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    Barbara Honigmann

    Hans Ulrich Probst, 28. Juni 2004

     

    «Hier ist es zu schön, da können wir nicht bleiben.
    … ich dachte, das Weggehen könnte auch so etwas wie Verwandeln sein,
    … und alles finge noch einmal ganz von vorne an.
    Beim Schreiben lebt man in dem Schmerz des Blosslegens
    und der Lust der Lüge, des Umdichtens.»

    Liebe Barbara Honigmann,
    Herzlich willkommen in Solothurn, Ihnen/Dir mit seinen ruhigen Gassen und seinem angenehm-neugierigen Literatur-Ambiente schon als Gast der Literturtage bekannt.

    Willkommen meine Damen und Herren,
    es ist mir ein grosse Freude, Ihnen Barbara Honigmann, unsere diesjährige Preisträgerin, vorzustellen, eine Künstlerin – neben der Schriftstellerin gibt es auch die Malerin Barbara Honigmann – eine Künstlerin, die hartnäckig und eher leise an einem intensiven und kompakten Werk arbeitet, die, obwohl sie immer wieder die nämlichen Themen in den Blick nimmt, über einen enormen Gestaltungsreichtum, eine einzigartig poetischen Sprache von magischer Kraft und hoher Musikalität verfügt. So verdanken wir dieser Autorin mit die schönste, berückendste deutsche Prosa der letzten zwei Jahrzehnte.

    Wir zeichnen ein literarisches Werk aus, das stark in einer individuellen Lebensgeschichte verwurzelt ist, doch darin europäische und deutsche Geschichte in persönlichen Spiegelungen sicht- und begreifbar macht. Gerade durch den unerschrockenen, bohrend fragenden Umgang mit dem Eigenen ergeben sich Texte von grosser Allgemeingültigkeit und hohem historischem und poetischen Interesse. Barbara Honigmanns melancholischer Grundton wird immer wieder gebrochen durch Humor und Selbstironie; zarte und freche Tonfälle wechseln oft in rascher Folge. Konzentriert um ein Thema ist dieses Schreiben, unverwechselbar, eindringlich und unerschöpflich in seinen Bezügen, vielfältig in seinen Ausformungen, und dabei bewahrt es immer auch Geheimnisse. Von solchen Paradoxien und Ambivalenzen werde ich wiederholt zu sprechen haben – sie bilden den Kern von Barbara Honigmanns Schreiben Und weil die Autorin selbst ihr Schreiben als «immer autobiografisches Schreiben zwischen Enthüllen und Verstecken, in einer ständigen Konfrontation mit der zum grossen Teil auferlegten Familien- und Lebensgeschichte» bezeichnet, gehören biografische Stichworte wohl an den Anfang:

    Allein: unser Preis, unsere Feier gilt der Literatur, der Sprachkunst – und so schicke ich den Fakten eine Kostprobe vorauszuschicken, eine Passage aus der wohl schönsten, geheimnisvollsten und mit Fug romantisch zu nennenden Erzählung aus dem Erstling «Roman von einem Kinde». «Wanderung» heisst sie und sie erzählt von jungen Leuten aus der ehemaligen DDR, welche in den Sommern der 70er Jahre einsame Wanderungen in die damals touristisch kaum erschlossene Slowakei unternehmen. Die direkte sprachmagische Wirkung von Barbara Honimanns kunstvoll komponiertem Märchen- und Sehnsuchts-Ton ist da offenkundig: Ein Text wie ein Gedicht – mit einem lange nachhallenden Schluss-Satz:

