen Augenblick zögere: Eine klassische Novelle auf authentischem Hintergrund. Es ist die Geschichte des Zigeunermädchens Sidonie Adlersburg, das neugeboren 1933 beim Steyrer Krankenhaus abgegeben wird – wir haben den Anfang gehört. In der Arbeiterfamilie von Hans und Josefa Breirather findet Sidonie liebevolle Pflegeltern, in ihrer sorgsamen Obhut erlebt sie eine kaum getrübte Kindheit, trotz der finsteren Umstände, – «aus dem roten Letten wurde das braune Letten», heisst es einmal lapidar und trotz zunehmender rassistischer Anfeindungen wegen Sidonies dunkler Hautfarbe und Herkunft. Bis im März 1943 die Katastrophe als bürokratische Verfügung leise hereinbricht: Feige Engstirnigkeit und vorauseilender Gehorsam der Behörden entreissen das Mädchen den Breirathers, um es scheinbar ordnungsgemäss der leiblichen Mutter zu überstellen, es in Wahrheit aber mit ihr zusammen in den Tod nach Auschwitz-Birkenau zu schicken.

    Erich Hackl erzählt diese erschütternde Begebenheit über, wie er schreibt, die «Bestialität des Anstands» äusserst behutsam, fast nüchtern und verhalten, zugleich anschaulich präzis in der Darstellung der Zeitgeschichte und sinnlich konkret in der Evokation des Alltags von Sidonie. Die kompakte Erzählung erweist sich als genau konstruiert, mit bild- und handlungsstarken Kapitelanfängen, mit Tempo- und Rhythmuswechseln, einem raffinierten Umgang mit Rückblenden und Vorausnahmen, ganz der Darstellung der Fakten verpflichtet, diese aber mit poetischer Imagination aufladend. Es ist unmöglich, sich dem suggestiven Sog dieses dichten Textes zu entziehen, man liest atemlos und gleichzeitig mit wachsender Trauer und Wut von diesem exemplarischen Einzelschicksal, einem Menschen, der ohne Heldenmut hätte gerettet werden können. Bis fast zuletzt begnügt sich der Autor mit der Rolle des skrupulös Registrierenden, ehe es, als er den Abschied Sidonie von den ohnmächtigen Josefa und Hans auf dem Bahnhof skizziert, brüsk – und für den Leser befreiend – aus ihm herausbricht:

    «Das ist die Stelle, an der sich der Chronist nicht länger hinter Fakten und Mutmassungen verbergen kann. An der er seine ohnmächtige Wut hinausschreien möchte. Sidonies Ahnungslosigkeit, Ihre plötzliche Furcht. Wie sie sich halb umdreht und an Josefa klammert. Deren Tränen. Sidonies Tränen. Josefas hilfloser Versuch, das Mädchen zu trösten. Du musst tapfer sein, Sidi. Ich will nicht zu dieser Frau fahren. Du musst. Ich will bei dir bleiben. Das geht nicht. Du musst mitfahren. Ich kann nicht. Ich komm zurück. Wir vergessen dich nicht.»

    Das Staccato der letzten Sätze nimmt schon das Rollen der Räder vorweg. So funktional Hackl die Sprache braucht, so fabelhaft treffend setzt er jedes Wort – sei es zart oder heftig.
    «Ich konnte nicht anders» – so hat der Autor selbst diesen von einzelnen Kritikern gerügten Ausbruch des Chronisten aus seiner Rolle begründet – «ich wollte diese geschlossene, um Distanz bemühte Erzählung auch zerstören, durchlöchern, so wie man mit einem Bleistift ein Papier durchlöchert, Hinweis, dass die Welt sich doch nicht in einem Stück Literatur einfangen lässt». «Ein Leben, immerhin, ist mehr als eine Geschichte» lasen wir in «Sara und Simon». So unausweichlich verhängnisvoll die Tragödie der Sidonie Adlersburg voranschreitet, so farbig und menschlich, und d.h. auch nicht ohne Humor hat Hackl seine Figuren gezeichnet. Und spürbar wird auch die reale Beziehung des Autors zur Familie Breirather, die sich auch in der nach langem politischem Kampf durchgesetzten Errichtung einer Gedenktafel für Sidonie ausdrückt. Diese Geschichte aus dunklen Tagen endet mit der Erinnerung an die Möglichkeit der Solidarität unter den Menschen. Hackl berichtet von einem anderen Zigeunerkind in der Steiermark, dass dank beherzter und mutiger Nachbarn vor dem Zugriff der Nazi-Schergen geschützt werden konnte …» und kein Buch muss an ihr Schicksal erinnern», schliesst Hackl das im Märchenton formulierte letzte Kapitel, «kein Buch muss an ihr Schicksal erinnern, weil zur rechten Zeit Menschen ihrer gedachten.»
    «Abschied von Sidonie», inzwischen schon Schulbuchklassiker und auch adäquat verfilmt, brachte mir die erste Begegnung mit unserem Preisträger und nun bin ich Ihnen endlich seine biographischen Eckdaten schuldig:

    Erich Hackl geboren am 26. Mai 1954 ist in der oberösterreichischen Industriestadt Steyr aufgewachsen – in der Nachkriegszeit ein einsamer Ort des Schweigens über die Nazizeit, gegen die sich die ehemalige Arbeiterhochburg zuerst heftig gewehrt hatte. Dieses Schweigen, die stumme Präsenz lastender Vergangenheit hat den 18-Jährigen zu ersten zeitgeschichtlichen Recherchen veranlasst. Er hat dann Deutsch und Spanisch studiert, war Lehrer und Lehrbeauftragter in Madrid und Wien. In Wien lebt er heute, in einer unspektaku-lären Gegend nahe Donau und Prater mit seiner spanischen Frau und seinen zwei Töchtern als Schriftsteller, Publizist, Herausgeber und Uebersetzer – leidenschaftlich engagiert, aber in auffälliger Distanz zum aufgeregt vordergründigen Literatur- und Medienzirkus.

    Spanien ist ein Quell für seine Stoffe geworden, und die spanischsprachige Literatur, zumal jene aus Lateinamerika, hat sein Schreiben mitgeprägt. Ihr «ungebrochener Glaube an die Kommunikationsfähigkeit der Menschen» bildet auch die Voraussetzung für Hackls Arbeiten. Das Movens seines Schreibens, die «Triebfeder» dieses politischen Autors, der gegen das dumpfe Vergessen anschreibt, ist, wie er sagt, die prekäre «Vermutung, die Welt liesse sich verändern». Und diese Vermutung steht zu seiner Art des Erzählens in unmittelbarer Verbindung:
    «Jeder Erzählung» – so Hackl – «liegt die Fähigkeit zugrunde, Erfahrung auszutauschen. Wenn ich nicht mehr fähig bin, die mitgeteilten Erfahrungen zu erzählen, wenn ich nurmehr fähig bin, sie zu montieren, dann gebe ich damit implizit zu erkennen, dass ich nicht mehr an die Kommunikationsfähigkeit des Menschen glaube, an die Fähigkeit der Menschen, ihre Erfahrungen einander anzuvertrauen. Und damit glaube ich auch nicht mehr an Veränderung, an soziale, politische, gesellschaftliche Veränderung.»

    Die authentischen Einzelfälle, die Hackl in seinen Geschichtserzählungen zu exemplarischen verdichtet, der Autor sieht sie immer auch als «Gleichnisse unserer eigenen Existenz, dessen, was jedem von uns zustossen könnte.»

    Warum er meist von extrem gefährdeten Leben in Krieg und Bürgerkrieg, unter Terror und Diktatur schreibt, das hat Erich Hackl einmal mit einem Zitat von Christoph Hein, unserem Preisträger des Jahrs 2000 und gleichfalls ein herausragender Chronist, begründet. Hein wiederum bezog sich auf Anna Seghers, die beide Autoren zu ihren Inspirationsquellen zählen. Demnach versieht der Selbsterhaltungstrieb unsere Sinne mit einem dicken Fell. «Durch dieses dicke Fell, das uns die Welt ertragen hilft, dringt allenfalls ein Ereignis, das uns so unmittelbar und direkt betrifft, dass dieser Selbstschutz nicht ausreicht, um uns heraushalten zu können: die Gefährdung des eigenen Kindes und des eigenen Lebens.» «Vielleicht», mutmasst Erich Hackl, schreibe ich deshalb Geschichten von gefährdeten Kindern und vom gefährdeten Leben, weil ich nur solchen Geschichten zutraue, dass sie durch das dicke Fell zu dringen vermögen.»

