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    Annette Pehnt

    Hans Ulrich Probst, 20. Mai 2012

    Liebe Annette Pehnt,

    herzlich willkommen im Mekka der Schweizer Literatur,

    willkommen meine Damen und Herren – ich freue mich sehr, dass Sie, offenbar noch nicht ganz ermattet, unserer Einladung gefolgt sind, um mit unserer Preisträgerin eine so kluge wie vielseitige Erzählerin kennenzulernen.

    Wir zeichnen Annette Pehnt heute aus für ihre hoch sensible Prosa, in der sie mit stupender Präzision familiäres und gesellschaftliches Zusammenleben bis in seine feinsten Verästelungen auslotet. Annette Pehnt ist eine am Menschen und an der Sprache interessierte Autorin, die nie poetisch prunkt, sondern punktgenau, mit Radierfeder und Skalpell, nie mit Zweihänder oder dickem Pinsel operiert. Ihre Literatur erforscht die Bruchstellen zwischen den Generationen und Geschlechtern und erzählt von seelischen Verletzungen und versteckten Abhängigkeiten. Dem oft tragikomischen Scheitern und der Verzweiflung ihrer Figuren über schwindende Lebensmöglichkeiten setzt sie fragile Träume von Geborgenheit und Glück, aber auch rettenden Humor entgegen. Unerbittlich, doch nie respektlos leuchtet sie ihre Figuren bis ins Innerste aus. So ist Annette Pehnt zur meisterhaften Chronistin intimer Gefühle und Gedanken geworden.

    Exemplarisch lässt sich dies zeigen an ihrem vielleicht bekanntesten Buch mit einem brisanten Thema, ihrem Roman «Mobbing». Er beginnt so:
    «Das war’s, sagte Jo. Ich musterte sein Gesicht und sah trotzige Erleichterung.
    Ich bin erledigt, sagte er, aber es klang nicht so. Inzwischen glaube ich ihm, aber als er da am Küchentisch stand, musste ich fast lachen.
    Na ja, sagte ich, so schlimm wird es wohl nicht sein.
    Wenn das Schlimmste passiert, muss man sich endlich nicht mehr davor fürchten, sagte Jo.»

    Joachim Rühler, verheiratet, zwei kleine Kinder, hat seine langjährige Arbeit in einer Öffentlichen Verwaltung verloren und kämpft mit juristischen Mitteln dagegen – verbissen und letztlich vergeblich. Darunter leidet natürlich nicht die Verwaltung, sondern seine Familie. Und so ist das Schlimmste nicht vorbei: Zwar wird Jo nach einem Pyrrhus-Sieg vor Arbeitsgericht wieder eingestellt, aber die für seine Entlassung verantwortliche Chefin bringt ihn im Hochsommer in einem Bürocontainer ohne Telefon und Klima-Anlage unter und beschäftigt ihn mit sinnlosen Aufträgen. Das nagt am Selbstbewusstsein Jos, gleichzeitig fressen die wachsenden Anwaltskosten die finanziellen Reserven der Familie auf.

    Erzählt wird uns all dies – und das ist der Schlüssel zu dieser prägnanten Studie über ein Tabuthema von hoher gesellschaftlicher Relevanz -, erzählt wird uns das von Jos Frau, welche die Vorgänge im Büro nur von Jo kennt. Zunächst hält sie selbstverständlich zu ihm, mit der Zeit indes, je gekränkter und starrsinniger Jo sich zu verhalten scheint, beginnt Argwohn an ihr zu nagen: «Ich weiss nicht mehr, was stimmt.»