    «Eine Strasse, fanden wir, war so schön, dass wir unbedingt dort übernachten müssten, koste es, was es wolle. Wir klingelten an jeder Tür, bis wir jemanden fanden, der uns erlaubte, in seiner Wohnung in einem Zimmer unsere Schlafsäcke auszubreiten. Am Abend wollten wir noch durch die Gassen gehen, es war nicht mehr hell und noch nicht dunkel, die altertümlichen Strassenlaternen brannten schon und der Vollmond schien.In einer Strasse sang eine Zigeunerin, vielleicht war es auch eine Slowakin, und sie, oder vielleicht war es auch ein anderer, spielte dazu auf einer Harmonika. Sie stand am dunklen Fenster und sang, man sah nur ihre Silhouetten. Wir blieben stehen und lehnten uns an die gegenüberliegende Hauswand, und sie sang, glaube ich, hundert Lieder, eines nach dem anderen, sie sang immer lauter, sie schrie und brüllte, und die Harmonika brüllte auch. Als wir weitergingen, hörte man den Gesang noch bis zum Ende der Strasse, wahrscheinlich bis zum Ende der Stadt. Die Strasse war, wie alle Strassen in dem Städtchen, abschüssig, am Ende war das Tor, das wieder hinausführte. Durch das Tor sah man die dunkle Landschaft liegend, es war eine seltsame Abstufung der Farben, die Strasse war schwarz, die Landschaft hinter dem Tor war blau und der Himmel mit seinem Vollmond war ganz hell. Und die Frau hörte nicht auf zu singen. Da sagten wir zu einander. Hier ist es zu schön, da können wir nicht bleiben.»

    Derartig anmutig, aber auch abgründig-doppelbödig – liest sich unsere Preisträgerin!

    Barbara Honigmann ist am 12. Februar 1949 in Ostberlin zur Welt gekommen, als Kind kommunistischer jüdischer Emigranten, welche aus dem englischen Exil zurückkehrend, sich bewusst für die damals vor der Gründung stehende DDR entschieden hatten. Der Vater, Georg Honigmann, Journalist, Chefredakteur und Kabarettautor stammte aus einem assimilierten Medizinerhaus in Hessen. Die Mutter, Lizzy Kohlmann, kam von Wien, aus einer Familie mit teils ungarischen Wurzeln. Sie heiratete, 24jährig und schon Kommunistin, in zweiter Ehe ihren aus Cambridge kommenden marxistischen Geliebten. Wie erst das in wenigen Wochen erscheinende jüngste Buch Barbara Honigmanns «Ein Kapitel aus meinem Leben» überraschend und mit gekonntem Understatement enthüllt, war dieser englische Gentleman niemand anderes als Kim Philby, Meisterspion und Doppelagent in sowjetischen Diensten. Philby arbeitete in Spanien und London, ehe er 1963 aufflog, nach Moskau flüchtete und dort noch ein Vierteljahrhundert lebte.

    Noch in London, 1946, hatte sich Barbara Honigmanns Mutter mit Georg Honigmann, Chef von Reuters European Service, verbunden. In Berlin arbeitete sie später als Synchronregisseurin bei der DEFA. Die Eltern trennten sich bald, blieben aber Freunde. Ihre antifaschistische Vergangenheit bedeutete Privileg und Prominenz, doch glücklich wurden beide im miefigen realsozialistischen Deutschland nie. Die Mutter, seit je den Emigrantenkreisen und ihren Wiener Freunden näher als den Berlinern kehrte 1984 für die letzten sieben Lebensjahre in die österreichische Hauptstadt zurück. Der Vater fühlte sich, wie es einmal heisst, zeitlebens «sowieso und immer heimatlos».

