Laudatio auf
Anne Weber
Es gilt das gesprochene Wort
Liebes Publikum, liebe Anne Weber,
Bei der Vorbereitung zu dieser Laudatio, beim Wiederlesen in Anne Webers Büchern, fiel mir plötzlich ein, wie ich als Kind manchmal Memory mit mir selbst spielte. Bestimmt gab es eine Menge Regeln. An die kann ich mich nicht erinnern. Aber ich kann mich daran erinnern, wie es war, mich sicher zu wähnen und in Verwunderung zu fallen. Diese angestossene Ecke. Oder dieser Kratzer ungefähr in der Mitte des Kärtchens. Es konnte nur die Erdbeere sein. Dann war es doch der Löwe.
So schlage ich Anne Webers Bücher auf – es sind mittlerweile, wenn man nur bei der Belletristik bleibt, zwölf – und bin, vermeintlich so vertraute Kratzer und angestossene Ecken hin oder her, jedes Mal überrascht und verblüfft.
Das hat auch etwas mit Anne Webers Arbeitsweise zu tun. Es gibt wohl wenige Autorinnen und Autoren, die sich wie Weber mit jedem Buch nicht nur in einen neuen Stoff, sondern auch in eine neue Form stürzen, wagemutig und vergnügt, und sich in dieser Form dann energisch, suchend und verspielt bewegen, als wäre sie zumindest ein Infinitiy Pool.
Anne Weber hat eine Heiligenlegende geschrieben und ein Heldinnen-Epos, ein Zeitreise-Tagebuch und zuletzt einen Roman in Streifzügen. Uns so begegnen wir bei der Lektüre einem Heiligen, einer Heldin, wir gehen auf Zeitreise und auf Streifzug. Und die Form – die Legende, das Epos, die Zeitreise, der Streifzug – ist nicht Kunst um der Kunst willen, sondern von Buch zu Buch eine Art Reiseführer oder Reisebegleiter durch die durchaus sehr gegenwartsgesättigten Texte. Dazu gleich mehr.
Zuerst jetzt zum Biografischen. Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren und ging gleich nach dem Abitur 1983 nach Paris. Dort war sie zunächst Au Pair, dann studierte sie an der Sorbonne französische Literatur und Komparatistik. Heute ist das vielleicht gebräuchlicher, die Möglichkeiten, sich in der Welt zu bewegen, sind jedenfalls vielfältiger geworden. Wenn ich es mir für damals vorstelle – ich war etwa zeitgleich Au Pair in London – dann ist das ziemlich beachtlich. Die Gesellschaften waren, so nahm ich es wahr, geschlossen – lauter kleine Ritterburgen, die ihre Zugbrücken hochgezogen hatten, nur schon, weil man nicht korrekt sprach.
Das korrekte Sprechen, im übertragenen Sinn, die Arbeit am Wort, machte Anne Weber bald zu ihrem Beruf: Von 1989 bis 1996 arbeitete sie bei verschiedenen französischen Verlagen als Lektorin. Und sie übersetzte. Auch ihre eigenen Bücher. Damit auch, was als unüblich, schon fast als verboten gilt, in ihre beiden Sprachen – nicht nur in die deutsche, sondern in die französische. Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, so zum Beispiel 2016 mit dem Johann-Heinrich-Voss-Preis.
Wenn Sie Anne Weber als Übersetzerin kennenlernen möchten, empfehle ich Ihnen «Klebebilder» von Georges Perros. 900 Seiten, ein faszinierender Steinbruch von zusammengeklebten Notaten zu einem Leben, aus dem nichts Rechtes werden wollte.
Ich finde, man merkt es Anne Webers eigenen Texten an, dass sie sich immer wieder auch mit Übersetzungen beschäftigt. Man spürt es zum Beispiel an der Plastizität ihrer Sprache. Übersetzen heisst ja, nicht nur Vokabular, sondern ganze Welten zu transferieren – ein Prozess, der Kreativität und Wissen erfordert und der, und das wissen alle, die es schon einmal versucht haben, und sei es nur in einer Konversation, fragil ist. Gilt es doch, ähnlich den Mineraliensuchern, die Wortkristalle nicht nur aufzuspüren, sondern sie so aus dem Felsen zu klopfen, dass sie nicht kaputt gehen.
Und damit zu «Annette, ein Heldinnenepos», das Buch, für das Anne Weber 2020 den Deutschen Buchpreis bekam. Es ist tatsächlich wie aus dem Felsen geklopft, denn die Geschichte von Anne Beaumanoir, die ihr Leben nicht nur einer Widerstandsbewegung opferte, lässt sich vielfach im Internet und auch in Beaumanoirs eigener Autobiografie nachlesen.
Neurophysiologin aus einfachen Verhältnissen, Résistance-Kämpferin und Retterin jüdischer Kinder, auf eigene Faust, danach Unterstützerin der algerische Unabhängigkeitsbewegung. Letzteres brachte ihr in Frankreich zehn Jahre Haft ein. Sie floh nach Tunesien. Ihr Mann folgte ihr mit den drei Kindern nicht wie versprochen. 1962 wurde sie Teil der ersten unabhängigen Regierung Algeriens und baute das dortige Gesundheitssystem mit auf. Drei Jahre später zwang sie ein Putsch erneut auf die Flucht. Nach Frankreich konnte sie nicht. Sie ging in die Schweiz und brachte es in Genf innert kürzester Zeit zur hochangesehenen Medizin-Professorin. Anne Weber hatte Anne Beaumanoir zufällig kennengelernt. Eine Frau mit einem Leben für viele Romane. Wie nun ihr einen einzigen widmen? Wie diese schier unendliche Fülle von Details – persönlichen, politischen, gesellschaftlichen – fassen?