    Ein einziges Mal nur bisher hat Erich Hackl sich ganz der Fiktion überlassen, in seinem wunderbaren Märchen vom Goten-König Wamba, einer ironisch-verspielten Träumerei vom gewaltlosen Sieg kluger Frauen über dumpfe Machos, deren Macht einzig auf ihren Bärten beruht, bis sie ihrer beraubt werden. Das ist ein luftig-augenzwinkernder Text, voller vielschichtiger Komik. Zuletzt nun hat er zweimal tragische Liebesgeschichten zwischen einem Österreicher und einer Spanierin auf dem Hintergrund des spanischenBürgerkriegs und des 2. Weltkrieges als Stoff gewählt – dafür freilich extrem verschiedene Erzählstrukturen gefunden. Im gerade 70 Seiten umfassenden «Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick», vor drei Jahren erschienen, lotet Hackl das «literarische Potential der Lakonie» aus. «Im Jänner siebenunddreissig wurde der Österreicher Karl Sequens mit einem Oberschenkeldurchschuss in ein Krankenhaus der Stadt Valencia eingeliefert.» So lautet der durchrhythmisierte- und alliterierte Eingangssatz – zur Liebesgeschichte vom freiwilligen Kämpfer auf Seite der spanischen Republik gegen Franco und der Verkäuferin Herminia Roudière, die ihm im Spital erstmals begegnet. Eine Liebe auf den ersten Blick, die zu rascher Heirat und der Zeugung der Tochter Rosa Maria führt. Kurz vor der Niederlage der Republik flieht Herminia nach Frankreich, später nach Wien und Bayern. Karls Weg führt in die KZs Dachau, Lublin und Auschwitz, wo er zunächst überlebt, jedoch den Folgen der Todesmärsche nach der Evakuierung des Lagers erliegt. Herminia bleiben nur drei Briefe Karls, doch sie hält dem so kurz Geliebten ihr ganzes entbehrungsreiches Leben die Treue. Diese Liebe war es wert, sagt Herminia am Ende der eindrücklichen, scheinbar unzeitgemässen Erzählung. Erich Hackl ist hier einmal mehr Anwalt entrechteter kleiner Leute mit grossem Herzen.

    Warum zeichnen wir Erich Hackl heute mit dem Solothurner Literaturpreis aus?

    Diesem, seinem neuesten, in wenigen Wochen erscheinenden Buch, aus dem wir anschliessend als Ur-Lesung einen Ausschnitt hören, soll abschliessend unsere Aufmerksamkeit gelten.
    «Heute nacht werde ich von Rudi Friemel träumen. Er wird ein weisses Gesicht haben, wie aus Wachs, und weit aufgerissene Augen, als sei er zu Tode erschrocken. Er wird eine dünne gestreifte Häftlingshose tragen, die seine Frostbeulen verbirgt, und ein weisses Hemd, das mit Rosen bestickt ist.»

    So lauten die Eingangssätze, welche sofort einen Raum für Fragen öffnen. Die Stimme, die da spricht, fährt fort: «Soll ich seine Geschichte erzählen? … Ich warne dich: Da sind nur Bruchstücke seines Leben … Die Jahre vergehen im Flug, und wenn man Rückschau hält, ist es zu spät, Einbildung und Wirklichkeit auseinanderzuhalten.» Diese Stimme gehört der Schwägerin von Rudi Friemel, Marina, welche an die Liebe zwischen ihrer Schwester Margarita und dem Wiener Automechaniker, Kommunisten und Spanienkämpfer, die im Lager Bordell zu Auschwitz legalisiert wurde, erinnert. Marinas Stimme ist vielleicht die wichtigste einer grossen Zahl, die diesen Roman konstituieren, die aus Fragmenten das Mosaik dieser Liebe und ihres tragischen Verlaufs zusammensetzen: andere sind Rudis Sohn Norbert aus erster Ehe mit einer Oesterreicherin, der gemeinsame Sohn Edouard, Ueberlebende, Polizisten, Unbekannte, welche irgendeinen Zipfel dieser filmreifen Story miterlebt haben. Friemel ist mit den Internationalen Brigaden an die Seite der Verteidiger der Republik nach Spanien gekommen. Nach deren Zusammenbruch wird er in französischen Lagern interniert, von der Geliebten und Mutter ihres gemeinsamen Sohnes getrennt, dann repatriiert und sofort als politischer Häftling nach Auschwitz deportiert.