    Barbara Honigmann hat eine Theaterausbildung absolviert, war Dramaturgin und Regisseurin in der Provinz, hat zunächst Stücke geschrieben. Diese Erfahrungen hat sie 25 Jahre später erinnert und in Fiktion verwandelt: in den Briefroman «Alles, alles Liebe». Atmosphärisch stimmig und schonungslos genau vergegenwärtigt die Autorin darin das Lebensgefühl einer eingesperrten Generation, welche nach künstlerischer Freiheit ebenso giert, wie nach Anerkennung und Liebe, welche ringt um die schwierige Balance zwischen resignierter Anpassung und zögerlicher Revolte. Angesiedelt ist das Ganze in einer Art Bohème, einer Clique junger Leute, viele Kinder ehemaliger jüdischer und kommunistischer Emigranten. Das Buch ist Bildungs- Gesellschafts- Künstler- und Liebesroman in einem, überschattet vom Scheitern, aber gerade darin oft auch komisch, dramatisch nur in den aufwendigen Liebesinszenierungen, deren Libertinage widerspiegelt, dass es sonst keine Freiheit gab. Es spielt im Herbst 1975, just vor der Ausbürgerung Wolf Biermanns. In jene Monate fällt auch die längst vergessene UNO-Resolution, welche Zionismus und Rassismus gleichsetzte und – vom Regime ausgeschlachtet – die Stellung der wenigen jüdischen DDR-Bürger noch prekärer machte. So gesellt sich neben die Themen Theater und künstlerische Freiheit, Liebe und Freundschaft schliesslich auch die Frage nach jüdischer Identität.

    Das Genre des Briefromans liegt Barbara Honigmann ausgezeichnet – er ist eine Art Zwischenform zwischen Drama und Prosa und erlaubt, mit vielen Stimmen zu sprechen, also auch sehr personal zu erzählen. Insgesamt erweist sich der «direkte dringliche und eindringliche Ton diese quasi vorliterarischen Form des Briefes», wie ihn die Autorin einmal im Blick auf eine ihrer Vorgängerinnen, Rahel Varnhagen, charakterisiert hat, diesen Ton beherrscht unsere wie gemacht unsere Preisträgerin souverän. Das Theater als Metapher, Illusion und Desillusion, die Kulissenhaftigkeit der Realität, das sind zentrale Motive im Schreiben von Barbara Honigmann. Zurück zur Biografie:

    Die Geburt des ersten Sohnes 1976 und der nach Ausbürgerung Wolf Biermanns im gleichen Jahr absehbar irreversible Niedergang der DDR setzten eine markante Zäsur. Barbara Honigmann wandte sich entschieden der Frage nach ihrer Herkunft zu. Im Elternhaus hatten die marxistischen Hoffnungen die jüdischen Wurzeln längst verdrängt, sie sah, die Eltern «sassen vollkommen zwischen den Stühlen gehörten nicht mehr zu den Juden und waren keine Deutschen geworden». Barbara Honigmann entschied für ihr Leben, «dass auch das Jüdische darin Platz haben sollte», und liess sich 1984 zusammen mit ihrem Mann und den Söhnen in Strasbourg nieder, der Stadt gleich hinter der deutschen Grenze und mit einer grossen jüdischen Gemeinde.
    Was dieser Schritt bedeutete, hat sie in der letzten Geschichte ihres ersten Erzählbandes so anschaulich und formvollendet in Erzählung verwandelt, so dass man nur zu zitieren braucht:

    «Es ist Montagabend, und ich gehe auf den Hof und nehme das Schloss von meinem Fahrrad, steige auf und biege zweimal um die Ecke, dann bin ich schon auf der grossen Allee. Die fahre ich entlang, immer geradeaus fahre ich auf der breiten Allee, der AVENUE. Sie heisst AVENUE DE LA FORET NOIRE. ich fahre eine Viertelstunde, und immerzu denke ich dabei wo bin ich, was tue ich hier, und denke an die Frage, die man mir ununterbrochen stellt: so weit weg, warum?.(…)
    Das hier ist die AVENUE DE LA FORET NOIRE, also hier bin ich auf der AVENUE DE LA FORET NOIRE. Hier bin ich gelandete vom dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein. Warum: weil ich es so wollte.»