    Geradeso verlieren auch die Lesenden den Durchblick; sie sehen zu, wie der feine Haarriss im Familienkitt sich unaufhaltsam verbreitert.
    Nicht die konkrete Mobbing-Geschichte steht im Zentrum dieses Romans, sondern ihre Folgen. Die Arbeitswelt greift über in die Privatsphäre. Die unheimliche Macht des Mobbing besteht weniger aus dem lauten Knall einer ungerechtfertigten Entlassung, als im leisen seelischen Zerfallsprozess des Opfers danach. »Wie sich Menschen aus ihrer Selbstdefinition herauskatapultiert sehen, das hat mich interessiert», erklärt die Autorin dazu. Das Selbstwertgefühl geht verloren, der Familienalltag gerät durcheinander, die Freunde wenden sich diskret ab: Die Erzählerin wirft ihrer besten Freundin Katrin vor:
    «… du hast keine Ahnung, wie es mit Kindern ist, mit einem Baby, mit einem Mann, der aus dem Krieg kommt.
    Jetzt übertreibst du, sagte Katrin scharf und stand auf (…) Krieg, also weisst du. Die Kriege auf dieser Welt sehen anders aus. Ich sehe hier keine Einschusslöcher.
    Man sieht sie nicht, sagte ich leise.»

    Ob Jos Entlassung der neuen Vorgesetzten, den Intrigen von Kollegen oder eigener Sturheit geschuldet ist, wir Lesenden erfahren es ebenso wenig wie die Erzählerin selbst. Was sich im Büro abspielt – Jo berichtet darüber immer und immer wieder – kommt seiner Frau zunehmend wie eine Blackbox vor, aus der ihr Mann eines Tages ausgespuckt wird. So wuchert Misstrauen nach allen Seiten und das Paar versinkt im Nebel der Depression. Diese Vorgänge macht Annette Pehnt in ihrem Roman mit sparsamen, aber genau eingesetzten Mitteln, gerade auch mit jenen der Komik, dingfest. Kunstvoll kunstlos erhellt ihr Text die verbergende-enthüllende Kommunikation der Protagonisten und gewinnt durch seine lakonische Zurückhaltung an Dringlichkeit und Schärfe – auch was die Kritik an der bürgerlichen Kernfamilie und ihrer Rollenteilung betrifft.

    Das Ende hält die Autorin geschickt in der Schwebe – die faktische Verzweiflung wird wie poetisch aufgehoben: Jo und die Erzählerin spazieren ohne Kinder im Wald, stossen auf ein Reh, diskutieren, wie es weitergehen soll …
    «Unseren Anwalt, sagte Jo, werden wir nicht mehr bezahlen können.
    Unser Konto, sagt Jo, sieht ziemlich leer aus.
    Trotzdem, sagte er, bin ich froh.
    In diesem Moment gab ich auf.
    Ich ging weiter, hörte den Gleichklang unserer Schritte, den Schotter unter unseren Schuhen, ich sah die Felder, sah, wie das Reh am Waldrand erstarrte, es musste uns gerochen haben.»

    Annette Pehnt ist mit «Mobbing« ein Buch geglückt, das die Schilderung des Privaten, der Intimsphäre so beiläufig wie zwingend mit ihren gesellschaftlichen Bedingtheiten verknüpft; rasant erzählt, eindringlich und mit langem Nachhall.
    Soweit ein erster Einblick in das reiche Oeuvre unserer heutigen Preisträgerin. Nachzuliefern ist jetzt ihr CV, wie das in der Arbeitswelt heisst, hier das Faktengerüst dazu:
    Annette Pehnt wird Ende Juli 45 Jahre alt. Sie ist in Köln geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur leistete sie in Nordirland freiwillige Sozialarbeit und verbrachte ein Jahr in Schottland. Sie hat dann in Köln und Freiburg Anglistik, Germanistik und Keltologie studiert, mit Auslandaufenthalten in Schottland, Irland und Kalifornien – und 1997 mit einer Arbeit zur irischen Literatur promoviert. Seit rund zwanzig Jahren lebt Annette Pehnt mit ihrer Familie – drei Töchter gehören dazu – in Freiburg als Autorin, Hochschuldozentin und Literaturkritikerin.

    «Schreiben ist meine Art und Weise, auf die Welt zu reagieren.» – so hat sie einmal erklärt, warum sie seit eh und je schreibt.