Mit einem Heldinnen-Epos, meines Wissens dem ersten überhaupt. Es gibt die Helden-Epen wie die Äneis. So fängt die Äneis an – in der Übersetzung von Markus Janka:
Waffen und dem Mann gilt mein Gesang, der von Trojas Strand
als Schicksalsflüchtling erreichte Lavinums
Strände, viel über Länder getrieben und hohe See als Spielball der Götter …
Und in denselben freien Versen beginnt «Annette, ein Heldinnen-Epos»:
Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen.
Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als auf diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch Gott-hats-gemacht, im Süden Frankreichs.
Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.
Es ist verblüffend, wie gut die Form des Epos mit seinen freien Versen zu einem Leben passt, das so divers und trotz aller Härten so unerschütterlich war wie kaum ein anderes. Dabei vereinnahmt Anne Weber Anne Beaumanoir nicht, erklärt sie nicht, verklärt sie nicht. Sie bringt sich vielmehr mit ihren eigenen Gedanken ein, mit ihren Fragen, ihrer Betroffenheit über die ewige Wiederkehr – auch das passt zum Epos – von menschlicher Niedertracht. «Annette, ein Heldinnen-Epos» ist ein packendes, ein aufwühlendes Buch und, dadurch zeichneten sich Epen bislang nicht aus, versehen mit einem gerüttelten Mass Ironie – scharf, wenn es um Nationalismus, Rassismus und religiösen Fanatismus geht, liebevoll gegenüber der Heldin.
Springen wir von der Heldin zu einem Heiligen. 2017 hat Anne Weber mit «Kirio» einen Roman in der Art einer Heiligenlegende vorgelegt. Dies, um einen durchaus zeitgenössischen Mann zu erforschen, der einfach nur gut ist. Nicht, weil er sich bemüht, sondern weil er nicht anders kann. Und auch hier passt die Form perfekt zum Stoff. Eine Heiligenlegende ist ein Paradox. Im vielstimmigen Zeugnis anderer erscheint der Heilige als Mensch, in seiner Heiligkeit ist er nicht zu fassen. Sie gehört nur ihm selbst – in postreligiösen Zeiten jedenfalls.
«Kirio» ist ein multiperspektivischer, vergnüglicher, verspielter Roman rund um Identität, Weltwahrnehmung, Welthaltung, aber auch ums Erzählen an sich.
Es zeichnet Anne Weber aus, dass sie Geschichten gleichberechtigt über die Inhalte und über die Form erzählt – hochartifiziell, kundig und klug, mit sehr viel Lust an der Sache, lustig, selbst da, wo es wenig zu lachen gibt. Da ist eine unbändige, eine ansteckende Freude an Sprache, an Wörtern und Sätzen, am Denken, ein unverdrossener Eigensinn. Da sind diese vielen kleinen Schubser, die sie den Leserinnen und Lesern versetzt, immer wieder auch in direkter Ansprache.
So oder so sind Anne Webers Texte Einladungen. Und da sie fast immer Spielanordnungen rund um ein Thema sind, sind sie auch Einladungen zum Mitdenken, zum Mitspielen. Und damit bin ich zum Schluss wieder bei meinem Memory-Spiel als Kind und bei Anne Webers jüngstem Buch «Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen».
Das nicht so genau umrissene, gerade deshalb so faszinierende Genre der Streifzüge, des absichtslosen Gehens, gibt es schon lange und in vielen Sprachen. Im Paris des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Beispiel gab es für Literaten keine angesagtere Lebensweise als die des Flaneurs.
Anne Webers Erzählerin in «Bannmeilen» begleitet einen Freund 600 Kilometer kreuz und quer durch die Vororte von Paris. Der Freund, er hat algerische Wurzeln und ist in einer Banlieue aufgewachsen, recherchiert Drehorte für einen Film, der festhalten soll, wie die olympischen Spiele diesen Sommer die Banlieue, die «Bannmeilen», fundamental verändern – ohne natürlich das Leben der Menschen dort besser zu machen.
Ich mit meinen Memory-Kärtchen im Kopf, meiner Erdbeere-Erwartung, dachte erst, das kenne ich alles. Und dann wurde ich eins ums andere Mal herausgefordert, es mir nochmals anders zu überlegen. Auch, weil die Erzählerin und ihr Freund es sich nicht leicht machen. Beide tragen sie ihr biografisches Gepäck. So muss er seine alte und nie vergehende Wut über die desolaten Umstände in den Banlieues im Zaum halten, während sie mit der Scham kämpft, Zitat, «für das Fremde und Andere in nächster Nähe blind geblieben zu sein».
Aus diesem Spannungsfeld entstehen Szenen, die Nachrichtenstoff, wie zum Beispiel ein für die Olympiade geräumtes improvisiertes Flüchtlingslager, in sehr persönlicher Weise neu denken.
Das geht unter die Haut, das fordert heraus, das macht Lust zum Weiterdenken. Besser kann ich’s nicht erklären – Sie müssen einfach lesen.
Damit bedanke ich mich fürs Zuhören und gratuliere Ihnen, Anne Weber, auch im Namen meiner Jury-Kolleginnen und -Kollegen Florian Bissig, Leonora Schulthess, Eva Seck und Martin Zingg ganz herzlich zum Solothurner Literaturpreis 2024.