    Das kühne Bild vom dreifachen Todessprung ohne Netz hat die Autorin später nüchtern als etwas zu dramatisch relativiert – jedes Pathos ist ihr fremd. Nachhaltig bleibt einem die einsame Radlerin auf der «Strasse des dunklen Waldes» (unserem Schwarzwald) im Gedächtnis haften – auch dort, wo sie von der schwierigen Rückkehr ans neue Domizil nach den ersten Ferien spricht:

    «wie es war, als wir hier angekommen sind, oder schlimmer noch eigentlich, als wir nach den ersten Ferien hierher nach Hause zurückgekehrt sind, nach Hause in die Fremde.
    Zuerst bin ich nur auf Zehenspitzen gegangen, so fremd war mir der Boden, und nur in der innersten Wohnung konnte ich mich an einigen Gegenständen festhalten, die noch von DORT waren und die hier genau so verloren rumstanden und rumlagen wie ich und bei deren Anblick ich oft dachte, ach besser, wir hätten sie auch dagelassen, sie tragen viel zu viel Erinnerung, das hätten wir alles dalassen müssen. Post keine, Telefon still. Hier kannten wir noch niemand, und von DORT rührte sich keiner mehr.»

    Verlorenheit und Erinnerungslast!

    Diese schwierige Anfangszeit, wo «keine Gewohnheit das Gewicht nimmt», ist längst vorbei – eine Grunderfahrung von Fremdheit scheint mir indes geblieben. Barbara Honigmann hat sich immer dagegen verwahrt, ihren Schritt als «Flucht in die Orthodoxie» auszulegen:

    «In Wirklichkeit», schreibt sie in ihrem «Selbstporträt als Jüdin», «in Wirklichkeit war ich auf der Suche nach einem Minimum jüdischer Identität in meinem Leben… und nach einem Gespräch über Judentum jenseits eines immerwährenden Antisemitismus-Diskurses. Ein Minimum würde ich auch heute noch sagen, etwas, das mir gerade gut passt für ein Leben zwischen den Welten, aber für deutsche Verhältnisse ist es eben schon zuviel. Deshalb mussten wir weg. Die Deutschen wissen gar nicht mehr, was Juden sind, wissen nur, dass da eine schreckliche Geschichte zwischen ihnen liegt.»

    Jegliche Orthodoxie liegt ihr fern, ist schlicht unvereinbar mit ihrem Selbstverständnis als Künstlerin.
    «Wir praktizieren unser Judentum in einer Weise, die wir ‹koscher light› nennen» heisst es witzig in im Erzähl- und Essayband ”Damals, dann und danach” und zu ihrem dreifachen Leben weiter: «… wenigstens am Rande berühre ich ja drei Kulturen, die französische, die deutsche und die jüdische nämlich, und wenn es ein guter Tag ist, fühle ich mich bereichert und denke, dass ich Glück habe, an drei Kulturen teilhaben zu können, und wenn es ein schlechter Tag ist, fühle ich mich zwischen allen Stühlen sitzend und verstehe gar nichts.»

    Hier ist sie benannt, die Ambivalenz, die Doppelgesichtigkeit dieser Existenz. Denn selbst ihr Schreiben sieht Barbara Honigmann unaufhebbar mit dem Weggehen verknüpft:

    «Mein Schreiben war im Grunde genommen aus einer mehr oder weniger geglückten Trennung gekommen. Ich begriff, dass Schreiben Getrenntsein heisst und dem Exil sehr ähnlich ist.»

    Die Geschichte ihrer Vorfahren liess sie nicht los. So können wir ihr gesamtes literarische Schaffen als den Versuch verstehen, sich schreibend begehbaren Boden zu erarbeiten, als existentielle Selbstvergewisserung –
    «Denn es war schwer, der Geschichte und den Geschichten unserer Eltern zu entrinnen, Gesänge von mythischen Orten, tausendmal genannt und zugleich von viel Schweigen umgeben», schreibt sie einmal. Während die Mutter schier verschwiegenheitssüchtig Erinnerung und Rückschau verweigerte, stiess Barbara Honigmann väterlicherseits auf eine für das deutsche Judentum typische Entwicklungsreihe:

    Der Urgrossvater war ein Vorkämpfer für die jüdische Emanzipation und selber Schriftsteller, ein liberaler 1848-Demokrat: der Grossvater Medizinprofessor und ganz aus dem Judentum aus- und in die deutsche Kultur eingetreten, der Vater schliesslich verleugnete sein Judentum ebenso wie seine bürgerliche Herkunft in der Unterwerfung unter die kommunistische Partei.