    Annette Pehnts erstes Buch ist vor elf Jahren erschienen. Dieses in nichts anfängerhafte Romandebüt mit dem Titel «Ich muss los» hat der Autorin gleich grosse Anerkennung und mehrere Preise verschafft. Rätselhaft und verführerisch zugleich präsentiert «Ich muss los» die Geschichte eines etwas seltsamen Taugenichts, eines nirgends beheimateten Eigenbrötlers. Dorst, sein Name, läuft immer gleich weg, wenn es brenzlig wird. Der vielfach Begabte handelt immer wieder unerwartet, setzt sich eigene Spielregeln, er ist kein Rebell, aber eigensinnig und stur. Aus Rückblenden erfahren wir einiges aus seiner Kindheit. Knapp und schnörkellos heisst es: «Als Dorst sieben war, hungerte sich sein Vater zu Tode». Zu vermuten ist, dass der Vater da schon todkrank war. Die Mutter schirmt den Jungen vom Vater ab und erzählt ihm nichts Näheres über seine Krankheit und seinen Tod. Keine zwei Jahre später verliert Dorst auch Tante Lollo, bei der er viel Zeit verbrachte. Sie hatte dem Jungen wunderbare Lügengeschichten erzählt, während die überforderte Mutter ihn aus ihrer Trauer aussperrte. Dorsts Unrast und seine Unbehaustheit scheinen mit diesen Verlusten zusammenzuhängen; direkt erläutert wird in diesem zügig erzählten Buch nichts.

    Der auch zum Schalk begabte Anti-Held fesselt einen sofort:
    «Als Kind sagte Dorst die Wahrheit.» Er sagt der Mutter, wenn ihm das Essen nicht schmeckt, lässt sich von der Grossmutter nicht zu Liebesbezeugungen erpressen oder vermerkt in der Schule, wenn ein Schüler bizarr dreinschaut. Damit eckt er natürlich an: «Bald merkte Dorst, dass niemand die Wahrheit mochte. Er beschloss, von nun an nicht mehr die Wahrheit zu sagen. Also schwieg er. Seitdem knackte sein Kiefergelenk beim Gähnen.»

    Aus Wahrheitsliebe verstummt, bleibt Dorst ein Aussenseiter. Unverwandt blickt er auf die Merkwürdigkeiten der Menschen und auf die Sensationen des Alltags, stets getrieben und unfähig zu dauerhafter Beziehung. Die Liebe zu Elner, einer Lehrerin, die er im Supermarkt kennenlernt, scheitert nicht an mangelnder Zuneigung, sondern an Dorsts notorischem Zwang, im entscheidenden Moment das Weite zu suchen oder sich quer zu legen.

    Dorst fasziniert und irritiert – auch in seiner Sprachlosigkeit ein ferner Nachfahr von Hermann Melvilles Bartleby, dem Schreiber, der seinerseits jede Tätigkeit ablehnte mit dem Satz «I would prefer not to», «Ich möchte lieber nicht».
    In ihrem zweiten Roman nahm Annette Pehnt das Aussenseiterthema erneut auf, diesmal mit einer weiblichen Protagonistin. «Insel 34» erzählt in Ich-Form von einer wegen ihrer Hochbegabung wenig geliebten Heranwachsenden, deren Obsession die Erforschung eines kleinen Insel-Archipels wird. Die Inseln tragen nur Zahlen als Namen; den Sehnsuchtsort «Insel 34» wird die Heldin nie erreichen, zuvor erlebt sie aber bizarre, teils absurd-phantastische, teils albtraumhafte Abenteuer mit vielen Anklängen an den Motivschatz der Flucht- und Insel-Literatur aller Zeiten.