    Derweil vegetiert Margarita in einer schwäbischen Kleinstadt dahin, später in Wien. Dann wird die «Hochzeit in Auschwitz» inszeniert. Bald danach beteiligt sich der loyale Rudi – auch, weil er die Hochzeit als «unwiderlegbaren Beweis unserer Existenz» empfindet, an einer Flucht; sie misslingt. Nach monatelangem Bangen und Hoffen wird er wenige Tage vor der Befreiung des Lagers durch die Russen hingerichtet. Die Frau zieht mit einem neuen Mann nach Paris, unglücklich bis ans Ende ihrer Tage. Ein Buch der Desillusionierung, der Klage über von der Geschichte zertrümmerte Lebensbahnen und verlorene Hoffnungen auch nach dem Ende von Krieg und Diktaturen. «Das Schlimmste», schreibt Margarita nach so vielen Jahren, die ihr alle Zuversicht gefressen haben, «das Schlimmste, das man überhaupt erleiden kann: der Vertrauensverlust, in die Güte der Menschen und die Einsicht, dass Ideale nichts weiter sind als Hirngespinste oder Karrieresprossen».
    »Verzweiflung ist nicht aktenkundig» notiert der Erzähler unnachahmlich knapp und schlagend. Es ist wohl Hackl düsterstes Buch, das gegenüber dem schier makellosen «Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick» einen gebrochenen, wenn nicht resignierten Blick auf Gesellschaft und Geschichte wirft. Gewiss, schon im «Entwurf» heisst es: «Was ist ein Historiker … ein Widerstandskämpfer, der zurückgeht in die Geschichte. Der Lebensspuren sichert. Ort, Zeit, Zahl. Notgedrungen ein Pessimist» doch dann heisst es auch: «Aber einer, der nicht das letzte Glied einer langen Kette sein will.»

    In «Die Hochzeit von Auschwitz» begegnen uns Zeugen, oder eben Stimmen, die wohl als letzte Glieder verstanden werden müssen. Das Buch endet mit dem nüchternen Satz eines Lager- Ueberlebenden «Wer in Auschwitz war, hat für den Rest des Lebens eine Hornhaut auf der Seele». Erich Hackl ist mit diesem anspruchsvollen und breit konzipierten, Zeugnisse mehrerer Generationen einschliessenden Projekt wohl sein reichstes, literarisch ambitioniertestes Buch gelungen, das eben durch alle Hornhaut hindurch unmittelbar anrührt. Solche Texte freilich liegen ausserhalb schnelllebiger Bestsellermoden, marktschreierisch propagierter Trends oder undifferenzierter Pseudo-Debatten – ich nenne nur Martin Walser!

    Wer heute gegen den Faschismus schreibt, schreibe eigentlich à fonds perdu, «immer am Rande des Verstummens», diese Einsicht hat Erich Hackl schon vor drei Jahren formuliert. Doch verweigert er sich einer rein defensiven Sicht auf antifaschistische Literatur, er beharrt auf «ihrer Unmittelbarkeit, ihrer Lebensnähe, ihrer Zeitgenossenschaft». Wer gegen Faschismus schreibt, so Hackl «schreibt auch und vor allem für das Fehlende, in erster Linie für die Würde der Erinnerung.»

    Diese Literatur zu ermutigen und zu ihrer Fortschreibung anzuspornen, ist ein wesentlicher Grund für die heutige Preisvergabe.

    Lieber Erich Hackl, wir freuen uns auf Dein neues Buch und künftige Texte, jetzt aber beglückwünschen wir Dich herzlich zur verdienten Auszeichnung mit dem Solothurner Literaturpreis 2002 – wir, das sind auch meine Jury-KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer, denen ich für angenehme Zusammenarbeit und kompetente Unterstützung ebenso danke, wie wir alle drei den Sponsoren für die völlige Freiheit danken, in der sie uns wirken lassen. Ein grosse Dankeschön gilt endlich Frau Aebi und Herrn Egli für die organisatorische Arbeit hinter den Kulissen!
    Ganz herzliche Gratulation Erich Hackl!