    Die Urenkelin jenes unerschrockenen Vorkämpfers sieht sich selber unprätentiös als «eine eher erschrockene Nachgeborene, eher ratlos» … Sie lässt das Vorkämpfen, schreibt aus Distanz,bleibt aber ihrem Thema treu:

    «Es kommt mir vor, als ob jeder Künstler überhaupt immer nur ein Thema hat, um das er sein Leben lang kreist und das er nicht verlassen kann. Welches nun wirklich meine Geschichte war, habe ich nur geahnt … eine Geschichte von vergeblicher Liebe, von gescheiterten Hoffnungen». Drei Generationen hatten schon deutsche Bücher verfasst «und es war umsonst gewesen». Deshalb realisiert die Urenkelin,dass sie «mit anderen Worten reden, noch einmal anders, ganz von vorne anfangen» muss. Der Titel des ersten Buche «Roman von einem Kinde» bezieht sich auf diese Haltung, «noch einmal ganz vorne anzufangen, wie ein Kind eben». Aber auch sie, heisst es dann beinahe trotzig «will von ‹den grossen Dingen› sprechen, nur davon, von Exil und Erlösung, aber nicht in der Sprache der Vorkämpfer, die alles wissen und deren Worte ihre Ideen vor sich hertragen, sondern wie es dem Ratlosen entspricht, der Worte sucht für die verstreuten Erinnerungen und vagen Bilder, die in seinem Innern herumschwimmen. Diese Worte findet er im Alltag, es sind eher die banalen Wörter, aus nichts».

    Da haben wir das poetische Programm unserer heutigen Preisträgerin gleichsam in nuce.
    Und welche Wörter sie dafür gefunden hat und findet. In ihren Texten beeindrucken die anschauliche Prägnanz, das dynamisches Parlando, das sich aus dem Alltagserleben speist und dieses zugleich transzendiert in eine von der deutschen Klassik und zumal Romantik geschulte traumwandlerisch sichere, raffiniert einfache Sprache.

    Stichwort Alltag: Beiläufig wesentlich ist für diese Autorin, dass ihre ganze künstlerische Arbeit, Schreiben und Malen, auch der im Werk häufig mal ernst, mal ironisch bedachten «Bataille des Alltags» abgerungen ist. Künstlerisches Schaffen sei im Grunde unvereinbar mit der Rolle der allzeit präsenten Mutter Hausfrau, registriert Barbara Honigmann unaufgeregt, und über dieses bekannte Dilemma hat sie einen grossartig unspektakulären Text geschrieben «Ein seltener Tag» – über die zwiespältigen an einem Tag, wenn mal alle übrigen Familienmitglieder ausgeflogen sind keine Pflichten rufen, genug Zeit da wäre. Wir lernen hier auch die bildende Künstlerin Barbara Honigmann kennen, die hier zu würdigen mir das Zeitkorsett versagt. Doch denke ich, dass es gerade die Materialität, das handfeste Arbeiten mit Pinsel und Farbe ist, was sie im Kontrast zum flüchtigen Wort anzieht, das Festhalten der Dinge. Zugleich gibt es eine unverkennbare Verwandtschaft zwischen der farbigen, klaren, ja flächigen Malweise und der scharfen Kontur und Kompaktheit ihrer Sätze.