    Nach diesen bewusst ins Phantastische, mitunter Surreale ausgreifenden Debüts verblüffte unsere Preisträgerin mit ihrem dritten Roman, der in die Mitte aktueller gesellschaftlicher Probleme führt. «Haus der Schildkröten» ist eine bestechende Studie konkreter Lebensverhältnisse auf einem Feld, das im grellen Alltag unserer Konsumwelt gerne ausgeblendet bleibt. Schon vor sechs Jahren, also vor der gegenwärtig wie Pilze aus dem Waldboden schiessenden Literatur über an Demenz und Alzheimer erkrankte Väter und Mütter, lange vorher hat Annette Pehnt mit Dezenz, nüchterner Distanz und einem Schuss Sarkasmus die Nöte und das Elend des Alterns in den Blick genommen.

    Schauplatz ist eine Altersresidenz: Jeden Dienstagnachmittag treffen dort zwei Besucher mittleren Alters ein: Der geschiedene Lehrer Ernst Sander schaut bei seinem Vater vorbei, einem ehemaligen Professor, der seiner wachsenden Demenz eine eiserne Schreibdisziplin entgegensetzt; die ungebundene Angestellte Regina von Kanther besucht ihre Mutter.
    Hier zwei Ausschnitte vom Anfang. Der Professor sucht vergeblich nach dem Namen der Enkelin, während ihm der Sohn einmal mehr zum Gebrauch des Computers rät:
    «Der Professor sah die Bitte im Gesicht seines Sohnes und beugte sich über die winzigen Tasten, wie geht das denn. Ich erkläre es dir, sagte Ernst, es ist nicht schwer, wirklich, und du kannst alles speichern. Sie schauten sich an bis der Professor die Wehmut seines Sohnes nicht mehr ertragen konnte. Dank dir, sagte er, ich werde es versuchen. Dann wollte er Ernst einen Sherry anbieten, aber das Wort war verlorengegangen, möchtest du einen, fragte er, einen, einen Kaffee, fragte Ernst, um den Kampf des Professors nicht mit ansehen zu müssen.»

    Sie sehen, wie behutsam Annette Pehnt diese Szene formt. Ein paar Zimmer weiter wartet derweil Frau von Kanther – nach einem Schlaganfall körperlich schwer gezeichnet und praktisch sprechunfähig – auf Regina:
    «Frau von Kanther hält die Augen geschlossen, auch als sie das Schleifen der Drehtür und die Absätze ihrer Tochter auf dem blankgeputzten Boden hört, und dann knallt der Kuss auf ihrer Stirn, Mama, wie geht es dir, schau mal, was ich habe. Früher haben sie sich nie geküsst. Mühsam zieht Frau von Kanter die Augenbrauen hoch und starrt direkt in die Augen ihrer Tochter …»

    Es ist mehr Pflichterfüllung als Zuneigung, die Regina, die früher von ihrer Mutter nie einen Kuss erhielt, regelmässig ins Heim gehen lässt. « … ich mache das freiwillig, weil ich grosszügig sein will, grosszügiger als Mutter jemals zu mir gewesen ist», versichert sie Ernst, mit dem sie beim Rauchen vor dem Heim ins Gespräch kommt. Einmal schwänzen die beiden wie Schüler – widerständig und schuldbewusst zugleich – den Dienstagsbesuch und treffen stattdessen zufällig in einer Sauna aufeinander. Wie Annette Pehnt die unbeholfen-schüchterne Annäherung der beiden alten Kinder schildert, ist grossartig. Sie schlüpft in die Köpfe ihrer Figuren und registriert jede Einzelheit:
    «Später trinken Sie im trüben Saunacafé noch einen Sanddornmix. Reginas feuchte Haare durchweichen ihren Kragen, aus Ernsts Jackentasche hängt ein Strumpf und trotz allem fühlen sie sich im milden Licht der rustikalen Tischlämpchen gestrafft und ein wenig lüstern. Kann ich Sie, ich meine wollen wir uns duzen, sagt Ernst plötzlich, jetzt, wo doch die Hüllen gefallen sind. Die Hüllen gefallen, wiederholt Regina. (…) Er räuspert sich und sagt, heute sehen Sie, ich meine, heute siehst du schön aus. Wie klingt denn das, denkt Regina, sonst etwa nicht, aber dann schaut sie Ernst an und findet in seinem Gesicht eine hilflose, überraschte Tapferkeit, die die teigigen Züge verwandelt, so dass sie ihn länger anschaut, als beide für möglich gehalten hätten.»