    Im Umfeld ihres Strassburger Alltags ist auch der Roman «Soharas Reise» situiert, worin Honigmann sich am weitesten in die pure Fiktion vorwagt. Es ist die abenteuerliche Geschichte einer aus dem Maghreb stammenden jüdischen Nachbarin und sechsfachen Mutter, welcher vom treulosen Gatten und falschen Rabbi eines Tages dreist die Kinder entführt werden. Wie sie diese dank Nachbarschaftshilfe in einer wilden Aktion zurückgewinnt, wie ihr aber in der Trauer über die erstmalige Trennung von den Kinder auch einige Emanzipationsschritte gelingen, das liest sich schwungvoll und spannend – eine fantastische Geschichte, ein gut ausgehendes Märchen, hautnah in der Lebensumwelt der Autorin verankert.

    Zuletzt möchte ich nun sprechen von den beiden Büchern, in denen unsere Preisträgerin sich direkt mit ihren Eltern auseinandersetzt, berichtend und erzählend, reflektierend und fabulierend, bewegend und bewegt, im steten Wechsel von Abgrenzung und Annäherung.

    «Eine Liebe aus nichts» lautet der Titel ihres ersten Romans, 1991 erschienen; er erzählt zwei ineinander verflochtene Geschichten, vom Vater, seiner Tochter und deren Auf- und Ausbruch aus Deutschland und ihrer gescheiterten Liebe. Ein Buch voller Ambivalenzen, zwischen so präsenter wie unfassbarer Vergangenheit, zwischen schwankender Gegenwart und offener Zukunft, begleitet von dauerndem Kommen und Gehen, einem Reigen gegenseitigen Sich-Verfehlens. Der Roman beginnt mit dem einsamen Begräbnis des Vaters auf dem seit Jahrzehnten unbenutzten jüdischen Friedhof von Weimar, wo er zuletzt in einem Museum lebte, das aber eigentlich gar keines ist – nicht mehr oder noch nicht – und so wird die Wirklichkeit von Anfang als unwirklich erlebt. Ähnlich auch von der Erzählerin Protagonistin, wenn sie aus aus Berlin nach Paris kommt, aus dem Bahnhof tritt und vor lauter Baustellen und Absperrungen «keinen Weg und keine Strasse» zu findenden meint. Sie mietet sich dann in einem Souterrainzimmer im 13. Arrondissement ein, wo sie zum Fenster hinaus nur einen schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit, die Füsse der Vorbeigehenden auf dem Pflaster sieht und sich fühlt «wie ein Einwanderer nach Amerika vor hundert Jahren: Nun sitzt er auf Ellis Island, der verdammten Insel, hat sein ganzes Leben hinter sich abgebrochen und Amerika noch nicht mal mit einem Fuss betreten, aber er ahnt schon die grausamen Wahrheiten der neuen Welt und muss sich manchmal fragen, ob er nicht viel zuviel für viel zuwenig hergegeben hat.»

    Parallel erzählt Barbara Honigmann vom Einleben in der neuen Fremde und von der Trauer um den Vater, wie sich immer neue «Schalen der Fremdheit» über ihre Begegnungen gelegt hat. Die Kulissenhaftigkeit der Realität, daas Schwebende und Diffuse ihrer Lebenswirklichkeiten, wie es beide, Vater und Tochter erleben, bringt eine grandiose Szene zum Ausdruck, wo sich die Tochter erinnert, wie sie mit dem Vater ins Theater ging, in dem dessen neue Gefährtin des Vaters auftrat:

    «Abends haben wir die Schauspielerin oft ins Theater begleitet und mein Vater und ich sahen von der Seite, in den Kulissen neben dem Feuerwehrmann stehend, dem Stück zu, in dem sie spielte. Diesen Platz, neben dem Feuerwehrmann, zogen wir dem Zuschauerraum vor, denn hier war die Illusion nicht so beherrschend, das Theater fand nur in einem Raum des grossen Hauses statt, dessen andere Räume für uns sichtbar blieben, und das Kommen und Gehen der Leute hinter und neben uns, war beruhigend und schwindelerregend zugleich. Wenn die Bühnenarbeiter oder Schauspieler, die zur Kantine gingen, die grosse Tür aufstiessen, durch die die Dekorationen hinaus und hereingebracht wurden, die grosse Tür, die zum Hof ging, dann wurde der abendliche Himmel sichtbar, der im Sommer oft noch hell war, und die Höfe der nachbarlichen Häuser und auch die Kantine selber – ein kleiner Pavillon. Die Geräusche der Stadt und der Höfe und die lauten Gespräche aus der Kantine drangen bis zu uns und fast hinein in die Angespanntheit der Theatervorstellung und die Dunkelheit, in der die Zuschauer reglos sassen und dem Stück folgten, und nur wir standen zwischen dem dunklen Zuschauerraum und der künstlichen Welt auf der Bühne und der Welt hinter der grossen Tür nach draussen, die aber irgendwie auch nicht die richtige Welt zu sein schien.»

    Wo ist die richtige Welt ? Beruhigend und schwindelerregend zugleich! In dieser Spannung steht Honigmann stets konkrete und ungemein musikalsiche Prosa durchgehend.
    Geschrieben in einer unnachahmlich poetischen, motivisch dicht verknüpften Sprache, von gewiss elegischem Grundton, aber auch sicher wandernd auf dem Grat zwischen Komik und Tragik, emotional berührend, zugleich verhalten, klug und knapp in der Komposition:

    «Eine Liebe aus nichts» – ein vollkommenes Buch!

    13 Jahre da nach erscheint Mitte August gleichsam als Zwilling das Buch zum Leben der. «Ein Kapitel aus meinem Leben» lautet der Titel und dieses Kapitel betrifft das aus öffentlichem Interesse spektakulärste und zugleich Geheimnis umrankte Kapitel im Leben der als Alice Kohlmann geborenen Mutter unserer Preisträgerin, die in zweiter Ehe mit Kim Philby, dem englischen Spion in sowjetischen Diensten und in dritter mit Georg Honigmann verheiratet war- wie erwähnt. Das Spannungsfeld zwischen Lebenslüge und Lebenswahrheit, die Rätsel, welche die eigene Mutter der Tochter bis zuletzt ungelöst belassen hat, sie stehen leitmotivisch im Zentrum des Buches – «dieses Doppelte und Ungefähre», was ihre Existenz bestimmt:

    «Sie hat mich geboren und nun setze ich sie wieder als Legende in die Welt. Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge, so wie es ihr Credo war.» Bewusst hat Barbara Honigmann auf detektivische Recherchen verzichtet, sich nur auf die ihr zugänglichen Dokumente gestützt, die Mutter mithin in der Literatur auch neu erfunden. Wer war sie? Was hat sie gewusst? Was gemacht? Wir erfahren es nur bruchstückhaft im farbigen, oft auch ironisch zupackenden Roman, ein Beispiel:

    «‹Deine Mutter ist ein Mensch, den man wirklich nur schwer verstehen kann›, sagte mein Vater manchmal zu mir … ‹Entweder sie ist viel naiver oder viel gerissener als die meisten Menschen. Entweder sie redet zuviel oder sie verschweigt alles … sie verschenkt und beschenkt ohne Mass, aber etwas von sich selbst preisgeben, das konnte sie nie›. Und ihre Schmerzlosigkeit. Wenn ich über Kopfschmerzen klagte, sagte sie, Kopfschmerzen kenne ich nicht, wenn ich über Bauchweh klagte, Bauchweh habe ich in meinem Leben noch nie gehabt. Ich bin heute nicht in Stimmung – so einen Satz hätte sie nie gesagt, meine Mutter kannte keine Stimmungen, und sie liess sich nie gehen, in Trauer nicht und in Schmerz nicht und auch nicht in schlechter Laune. Contenance bewahren, war das Allerwichtigste in ihrem Leben, und die Contenance kam noch vor dem Marxismus-Leninismus und den Philosophen, die die Welt nur verschieden interpretiert haben, wo es ab er darauf ankommt, sie zu verändern.»