    Feinsinnig und bei aller Komik mitfühlend zeichnet Annette Pehnt ihre Figuren. Im Fortgang schildert sie zum einen die fürchterlichen Heim-Rituale – die unterdrückten Aggressionen des Pflegepersonals, seine gedankenlose Entmündigung der Insassen – und zum anderen die in kleinen Fluchten und eine «Dienstagsliebe» fortschreitende Beziehung zwischen Regina und Ernst; diese kulminiert in gemeinsamen Ferien auf Malaysia. Diese geraten zum beidseits mit mit Fassung erduldeten Desaster, denn ausser der Bedürftigkeit der nicht mehr taufrischen Körper gibt es zu wenig Verbindendes. Ernsts emotionales Zentrum ist seine kleine Tochter und Regina ist besetzt von der ungelösten Bindung an die dominante Mutter. Das Retorten-Ferienresort gleicht mit seiner welken Endzeitstimmung verflixt dem Altersheim, das die beiden verwegen hinter sich gelassen haben. Im Bild einer Schildkröte, die in einem Wassertümpel auf den Rücken fällt und ertrinkt, findet Annette Pehnt ein wunderbares Gleichnis für das Gepanzerte, das Unbewegliche der menschlichen Kreatur, worunter Alte und noch nicht so Alte gleichermassen leiden. Alle sind sie einsam und gerade in ihrer Redseligkeit ohne Sprache.

    Auch wenn Regina und Ernst der grosse Auf- oder Ausbruch misslingt, sie bewahren doch ihre Würde: Zwischen Hoffnungslosigkeit und Stolz, zwischen Selbstbehauptung und Verlorenheit entsteht eine lebbare Balance. Und selbst im schonungslos geschilderten Heim gibt es nach grausliger Erntedankfeier und schauerlichem Advent würdige Weihnachten und entstehen kleine Lichtblicke, etwa, wenn zwei ziemlich abgebaute Alte zu einer verschwiegenen Zärtlichkeit finden oder wenn Ernsts unbekümmerter Tochter Lili die inkohärenten Geschichten ihres verwirrten Grossvaters gefallen.

    Mit «Haus der Schildkröten« hat Annette Pehnt ihre schriftstellerischen Fähigkeiten in der Gestaltung komplexer Lebensverhältnisse mit entschiedener Empathie für die Beschädigten und die Verlorenen zur Reife gebracht. In der Darstellung des Düsteren und Dumpfen bewährt sich der flüssige, von geschliffenem, nie zynischem Humor unterlegte Schreibstil dieser Autorin.
    Der in der Werkchronologie als vierter erschienene, hier schon vorgestellte Roman ‚Mobbing‘ bestätigt alle diese Qualitäten.

    Lassen Sie mich, bevor wir auf Annette Pehnts neustes Buch, den Roman «Chronik der Nähe» eingehen, die Vielseitigkeit unserer diesjährigen Preisträgerin an weiteren Publikationen illustrieren.

    Die Gewichtigste ist der 2010 erschienene Erzählband mit dem wunderbar vertrackten Titel «Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen, das muss gar nicht lange dauern.» In den sechs Erzählungen begegnen wir wie in den bisher besprochenen Titeln Menschen in Schieflage, Menschen, welche in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit hinter den aus Selbstschutz aufgerichteten Fassaden ihren Eigensinn bewahren. «Widerständigkeit und Widerborstigkeit halte ich hoch», sagt die Autorin einmal.

    Wie erwähnt ist Annette Pehnt nicht nur Schriftstellerin und Literaturkritikerin sondern auch Hochschuldozentin. Vor knapp zwei Jahren hat sie einen leichtfüssigen Campus-Roman verfasst, in dem sie satirisch den desaströsen Folgen der europäisch erzwungenen Bologna-Reformen nachgeht. Schauplatz ist eine Freiburg nachempfundene «Sommerstadt» – Protagonistin eine wenig schmeichelhaft gezeichnete, naive verwöhnte und desinteressierte Studentin dieser Tage. Die Lektüre bietet lauteres Vergnügen, nicht nur für Menschen, die in diesem Bereich zu tun hatten oder haben.

    Annette Pehnt hat ferner bisher vier Kinderbücher verfasst, Vorlesegeschichten aus der Alltagswelt von Kindern. «Der kleine Herr Jakobi» ist eine Variation von «Ich muss los». Eben erschienen ist der Kinderroman «Brennesselsommer», der davon erzählt, wie Fränzi, eine dünne Frau mit Zottelhaaren und grünen Gummistiefeln ins verlotterte Nachbarhaus einzieht mit ihren drei Hunden. Die Hippie-Frau stellt nicht nur das Familienleben von Anja und Flitzi, den beiden Nachbarskindern, auf den Kopf, sondern das des ganzen Dorfes. Denn Fränzi lebt nicht so, wie man das hier auf dem Lande tut. Sie geht keiner geregelten Arbeit nach und will aus ihrem Anwesen ein Refugium für schlecht gehaltene Tiere machen, den «Gnadenhof».

    Anja und Flitzi freunden sich mit Fränzi an und werden zu ihren treuen HelferInnen. Fränzi lebt nach anderen Werten. Sie hat keine Technologie im Haus und sagt immer, was sie denkt. Das löst im Dorf Widerstand aus. Eine spannende, auch politische Geschichte, ergiebig für kleine und grosse Leseratten. Und zuguterletzt wäre auch noch eine Biographie von John Steinbeck zu erwähnen.

    Doch jetzt zum jüngsten Wurf unserer Preisträgerin, zum dieses Frühjahr publizierten Roman «Chronik der Nähe», ein Meisterwerk, was Dichte des Stoffs, Raffinesse der Komposition und Geschmeidigkeit der Sprache betrifft. Persönlich und allgemein gültig zugleich handelt das Buch von schwierigen Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern, von drei deutschen Frauenschicksalen: Grossmutter, Mutter und Tochter. Alle drei ringen sie, Kinder ihrer Zeit, um Nähe, um Liebe. Erzählt wird im doppelten Modus: Die Jüngste richtet sich als Icherzählerin während sieben Tagen an ihre sterbende Mutter Annie, welche mit geschlossenen Augen im Spitalbett liegt und nichts mehr sagt, eine existentielle Erzählsituation. Diesen immer wieder neu ansetzenden Monologfragmenten der Ich-Erzählerin, in denen man wohl ein alter Ego der Autorin sehen darf, werden Szenen aus dem Leben Annies mit ihrer Mutter gegengeschnitten, diese in der 3.Person erzählt. Das ergibt ein fein gewirktes Gewebe von inneren Monologen, Reden und Gegenreden der Figuren und distanziertem Bericht der Autorin.

    Annie wuchs während und nach dem 2.Weltkrieg nach dem frühen Tod des Vaters mit der Mutter praktisch allein auf. Die Bombennächte traumatisierten sie, die robuste, lebenstüchtige Mutter organisierte das Überleben und liess sie viel allein, später war sie am Mittagstisch, den die Mutter aufzog, mit zu vielen Erwachsenen konfrontiert, ohne Wärme, wie die Autorin mit trauriger Komik registriert:
    «Die aufgegangene Mutter umschliesst Annie mit den Armen, Annie sieht an sich herunter, die Arme der Mutter wie ein Schwimmring um die Hüften, und sie beschliesst, es bald mit den Jungs zu versuchen, damit andere Arme sie halten als die der Mutter».