    «Contenance», dies Haltung imprägniert auch dieses subtile Mutterbuch, welches im Vergleich zur behutsamen Annäherung an den sehr zart gezeichneten Vater wohl einige Grade kühler anmutet.

    Indes lässt die Autorin der etwas schroffen Verweigerung von Erinnerung und wahrheitsgetreuen Angaben zur Vergangenheit durch die Mutter durchaus Gerechtigkeit widerfahren:

    «Vielleicht war es ihre stärkste Begabung, sich ganz dem Augenblick hingeben zu können und völlig in der Gegenwart zu leben.» – Also genau das, was unserer Preisträgerin nicht immer leicht fällt.

    Im übrigen bildet das wechselvolle Leben der Lizzy Kohlmann, die aus Wien und einem ungarischen Landgut über Paris, London, Ostberlin wieder nach Wien führte, eine unerschöpfliche Quelle für Geschichten, welche Barbara Honigmann pointiert und lakonisch erzählt und dabei in kecker Verkürzung wie nebenbei treffende private und welthistorische Miniaturen entwirft. Grossartig in ihrem schwarzen Humor und der stilistischen Kühnheit etwa die Schilderung einer Kriegsende-Feier unter russischen Dissidenten in Moskau: «Mischkas kommunistische Ueberzeugungen hatten sich nach zwanzig Jahren Gulag ziemlich abgekühlt, vom zweiten Weltkrieg hatte sie in Sibirien nur vom Hörensagen erfahren und von der europäischen Judenvernichtung auch erst mir grosser Verspätung, als sie nach der Rückkehr aus dem Lager ihre Eltern und Verwandte aus Riga suchte, vergeblich, denn sie waren schon vor über zehn Jahren in Auschwitz umgekommen oder gleich in Rumbula, dem Rigaer Wäldchen erschossen worden, während sie in Sibirien Moosbeeren unter einer meterhohen Schneedecke pflücken musste …»

    Die anrührendsten und schönsten Sätze über ihre Mum finden sich in einer Vorstudie zum Roman im Band «Damals dann und danach», wo Barbara Honigmann vom letzten Besuch bei der in ein Altenheim umgezogenen 81-Jährigen berichtet:
    «Denn ausser einem fröhlichen Menschen wollte meine Mutter auch ein starker Mensch sein oder wenigstens so scheinen, und diese beide grossen Anstrengungen des Fröhlichseins und des Starkseins kamen wohl aus ihrem Stolz, der an den Hochmut grenzte. Den Hochmut, sich niemals auszuliefern und so für immer unbesiegbar zu bleiben. … Wie sie da stand, vor dem Seniorenheim, sah meine Mutter so klein, so schwach, so besiegt und mutlos aus, wie ich sie noch nie gesehen hatte. … Ein paar Tage später ist sie gestorben, allein in dem Zimmer im Seniorenheim, ohne jemanden zu rufen, zu bitten, zu belästigen, wie es ihre Art war, stark, stolz und ein bisschen hochmütig. Meine Mutter ist genau in dem Schweigen gestorben, in dem sie, jedenfalls mit mir, auch gelebt hatte.»

    Dieses Schweigen behutsam und höchst eindringlich zum Reden gebracht zu haben, ist die überzeugende Leistung des neuen Romans!

    Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

    Herzlichsten Glückwunsch, liebe Barbara Honigmann zur Auszeichnung mit dem Solothurner Literaturpreis 2004 – ich spreche ihn auch aus im Namen meiner Jury-KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer, denen ich für kompetente Unterstützung herzlich danke. Alle drei danken wir den Sponsoren diese Preises, die uns in völliger Freiheit arbeiten lassen. Ich danke weiter Michael Heitzler und Christian Gutfleisch für die stimmige musikalische Begleitung. Und ein grosses Dankeschön geht auch an Béatrice Aebi und Erich Egli für die organisatorische Betreuung dieses Anlasses!