    Früh erwachsen, setzt Annie durch, dass sie studieren kann. Sie wird Übersetzerin und angelt sich am Arbeitsplatz den «Richtigen« – die Männer bleiben in diesem Buch bewusst blosse Schemen, – Annie bekommt dann selbst eine Tochter, während ihre Mutter den Mangel im Krieg und Nachkrieg mit hemmungslosem Essen kompensiert, bis sie über alle Sitzflächen quillt. Auch Annie hält ihre kleine Tochter strikt auf Distanz; sie wirft ihr noch im Alter vor, ein anstrengendes Schreikind gewesen zu sein, ja sie habe sie mit Schlafentzug förmlich gefoltert. Der kleinbürgerlichen Enge der 50er Jahre und den verschwiegenen Nachwirkungen nationalsozialistischer Härte gemäss pflegt sie rigide Disziplin. Die Angst, die sie als Kleinkind im Krieg nicht haben durfte, überträgt sich auf die Tochter, welche als Schulkind therapiert werden muss – so eröffnen sich komplexe Spiegelungen und Wiederholungssituationen: «Liebkosungen sind zwischen uns nicht üblich», registriert die Ich-Erzählerin lapidar und an anderer Stelle heisst es:
    «Umarmen: nicht so leicht. Einer von uns sträubt sich kaum merklich. Am besten geht es, wenn wir uns nicht anschauen.»
    Oder: «Nur nicht anfassen».
    Und trotzdem versucht die Tochter unentwegt, die Anerkennung der Mutter zu gewinnen: «Deine Freude an mir, über mich, an uns, die muss ich kriegen, aber die ist schwer zu haben, ganz schwer», heisst es. Auch wenn sie alle viel miteinander reden, kommen sie sich nicht nahe, denn «geredet hat man über alles ausser über die schlechten Dinge».

    Das prekäre Verhältnis der Erzählerin zu Annie eskaliert nochmals, als auch sie selbst Mutter einer Tochter wird und Annie, nun also Oma, fast nötigen muss, einmal eine Stunde auf das Baby aufzupassen. Als sie zurückkommt, liegt es brüllend auf dem Wickeltisch,
    «steif wie ein gelähmtes Tier».

    Beklemmend und zugleich mit befreiender Situationskomik, stets aber in leuchtend klarer Prosa konfrontiert die Autorin hier sich selbst mit schmerzhaften Fragen zu Distanz und Nähe; schwierige Fragen welche die Lesenden mit einbeziehen. Der Verzicht auf lineares Erzählen, die Lakonik der fragmentarischen Szenen, die Auslassungen öffnen Raum für die eigene Reflexion. Letzte Antworten gibt es nicht – und wo die Grenze zwischen wirklichen und fiktionalisierten Geschichten verläuft, bleibt in der Schwebe. «Chronik der Nähe» ist auch eine «Chronik der Heimlichkeiten», der vor der Mutter/Tochter versteckten Regungen und Handlungen.
    In einem dem Roman vorausgeschickten Zitat verweist die Autorin auf Franz Kafka, der «selbstbiografische Untersuchungen» gegen Schreibblockaden setzte «nicht Biographie, sondern Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile».
    Das ist das aufregende Verfahren unserer Preisträgerin in «Chronik der Nähe»: Ihr Text verortet intensiv, zart, zuweilen auch bitter, immer enorm akkurat die Schicksale dieser drei Frauen in ihrer Zeit und ihrem gesellschaftlichem Umfeld. Eine bewegende Lektüre, Sie spüren meine Begeisterung.

    Ich komme zum Schluss:
    Vom fantasierend-fiktionalen Schreiben über Aussenseiter zu Beginn, über Romane zur realen und überhöhten Schilderung brennender Gegenwartsfragen wie Alter oder Mobbing bis hin zur differenzierten Tiefenbohrung in die Geschichte von Müttern und Töchtern und zu den eigenen biographischen Schmerzpunkten in «Chronik der Nähe» auf ihrem Weg ist Annette Pehnt als Schriftstellerin beständig radikaler und eindringlicher geworden. Ihre sublime, schlackenlose, Sprache, eine Art ‚minimal art‘, zeichnet sich aus durch einen unverwechselbaren Tonfall, handwerkliche Präzision und spielerische Verve. Treffsicher in den Dialogen zeigt sie das Misslingen von Kommunikation gerade im Sprechen, in beredter Sprachlosigkeit sozusagen; das Reden birgt immer Enthüllen und Verstecken und schwarz eingefärbte Komik entsteht oft aus kühl beobachteten Nahaufnahmen.

    Dieser Autorin ist Schreiben eine unentbehrliche Ausdrucksform: Sie will damit sich und die Welt erkunden, etwas herausfinden, ohne vorher zu wissen, wohin die Reise führt. Zu ihren literarischen Wegweisern zählt sie neben Kafka und dem Iren Flann O’Brien auch unsere früheren Preisträger Wilhelm Genazino und Peter Bichsel.

    Überblicken wir Annette Pehnts Werk, dann ragt sicher die Frage nach dem Umgang der Menschen mit Nähe und Distanz zueinander als Leitmotiv heraus: Liebesbedürftig und begrenzt liebesfähig zugleich schwanken Pehnts Figuren zwischen der Sehnsucht nach Nähe und schroffer Abwehr von Zärtlichkeit. Im Kern geht es in ihren Büchern immer wieder um die Einsamkeit des Einzelnen, entsprungen der Unfähigkeit zur Hingabe oder der Furcht vor Zurückweisung.

    «Ich muss los» : das gilt in gewisser Weise für ganz viele ihrer Figuren: der Wunsch nach Zugehörigkeit – in Familie, Beruf, Nachbarschaft oder Altersheim kontrastiert mit der Angst vor Abhängigkeit und Autonomieverlust, bei Pehnt oft bildstark als Gesichtsverlust geschildert. Und kommt es zu engeren Verhältnissen, stellt sich rasch – oft versteckte oder ausagierte Aggression ein.

    Wie unsere Preisträgerin mit seismographischem Gespür und mit Witz die Verwerfungen im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Gefüge aufdeckt und unprätentiös ausstellt, das bewegt und beschäftigt die Lesenden nachhaltig.

    So zeichnen wir mit Annette Pehnt heute eine souveräne Erzählerin aus:
    In ihrer subtilen Prosa gestaltet Annette Pehnt hellwach die Verfasstheit von Gesellschaft und Familie. Hartnäckig reich und vielstimmig erzählt sie von seelischen Verletzungen im Zusammenleben der Generationen und Geschlechter. Schonungslos auch sich selbst gegenüber, ist sie zur unbestechlichen Chronistin intimer Gefühle und realer Erfahrung geworden, dabei nie ohne Empathie für ihre Figuren.

    Herzlichsten Glückwunsch also, liebe Annette Pehnt zur Auszeichnung mit dem Solothurner Literaturpreis 2012. Wir freuen uns auf viele weitere Texte von dieser Klugheit und erzählerischen Intensität!

    Ich gratuliere natürlich im Namen der ganzen Jury und möchte meinen KollegInnen Christine Tresch und Beat Mazenauer für das befruchtende Teamwork herzlich danken: wie immer gründet diese Laudatio auf den Überlegungen von uns dreien.

    Unsererseits danken wir den Sponsoren des Preises für ihr Vertrauen und die Freiheit, in der sie uns jurieren lassen. Für die organisatorische Arbeit für den heutigen Anlass danke ich herzlich Frank Schneider vom Verein Solothurner Literaturpreis, dessen Präsidenten Ivo Bracher und Virginia Blanc von der Bracher AG. Und last but not least danken wir Marian & Nicole River, Kontrabass und Klavier für ihre stimmungsvolle musikalische Umrahmung. Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit am Ende des diesjährigen Literaturmarathons zu Solothurn.